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Pädagogische Förderung als Beruf
2.1 Zur Beschaffenheit von Nährböden für soziale Benachteiligung
Wenn wir nun nach der konkreten Beschäftigung mit unterschiedlichen Dimensionen der sozialen Benachteiligung in der Welt und in Deutschland den Mut haben, wieder einen Schritt zurückzutreten und uns mit dem Problemfeld der professionellen Förderung bei sozialer Benachteiligung zu beschäftigen, soll dies unter einem Blickwinkel geschehen, der theoriegeleitet wichtige Problemfelder in der pädagogischen Arbeit beleuchtet und dabei Nährböden für soziale Benachteiligung in einem an sich auf Förderung und Unterstützung ausgerichteten Berufsfeld aufspürt. Kapitel 2 ist also als Rückbesinnung auf einige grundsätzliche Inhalte pädagogischer Professionalität in der Schule und zugleich als Versuch zu verstehen, Bedingungskonstellationen zu identifizieren, die ungewollt soziale Benachteiligungen möglich machen bzw. diese sogar fördern.
Es soll um Nährböden für soziale Benachteiligung gehen. In der Biologie werden grob zwei Formen von Nährböden unterschieden. Die „definierten Nährmedien“ dienen durch ihre Beschaffenheit und Zusammensetzung der Aufzucht genau bestimmter Mikroorganismen. Andere Stämme finden auf diesen Böden nicht die notwendige Nahrung. Spezielle Sonderformen der definierten Medien („Minimalmedien“) verhindern sogar z. B. durch die zusätzliche Anreicherung von Antibiotikum im Boden das Wachstum unerwünschter Mikroorganismen. Die „komplexen Nährmedien“ beinhalten eine nicht näher bestimmte Zusammensetzung (z. B. Hefekultur oder Fleischextrakte) und ermöglichen unterschiedlichen Mikroorganismen die Ansiedelung. Je nach Anforderung der Organismen und vorfindlichen Bedingungen kann Wachstum stattfinden oder nicht.
Wann entsteht auch in der Schule soziale Benachteiligung? Einerseits ist klar geworden, dass soziale Benachteiligung nicht in jedem Fall ursächlich in der Schule entsteht. Für einen großen Teil der Schicksale betroffener Familien sind globale und gesellschaftliche Entwicklungen und Prioritäten verantwortlich. Eine zweite Gruppe Betroffener ist dagegen hausgemacht. Es sind die Opfer der institutionellen Diskriminierung, die innerhalb unserer Schule stattfindet. Hier bildet sich „im Kleinen“ ab, was sich in unserer Gesellschaft und auch weltweit im negativen Sinne „bewährt“ hat. Wenn es später in Kapitel 3 um die Förderung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher in der Schule gehen wird, sind die Möglichkeiten, das Übel sinnvollerweise an den großen systemischen Wurzeln zu packen, sehr begrenzt. Selbst die Forderungen nach gebundenen Ganztagsschulen und sinnvollen Konzepten für inklusive Schulen haben nicht zu wesentlichen Veränderungen in der Schullandschaft geführt, weil offensichtlich doch nicht so viel Geld ausgegeben werden soll. Es wird bei der Förderung also auf die Lehrkräfte und ihre ganz individuelle Arbeit ankommen. Auf sie entfällt die ehrenvolle, aber auch schwierige Aufgabe, Kinder zu fördern, die vom Leben, von der Gesellschaft, von den Institutionen und in nicht wenigen Fällen auch von den eigenen Eltern schlecht behandelt werden. Sie bekommen nachweislich nicht die gleichen Ausgangschancen zugebilligt wie andere Kinder ihres Alters in unserem Land. Das ist eine heikle Situation, die leicht auch zu wiederkehrenden Entmutigungen und Missverständnissen auf beiden Seiten führen kann. Notwendig sind professionelle Kompetenzen, die kompatibel sind mit den komplexen Anforderungen der gestellten Aufgabe.
Wenn es um „Nährböden“ für soziale Benachteiligung und die Professionalität der Lehrer geht, soll dies nicht den Eindruck erwecken, dass etwa Lehrer soziale Benachteiligung begünstigten. Dass dies nicht gemeint ist, sollte bisher klar geworden sein. Vielmehr spielt der Vergleich darauf an, dass bisweilen Umstände unbeabsichtigt verschiedenen „Gewächsen“ Nahrung bieten. Der involvierte Professionelle kann sich durch rechtzeitige Reflexion und Besinnung auf die besonderen Anforderungen vorbereiten.
Soziale Benachteiligung gedeiht – um im Bild zu bleiben – schulischerseits auf einem Nährboden, der u. a. folgende Inhaltsstoffe trägt
- das Nähe-Distanz-Problem ist ungelöst und soll individuell „von-Fall-zu-Fall“ geklärt werden,
- die Lebenswelten der Schüler und Pädagogen stehen unabhängig nebeneinander und sind z.T. auch unbekannt, und drittens:
- Erfahrungen und persönliche Sichtweisen sind zentrale Argumente in Diskussionen und Meinungsfindungsprozessen.
