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Lern- und Leistungsmotivation
Von den drei Motiven McClellands spielt offensichtlich das nach Leistung im Schulkontext eine besondere Rolle, da Schulen als Ort des Lernens und Leistens konzipiert sind. Daher wurde dort fast ausschließlich das Leistungsmotiv erforscht, obschon sicherlich in Schule und Unterricht auch Macht- und Nähebedürfnisse von großer Bedeutung sind. Wegen der besonderen Bedeutung des Leistungsmotivs für das Lernen und die erfolgreiche Bewältigung der Schullaufbahn wird in den folgenden Kapiteln ein besonderer Fokus hierauf gelegt.
McClelland und Kollegen (1953) prägten das heutige Verständnis von Leistungsmotivation. Ihnen folgend ist die Leistungsmotivation die Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab. D.h., dass eine leistungsmotivierte Person bestrebt ist, ihr eigenes Verhalten in Kategorien von „gut“ und „schlecht“ zu bewerten und dazu Vergleiche aufsucht. In diesem Verständnis kann die Leistungsmotivation als das grundlegende Bedürfnis einer Person verstanden werden, in allen möglichen Bereichen das eigene Verhalten zu bewerten. Es handelt sich also um eine weitgehend situationsübergreifende Motivation.
5.1 Erwartung-mal-Wert-Theorien der Leistungsmotivation
Ein sehr einflussreiches Modell zur Erklärung der Leistungsmotivation ist die Erwartungs-mal-Wert-Theorie. Sie nimmt an, dass menschliches Verhalten aus einem ökonomischen Kalkül resultiert. Die Tendenz, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten oder genauer, eine bestimmte Motivation zu entwickeln, ergibt sich aus dem Verhältnis zweier Parameter:
- Die erwartete Wahrscheinlichkeit (W), dass ein bestimmtes Verhalten zu einem bestimmten Effekt führt, und
- der Wert (oder Anreiz A), der diesem Effekt beigemessen wird.
Durch eine Produktbildung beider Parameter ergibt sich die Stärke der motivationalen Tendenz (T). Als Gleichung ausgedrückt: T = A × W.
Dieser Logik folgend ist die Verhaltenstendenz immer Null, wenn die Erwartung oder der Wert eines Effektes gleich Null ist. Wenn also eine Person die Folgen eines potentiellen Verhaltens als völlig wertlos ansieht, dann wird sie das Verhalten niemals ausführen, ganz gleich wie sicher sie ist, dass die erwartete Folge eintritt. Ebenso wird eine Person ein bestimmtes Verhalten nicht zeigen, solange die Wahrscheinlichkeit einer erwarteten Folge extrem gering oder gar Null ist, ganz gleich wie attraktiv die Folge ist.
In seinem Risiko-Wahl-Modell hat Atkinson (1957) das Erwartungsmal-Wert-Modell um die Komponente der Motive einer Person erweitert. In einer Leistungssituation hat eine Person ein Erfolgsmotiv (Me), das sich darin ausdrückt, wie sehr eine Person Stolz anstrebt. Die Stärke der Erfolgstendenz (Te) einer Person, deren Erfolgsstreben, wird also von drei Komponenten bestimmt: Dem Erfolgsmotiv, der erwarteten Wahrscheinlichkeit auf Erfolg (We) und dem Anreiz des Erfolgs (Ae). Erweitern wir also die obere Gleichung: Te = Me × We × Ae.
Zugleich aber hat eine Person auch ein Misserfolgsmotiv (Mm), das sich darin ausdrückt, wie bedeutsam die Vermeidung von Scham für sie ist. Die Misserfolgstendenz (Tm) einer Person ist deren Streben, Misserfolge zu vermeiden. Sie ergibt sich aus dem Misserfolgsmotiv, der erwarteten Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs (Wm) und dem Anreiz oder besser der Aversion des Misserfolgs (Am). Entsprechend ist die Gleichung: Tm = Mm × Wm × Am.
Je nachdem, ob die Erfolgstendenz oder die Misserfolgstendenz in einer Situation überwiegt, resultiert eher eine Erfolgsmotivation oder eine Misserfolgsmotivation bei einer Person. Beide motivationalen Tendenzen wirken also subtraktiv aufeinander. Die resultierende motivationale Tendenz (Tr) ergibt sich demnach aus: Tr = Te – Tm.
