1 Psychologische Experimente – objektiver Erkenntnisgewinn?
Psychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Sie gewinnt ihre Erkenntnisse meist durch Befragung oder Beobachtung der Menschen. Beiden Methoden sind Grenzen gesetzt. Viele Menschen können über ihr Inneres nur sehr schlecht Auskunft geben, und über ein mögliches Verhalten in einer noch nie erlebten Situation täuschen sie sich in der Regel sehr. Beobachtung führt oft zu verfälschten Ergebnissen, weil sich dadurch das Erleben und Verhalten der beobachteten Personen verändert. Beim Sex ist es offensichtlich, dass ein beobachtender Versuchsleiter oder auch eine Kameraaufzeichnung für die anschließende wissenschaftliche Analyse die Intimität beeinflussen würde. Befragungen sind jedoch wenig zuverlässig. So sinken die Angaben zur Häufigkeit sexueller Aktivität unter Partnern, wenn nach einer Befragung mittels Fragebogen später noch einmal dieselbe Frage im Rahmen eines Lügendetektorexperiments wiederholt wird. Die Neigung zu sozial erwünschtem Verhalten lässt sich meist nur durch trickreiche Experimente verhindern, wie durch die angebliche Ableitung objektiver Messwerte mittels Lügendetektor.
Der Wahrheit über unsere Psyche kommt man in wissenschaftlichen Experimenten oft näher als mittels anderer Methoden. Viele klassische Experimente haben selbst ihre Versuchsleiter überrascht! Manches Rätsel um die Seele konnte experimentell gelöst werden, z. B. die Frage, warum wir anderen in Notlagen nicht helfen, wenn gleichzeitig viele weitere Personen anwesend sind. Trotz großen Erkenntnisgewinns gibt es aber Kritik an vielen Experimenten.
Kritik an psychologischen Experimenten
Ethische Bedenken. Einige Experimente dürften heute sogar wegen ethischer Bedenken nicht mehr durchgeführt werden. Ein besonders schlimmes Beispiel dafür ist das sogenannte Monsterexperiment: Der angesehene US-amerikanische Psychologe Wendell Johnson startete 1939 ein Experiment zur Klärung der Ursache des Stotterns. Johnson, der selbst stotterte, wollte beweisen, dass Kinder anfangen zu stottern, wenn Eltern und Lehrer auf harmlose Sprachfehler des Kindes reagieren und es dadurch verunsichern. Doch die Universität von Iowa veröffentlichte dieses Experiment nicht, weil Johnson einfach zu weit gegangen war. Es wurde erst 2001 von einem Journalisten wiederentdeckt und als Monsterexperiment bekannt, obwohl es aus Sicht des Forschers erfolgreich war: 22 Waisenkinder, die unter Sprachfehlern litten, wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Den Kindern beider Gruppen wurde mitgeteilt, dass man ihre Sprachfehler therapieren wolle. Die Kinder der einen Gruppe erhielten viel positives Feedback, sie wurden gelobt und ermutigt. Die Kinder der anderen Gruppe wurden hingegen wegen ihrer Sprachfehler getadelt und gehänselt. Durch diese mehr als zweifelhafte Behandlung verschlimmerten sich ihre Sprachfehler. Obwohl man den Kindern nach den Experimenten erklärte, dass mit ihrer Sprache alles in Ordnung sei, ließ sich der Schaden nicht mehr rückgängig machen. Viele Versuchsteilnehmer litten noch im Erwachsenenalter unter der Behandlung. Eines der Kinder lernte sogar nie wieder richtig sprechen. 2007 bekamen sechs der Teilnehmer vom Bundesstaat Iowa Schadensersatz zugesprochen.
Methodische Schwächen. Häufiger Anlass zur Kritik sind auch methodische Schwächen. Oft sei die Anzahl der Versuchspersonen eines Experiments zu klein, um repräsentative Aussagen ableiten zu können. Experimente müssten zudem von anderen Wissenschaftlern wiederholt werden, um den Versuchsleitereffekt, also den Einfluss der Erwartungen der beteiligten Forscher auf die Ergebnisse der Untersuchung, auszuschließen. In einem Laborexperiment, das Robert Rosenthal und Kermit L. Fode 1963 durchführten, wurden zwölf Studenten jeweils fünf Laborratten gegeben. Der einen Hälfte der Studenten wurde mitgeteilt, dass »ihre« Ratten so gezüchtet seien, dass sie einen Irrgarten besonders schnell durchlaufen konnten. Der anderen Hälfte der Studenten wurde gesagt, dass »ihre« Ratten dumm seien. Obwohl die Ratten in Wirklichkeit alle vom gleichen genetischen Stamm kamen, zeigten die angeblich intelligenten Ratten deutlich bessere Leistungen als die vermeintlich dummen Ratten der Kontrollgruppe. Die Erwartungen der studentischen Versuchsleiter hatten die Leistung der Ratten beeinflusst. Dieses als Rosenthal-Effekt bekannte Phänomen lässt sich ausschließen, wenn man ein Experiment von anderen Wissenschaftlern wiederholen lässt. Dies ist jedoch für Wissenschaftler wenig attraktiv, weil sie für ein solches Wiederholungsexperiment meistens keinen Ruhm ernten.
