Das Schweinesystem
Schluss mit Bullerbü?
Bäuerin und Bauer – das war in den frühen Nachkriegsjahren, als die Menschen erfahren mussten, was es heißt, nicht genug zu essen zu haben, ein höchst angesehener Beruf. Immerhin waren die Bäuerinnen und Bauern diejenigen, die uns Menschen ernährten.
Das tun sie auch heute noch, doch ihr guter Ruf ist gefährdet. Die Auswüchse der industriellen Massentierhaltung, Lebensmittel- und Futtermittelskandale in der Agroindustrie, Umweltbelastungen und der Verlust bäuerlicher Betriebe prägen unser Bild der heutigen Landwirtschaft.
Vor einigen Jahren kam ein Bekannter aus Costa Rica zu Besuch. Auch in Costa Rica werden viele Tiere gehalten. Rund um die Hauptstadt San José sieht man große Weiden, auf denen Kühe und Pferde zusammen grasen. Nachdem er eine Zeit lang im Land war und umhergereist ist, fragte er, wo denn hier in Deutschland all die Tiere wären. Dafür, dass in jedem Restaurant zehn verschiedene Fleischgerichte angeboten würden, würde man draußen erstaunlich wenige Tiere sehen. Dass die meisten Tiere nie aus dem Stall auf die Weide kommen, konnte er sich kaum vorstellen.
Eier von freilaufenden Hühnern, Milch von Kühen auf der Weide, Fleisch von suhlenden Schweinen – was vielen Menschen eigentlich selbstverständlich erscheint, ist heute zur Ausnahme geworden. Die meisten der Tiere, die in den Schlachthöfen der Republik ihr Leben lassen, wachsen schon längst nicht mehr auf den Weiden bäuerlicher Betriebe heran, sondern sie werden in kürzester Zeit in hochindustrialisierten Großställen gemästet – ohne je das Tageslicht oder auch nur einen grünen Halm gesehen zu haben.
Doch so muss es nicht sein. Dieses Bild ist das Ergebnis einer fehlgeleiteten Agrar- und Ernährungspolitik, die es geschafft hat, Teile der Landwirtschaft, insbesondere der Tierhaltung, weit von der Gesellschaft zu entfremden.
Die Agroindustrie und die Bundesregierung schieben als Legitimation für die Fehlentwicklungen stets ökonomische Behauptungen vor. Die Landwirtschaft müsse noch effizienter werden, weiter wachsen und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sein. Doch das System versagt.
Es steht außer Frage, dass die Landwirtin und der Landwirt mit ihrer Arbeit Geld verdienen müssen. Doch das Maß geht verloren, wenn der Rentabilitätsdruck aufgrund niedriger Preise nur zulasten der Umwelt und der Gesundheit von Mensch und Tier aufgefangen werden kann.
Auch für bäuerliche Betriebe ist die Entwicklung ruinös. Im letzten Jahr führte der Dumpingwettbewerb zu Einkommensverlusten von bis zu 35 Prozent. Viele können ihre Kosten nicht mehr decken. Das System macht es für sie unmöglich, in Tierschutz und Umweltschutz zu investieren. Von den über 6 Milliarden Euro öffentliches Geld pro Jahr, das jährlich in die deutsche Landwirtschaft fließt, profitieren vor allem die großen industriellen Betriebe, die den Kostenwettbewerb weiter befeuern. Bäuerliche Betriebe werden von Agrarfabriken verdrängt. Es stimmt etwas grundsätzlich nicht mehr. Wie konnten sich die Verhältnisse derart dramatisch verändern?
Über die Jahrtausende entwickelten sich Tierhaltung und Ackerbau Schritt für Schritt weiter. Zur bäuerlichen Landwirtschaft gehörte klassischerweise beides, weil in Wirtschaftskreisläufen gedacht wurde. Die Tiere lieferten wertvollen Dünger für die Felder, auf denen die Feldfrüchte reiften, welche wiederum die Menschen und Tiere ernährten.
Im 17. und 18. Jahrhundert revolutionierte eine Reihe von Neuerungen den Agrarsektor. Die Zucht spezieller Tierrassen wurde vorangetrieben, weiteres Ackerland durch Trockenlegung von Mooren und Rodungen von Wäldern erschlossen. Im 19. Jahrhundert wurde die Landwirtschaft produktiver. Die Fruchtfolge nach Albrecht Thaer wurde entwickelt. Erste Durchbrüche in der Agrochemie aufgrund der wissenschaftlichen Arbeit von Justus Liebig, und hier insbesondere die Veröffentlichung seines Werks Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie 1840, veränderten die Landwirtschaft grundsätzlich.
Um 1900 setzte der internationale, grenzüberschreitende Handel mit Tieren und Fleisch ein. Fleisch und zum Schlachten bestimmte Tiere wurden europaweit verschifft. Langsam lösten sich Strukturen, die bis dahin weitgehend regional waren, auf. Eine Ursache für diesen tiefgreifenden Umbruch war die Etablierung der Eisenbahn und damit die Möglichkeit, große Mengen von Waren relativ schnell über weite Strecken zu transportieren, eine weitere die Einführung moderner Kühlhäuser, welche durch die technischen Errungenschaften Carl von Lindes in den 1870er-Jahren möglich wurden. Es entstanden große Schlachthöfe in den Zentren der Tiermast, die auch für den Export arbeiteten. Diese waren in der Lage, auf Abruf Wurstfabriken mit ausreichend großen Fleischpartien von einheitlicher Qualität zu beliefern. Durch den sich anbahnenden Strukturwandel in der Landwirtschaft nach 1945 mussten immer mehr städtische und kleine private Schlachthöfe aufgeben.