Atkinson hat sein Risiko-Wahl-Modell auf die Frage angewandt, wie hoch die Motivation eines Schülers ist, eine bestimmte Aufgabe in Abhängigkeit der Aufgabenschwierigkeit zu bearbeiten. Dabei legt er zwei Annahmen zugrunde:
- Die Wahrscheinlichkeit, eine Aufgabe erfolgreich zu bearbeiten, ist am höchsten, wenn die Aufgabe sehr leicht, ist und am niedrigsten bei einer sehr schweren Aufgabe und
- der Wert einer Aufgabe ist umso höher, je schwieriger die Aufgabe ist, da der Stolz bei dem erfolgreichen Lösen einer schwierigen Aufgabe höher ist als beim Lösen einer leichten Aufgabe.
Daraus folgt, dass der Anreiz, eine leichte Aufgabe zu bearbeiten, recht gering ist, da diese einen sehr geringen Wert hat. Ebenso ist die Motivation, eine schwierige Aufgabe zu bearbeiten, sehr gering, da die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu sein, sehr gering ist.
Für Schüler mit unterschiedlich ausgeprägtem Erfolgs- und Misserfolgsmotiv ergeben sich dadurch aber sehr unterschiedliche Konsequenzen für die resultierende Verhaltenstendenz (siehe Abbildung 5). Bei Schülern mit einem hohen Erfolgsmotiv ist der Anreiz zur Bearbeitung einer mittelschweren Aufgabe am höchsten. Dem entgegen ist der Anreiz zur Bearbeitung einer mittelschweren Aufgabe für Schüler mit einem hohen Misserfolgsmotiv am geringsten. In der Konsequenz heißt dies, bei hohem Erfolgsmotiv wählen Schüler vor allem mittelschwere Aufgaben und bei hohem Misserfolgsmotiv wählen sie, trotz des geringen Erfolgsanreizes, schwere oder leichte Aufgaben.
Ein Beispiel zur Erläuterung. Wir haben eine Schülerin A und einen Schüler B. Schülerin A hat ein starkes Erfolgsmotiv. Sie erreicht auf einer Skala von 1 bis 10 einen Wert von 10 für ihr Erfolgsmotiv und einen Wert von 1 für ihr Misserfolgsmotiv. Bei Schüler B ist es genau umgekehrt. Er hat ein sehr schwaches Erfolgsmotiv mit einem Wert von 1 und ein starkes Misserfolgsmotiv mit einem Wert von 10.
Abb. 5: Stärke der Verhaltenstendenz zur Bearbeitung einer Aufgabe in Abhängigkeit der Aufgabenschwierigkeit und des Erfolgs- und Misserfolgsmotives, erklärt mit dem Risiko-Wahl-Modell nach Atkinson (1957)
Schauen wir nun nach der resultierenden Verhaltenstendenz, wenn beide Schüler eine leichte, eine mittelschwere und eine schwere Aufgabe bekommen. Der Stolz auf Erfolg bei einer leichten Aufgabe ist gering, der Wert ist 1 auf einer zehnstufigen Skala, bei einer mittelschweren Aufgabe 5 und bei einer gelungenen schweren Aufgabe ist der Stolz sehr hoch mit 10. Umgekehrt verhält es sich mit der Scham bei Misserfolg. Bei einer leichten Aufgabe ist diese hoch mit einem Wert von 10, bei einer mittelschweren Aufgabe ist der Wert 5 und bei einer schweren Aufgabe ist die Scham sehr gering mit einem Wert von 1.
Die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg ist bei einer leichten Aufgabe sehr hoch mit 90 % (0,9), bei einer mittelschweren Aufgabe bei 50 % (0,5) und bei einer schweren Aufgabe sehr gering bei 10 % (0,1). Tabelle 2 zeigt die resultierende Verhaltenstendenz für beide Schüler auf Grundlage der weiter oben hergeleiteten Formeln.
Tab. 2: Berechnung der resultierenden Verhaltenstendenz für leichte, mittlere und schwierige Aufgaben. Folgende Formeln wurden zugrunde gelegt: Te = Me × We × Ae; Tm = Mm × Wm × Am; Tr = Te – Tm
Stolz bei Erfolg (Ae) | 1 | 5 | 10 |
Erfolgswahrscheinlichkeit (We) | 0,9 | 0,5 | 0,1 |
Scham bei Misserfolg (Am) | 10 | 5 | 1 |
Misserfolgswahrscheinlichkeit (Wm) | 0,1 | 0,5 | 0,9 |
| Schulerin A Erfolgsmotiv (Me) = 10 Misserfolgsmotiv (Mm) = 1 |
Misserfolgstendenz (Tm) | 1 | 2,5 | 0,9 |
Resultierende Tendenz (Tr) | 8 | 22,5 | 9,1 |
| Schüler B Erfolgsmotiv (Me) = 1 Misserfolgsmotiv (Mm) = 10 |
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