Halo-Effekt. Menschen sind nicht objektiv. Sie lassen sich von vielen Äußerlichkeiten beeindrucken. Das zeigte schon 1920 ein klassisches Experiment des Psychologen Edward Lee Thorndike: Er untersuchte, wie Vorgesetzte in der Armee ihre Untergebenen beurteilten, z. B. in Bezug auf Kondition, Charakter, Führungsqualitäten und Intelligenz. Dabei fiel ihm folgender Zusammenhang auf: Soldaten mit hübschem Gesicht und guter Körperhaltung erhielten in fast allen Bereichen hervorragende Noten. Soldaten mit einem weniger einnehmenden Äußeren wurden in fast allen Bereichen schlechter beurteilt. Diese Ergebnisse wurden in ähnlichen Experimenten vielfach bestätigt. So gelten Brillenträger als klug, Dicke als gemütlich und schöne Menschen als sympathisch. Diese Tendenz wird als Halo- Effekt bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Überstrahlungsfehler: Eine einzelne Eigenschaft kann so stark auf den Beurteiler wirken, dass sie alle anderen Merkmale überstrahlt.
Probanden. Nicht zuletzt sind die Ergebnisse psychologischer Experimente zu relativieren, weil diese meist mit weißen Studenten durchgeführt werden. Studenten sind zwar schnell zu rekrutieren, und der Aufwand für ein Experiment lässt sich somit in Grenzen halten, die Aussagekraft ist dann jedoch nicht sehr hoch.
Nutzen psychologischer Experimente
Nichtsdestotrotz geben die meisten psychologischen Experimente wichtige Aufschlüsse über Erleben, Denken und Verhalten. Gerade die berühmten Experimente wurden nach einer ersten studentischen Untersuchung auch mit Personen anderer Alters- und Berufsgruppen sowie in verschiedenen Ländern durchgeführt, sodass wir daraus wertvolle Hinweise für ein gutes Leben in unserem westlichen Kulturkreis ableiten können. Ein gutes Leben meint, dass wir angemessene Ziele für uns finden und sie im Einklang mit unseren persönlichen Bedürfnissen, aber auch mit anderen Menschen, realisieren.
Da wir zunächst von der eigenen Familie und dann von Kindergarten und Schule geprägt werden, beziehen sich unsere Erwartungen auch später immer auf diese Erfahrungen. Deshalb besteht die Gefahr, dass wir unsere Erfahrungen in dem uns gebotenen Kontext unzulässig verallgemeinern. Wir bewerten dann z. B. eine Meinungsverschiedenheit nicht als Gedankenaustausch, sondern als bedrohlichen Streit und wittern unter Umständen Bedrohungen, wo gar keine sind. Oder wir vermuten etwa Hilflosigkeit und bieten Hilfe an, wo Selbstständigkeit gewährt werden sollte. Die Wissenschaft vom Verhalten kann unser Leben bereichern, psychologische Experimente geben uns Hinweise. Welche Schlüsse wir daraus für unser Leben ziehen, bleibt uns selbst überlassen.
Ablauf eines psychologischen Experiments
Wie ein Experiment heute im Allgemeinen durchgeführt wird, sehen Sie in Abb. 1-1: Es muss eine ausreichend große Anzahl von Versuchspersonen rekrutiert werden, um Zufallseffekte ausschließen zu können. Ausgehend von einer Hypothese werden meist zwei Gruppen von Versuchsteilnehmern gebildet. Eine Gruppe erfährt dann eine bestimmte Behandlung, die andere Gruppe eine davon abweichende. Ergeben sich in den beiden Gruppen unterschiedliche Reaktionen, wird dieser Unterschied auf die Behandlung zurückgeführt.
Abb. 1-1 Ablauf eines einfachen psychologischen Experiments
Als eines der ersten Experimente der Psychologie gilt die Kraftmessstudie von Max Ringelmann aus dem Jahr 1883. Ringelmann ließ 20 Studenten allein und in Gruppen an einem fünf Meter langen Seil ziehen, dessen anderes Ende mit einem Kraftmessgerät verbunden war. Je mehr Leute am Seil zogen, desto geringer war die Leistung des Einzelnen. So bot bei einer Gruppe von acht Personen jeder durchschnittlich nur noch die Hälfte seiner Maximalleistung auf. Dieses Phänomen, den sogenannten »Ringelmann-Effekt«, kann man durch die menschliche Neigung erklären, es sich bequemer zu machen, wenn es auf die eigene Leistung nicht so sehr ankommt oder diese nicht so deutlich in Erscheinung tritt. Oder waren etwa Koordinationsprobleme am Seil für die nachlassende Zugkraft verantwortlich? Durch die Wiederholung des Experiments 1974 an der University of Washington in variierter Form konnte diese Erklärung ausgeschlossen werden: Nur die Leistung einer der Teilnehmer wurde gemessen, die anderen simulierten lediglich ihre Anstrengung. Dabei wurden der uneingeweihten Versuchsperson die Augen verbunden, sodass sie nichts von der Untätigkeit der anderen bemerken konnte. Tatsächlich ließ die Motivation wie beim Ringelmann-Experiment nach, die Leistung sank wieder entsprechend der Gruppengröße. Kein gutes Ergebnis für den Teamgedanken!
Heutige Experimente sind meist viel aufwendiger als bei Ringelmann, wie auch schon die Versuchsanordnung des Wiederholungsexperiments zeigt. Oft werden ganze Serien von Experimenten mit kleinen Variationen der Fragestellung...