Die folgenden Handlungsfelder sind in Spannungsverhältnissen gedacht. Der Soziologe Fritz Schütze (Breidenstein & Schütze 2008; Schütze 2000) arbeitet seit vielen Jahren erfolgreich nach der Leitidee, Problemfelder anhand beteiligter Paradoxien zu strukturieren. Die Idee hat ihren Charme darin, dass durch die Bildung von Gegensatzpaaren das eigentliche Problem leichter auszumachen ist. Extreme sind häufig ohnehin nur eine Art Hintergrund, vor dem dann umso klarer die Figur des eigentlich interessanten Themas deutlich werden kann. So wollen wir es auch im Folgenden halten.
2.2 Berufsfeld zwischen Familienerziehung und Selbsterziehung
Lehrerinnen und Lehrer sind Profis. Daran besteht kein Zweifel. Ihr Beruf ist es, Kinder und Jugendliche zu unterrichten, sie zu bilden und auszubilden und sie so zu fördern, dass sie ihre Begabungen entdecken und den optimalen Bildungsweg beschreiten können. Lehrer sind also professionelle Erzieher, Bildungsförderer und Fachleute für das Lernen (vgl. Lemke et al. 2000). In der Professionalisierungsdiskussion herrscht seit langem eine Art Minimalkonsens über der Beschreibung dessen, was „den Profi“ allgemein ausmacht (vgl. Kurtz 2005; Pfadenhauer 2005). So scheint klar, dass jemand, der sich in einem akademischen Beruf als „professionell arbeitend“ bezeichnen will …
- eine theoretische und wissenschaftlich fundierte Ausbildung genossen haben sollte,
- über spezifisches Sonderwissen verfügen soll, das ihn in die Lage versetzt, auftretende Probleme spezialisiert zu lösen,
- allgemein gültige berufsspezifische Normen und Ziele kennen und umsetzen muss und schließlich
- Plattformen und Fortbildungsangebote einschlägiger Berufsverbände und Interessensvertretungen zur eigenen Weiterbildung nutzt.
Wer im Rahmen seiner beruflichen Aufgaben handelt, tut dies demnach dann professionell, wenn er seine besondere Handlungskompetenz durch Formalbildung, durch reflektierte Berufserfahrung und durch die Kenntnis aktueller Theorien und neuerer Forschungsergebnisse erworben hat und ständig erwirbt.
Wie lässt sich nun pädagogisches Handeln als professionelles Handeln bestimmen? Was tun und wie argumentieren Pädagogen, wenn sie professionell arbeiten? Für Hermann Giesecke (1993) und Jochen Kade (1997) erschöpft sich das Professionell-Pädagogische in der kompetenten Vermittlung von Lerninhalten. Dies kann auf schulische und außerschulische Zusammenhänge bezogen werden und ist dann vollkommen, wenn Unterrichtsinhalte stimmig und methodisch gut dargeboten und Lernangebote zielgruppenorientiert und erfolgreich vermittelt werden. Ein guter und professionell arbeitender Pädagoge ist also in dieser Auffassung ein effektiver Erklärer bzw. Unterrichter. Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (2006) wollen allerdings den Begriff des professionellen pädagogischen Handelns erweitert wissen. Sie verwenden „pädagogisches Handeln“ und „Erziehen“ synonym. Die verschiedenen Formen pädagogischen Handelns lassen sich dann sowohl in schulischer Lehre als auch in der Verhandlung über Lebenswandel und ethische Grundsätze – und sogar im Einüben von Tugenden wiederfinden. Unter „Erziehung“ allgemein verstehen wir konsensfähig all diejenigen Maßnahmen, die einem Menschen helfen, Mündigkeit und Autonomie zu erlangen (vgl. Böhm 2000), und ihn in die Lage versetzen, gute oder sogar richtige Entscheidungen zu treffen. Erziehung betrifft den Menschen in seinem individuellen, in seinem sozialen und in seinem kulturellen Sein.
Dieser ganzheitliche Anspruch der Erziehung und Bildung ergibt sich aus den verschiedenen Dimensionen, innerhalb derer der Mensch in seinen unterschiedlichen Lebensphasen zu beschreiben ist. Er begegnet uns einerseits als Individuum mit ganz eigenem Charakter, hat andererseits als Sozialwesen einen bestimmten Platz und bestimmte Rollen in der Gesellschaft und kann drittens auch als sittliches Kulturwesen beschrieben werden. Damit ist Erziehung als solche einerseits anthropologisch bedingt – also vom Wesen des Menschen her gefordert – und andererseits kontext-reaktiv, also jeweils auf aktuelle Geschehnisse ausgerichtet (vgl. Sünkel 2011).
Für unsere Fragestellung bedeutet dies nun folgendes: Zum einen ist Erziehung notwendig. Der Mensch wird als Mängelwesen geboren und kann ohne Erziehung, ohne persönliches Gegenüber aus Fleisch und Blut, ohne Förderung vis-a-vis nicht überleben. Er braucht Hilfe, um letztendlich ein selbständiges Leben führen zu können. Diese Hilfe erhält er im Rahmen seiner Familienerziehung von seiner Geburt bis zur Einschulung und darüber hinaus. Andererseits reagiert Erziehung aber auch auf Missstände. Sie interveniert, wenn Verhalten auffällig ist, und sie wird aktiv, wenn im sozialen Miteinander oder in der individuellen Verarbeitung von Erlebtem etwas schief läuft. Dann ergreift der Erzieher Partei, fördert und unterstützt, verhandelt mit dem Jugendlichen und stellt...