Die Geschäfte wurden immer weniger auf regionaler Ebene in persönlichem Kontakt abgewickelt. Viehmärkte wurden seltener, Transportwege länger, örtliche Metzger unwichtiger und Bauern verloren zunehmend die Kontrolle darüber, was mit ihren Tieren passierte.
Auch der Ackerbau veränderte sich stark. Durch die Konzentration auf wenige gewinnbringende Kulturen wie Weizen, Mais und Raps hat sich unser Landschaftsbild deutlich gewandelt. Vieles, was angebaut wird, landet nicht auf dem Teller sondern im Trog – in der EU rund 60 Prozent des angebauten Getreides.
Steigende Kosten und sinkende Preise drängen viele Bäuerinnen und Bauern weg von Gemischtbetrieben mit Tieren und Äckern hin zu einer immer stärkeren Spezialisierung, vor allem in der Geflügelhaltung, der Rinder- und Schweinemast. Heute liegen Zucht, Aufzucht und Nutzung von Tieren nicht mehr in einer Hand. Stattdessen gibt es zentrale Zuchtstationen oder Mastbetriebe, die in der Branche als Veredelungsbetriebe bezeichnet werden. Küken werden auf dem Fließband sortiert. Schweine in engen Boxen gemästet. Vom Leben von und mit Tieren ist in vielen Fällen nur noch eine industrielle Fleischproduktion am Fließband übrig geblieben. Aus vielen Ställen sind mittlerweile Tierfabriken geworden.
Während immer mehr bäuerliche Betriebe aufgeben müssen, wächst die Zahl der Industrieställe. Diese Entwicklung radikalisierte sich noch einmal, als 2006 der damalige Landwirtschaftsminister Horst Seehofer die Flächenbindung der Tierhaltung auflöste. Bis dahin musste man einen Hektar pro 2 Großvieheinheiten nachweisen (eine Großvieheinheit entspricht etwa einem ausgewachsenen Rind, 7 bis 8 Mastschweinen oder 320 Legehennen), um öffentliche Förderungen zu erhalten.
Mittlerweile haben uns diese Entwicklungen eine weitgehend energiefressende, von fossilen Rohstoffen abhängige Landwirtschaft beschert, die das Klima, die Artenvielfalt und unsere Umwelt schädigt. Es wird oft vergessen, dass in der Landwirtschaft mit begrenzten und auch nicht erneuerbaren Rohstoffen gearbeitet wird. Chemische Düngemittel und Pestizide konnten zwar die Erträge steigern. Aber durch den großen Einsatz von Mineraldünger werden Ressourcen wie die natürlichen Phosphat- und Kali-Vorkommen ausgebeutet. Der jährliche Einsatz von mehr als 100.000 Tonnen Pestiziden in Deutschland gefährdet unsere Umwelt. Ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten in Deutschland sind vom Aussterben bedroht.
Auch unser Boden – die wahrscheinlich wertvollste Ressource der Landwirtschaft – ist ein begrenzter Rohstoff. Der Boden ist nach den Ozeanen der größte natürliche Kohlenstoffspeicher. Durch den hohen Einsatz von Kunstdünger, insbesondere von Stickstoffdünger, nimmt jedoch der Humusanteil der Böden ab. Ebenso verringert sich langfristig die Fruchtbarkeit der Böden, was einen negativen Einfluss aufs Klima hat, denn wenn sich Humus zersetzt, wird das Treibhausgas CO2 frei.
Wer jetzt meint, Menschen, die eine umweltfreundlichere Landwirtschaft und den Tieren ein artgerechteres Leben wünschen, Bullerbü-Romantik vorwerfen zu müssen, verkennt, dass die gesellschaftliche Debatte schon ein gutes Stück weiter ist. Und dass wir gegen etwas ganz anderes kämpfen müssen – gegen ein System, das Rückschritt statt Fortschritt bedeutet. Denn aus dem Land der Bäuerinnen und Bauern ist eine Fleischfabrik geworden, in der Tiere zunehmend »produziert« werden, als handele es sich um Autoersatzteile und nicht um Lebewesen.
Die bisherige Agrarpolitik befeuert diesen Trend, der langfristig nicht in die Zukunft führt, sondern in die Sackgasse. Ein Trend, der genau deshalb seine Legitimation verliert. Einer, den viele Agrarexperten als nicht zukunftsfähig erachten. Einer, dem auch viele Landwirte nicht mehr folgen wollen, denn die allermeisten wollen ihre Tiere gut halten, sehen sich aber in Systemzwängen und Preisdruck gefangen.
Die Fleischfabrik Deutschland
2015 war erneut ein Rekordjahr für die deutschen Fleischfabriken. Laut Statistischem Bundesamt wurde eine enorm hohe Anzahl von Tieren geschlachtet. Die Dimensionen sind nur noch schwer begreifbar: 59,3 Millionen Schweine, 3,5 Millionen Rinder und 716 Millionen Hühner, Puten und Enten landeten in den deutschen Schlachthöfen. Insgesamt werden in Deutschland jährlich fast 830 Millionen Tiere gemästet und geschlachtet – größtenteils in industriell wirtschaftenden Tierhaltungsbetrieben und Schlachtfabriken.
Das sind fast zehnmal so viel Lebewesen, wie es Menschen in diesem Land gibt. Und die Zahlen...