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E-Book

Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche

AutorErwin Breitenbach, Katharina Weiland
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl138 Seiten
ISBN9783170229143
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
In the first part of the book, the theoretical basics of the ability to read and write are discussed. The normal procedures of acquiring writing skills as well as possible dysfunctions are laid out in detail and systematised theoretically. In the following chapters these clear structures aid the analysis of concrete dysfunctions: e.g. dyslexia and the debate on differing causes. In the second part of the book education and training programmes are presented. Effective strategies and methods from the vast array of furthering material that have been proven empirically are introduced.

Prof. Dr. Breitenbach, psychologist, teaches at the institute for rehabilitation at the Humbolt-University of Berlin emphasising on psychology of rehabilitation. Katharina Weiland is academic assistant at the same institute.

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Leseprobe

3


Legasthenie


Die Vielzahl an Publikationen aus verschiedensten Sichtweisen auf das Thema Lese- und Schreibschwierigkeiten eröffnet eine Diskussion um Bezeichnungen und Bestimmungen, die Günther (2007) zusammenfassend als „Dilemma der Begriffe“ (S. 64) charakterisiert, Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2007) sprechen gar von einem erschreckenden „babylonischen Sprachengewirr“ (S. 186). Neben dem in der Forschung traditionell verwendeten Terminus „Legasthenie“ steht heute als Synonym der Begriff „(umschriebene, spezifische) Lese-Rechtschreibstörung (LRS)“; hinzu kommen die allgemeineren Bezeichnungen „Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ bzw. „-schwäche“ und aus der englischsprachigen Literatur schließlich der Terminus „(Entwicklungs-)Dyslexie“. All diese Begriffe meinen vom Prinzip her das gleiche – gravierende Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und (Recht-)Schreibens –, jedoch unterscheiden sie sich in ihrem Bedeutungsgehalt hinsichtlich der angenommenen Ursachen und Spezifität. Im Folgenden wird zunächst die Diskrepanzdefinition der LRS erläutert, anschließend sollen die wichtigsten Kritikpunkte kurz zusammengefasst und das Erscheinungsbild der Legasthenie hinsichtlich ihrer Fehlertypologie dargestellt werden. Den Abschluss des Kapitels bildet der aktuelle Stand der Forschung zur Häufigkeit der LRS und ihrer Begleitstörungen.

3.1 Diskrepanzdefinition nach ICD 10


Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10; deutsche Version vgl. Remschmidt et al., 2006) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt die Lese-Rechtschreibstörung im Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) in der Systematik F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten auf. Zu unterscheiden ist die Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) von der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1). Im Rahmen der multiaxialen Klassifikation und Diagnostik ist die Lese-Rechtschreibstörung von klinisch-psychiatrischen Syndromen (z.B. Schulangst), von Lernstörungen aufgrund von Intelligenzminderung sowie aufgrund körperlicher und neurologischer Erkrankungen (z.B. [unkorrigierter] Sehbehinderung, Schwerhörigkeit) abzugrenzen und darf nicht außergewöhnlichen psychosozialen Umständen (z.B. unzureichender Beschulung) geschuldet sein (Plume & Warnke, 2007). Das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM-IV; deutsche Bearbeitung von Saß et al., 2003) der American Psychological Association (APA) führt zudem noch die Störung des schriftlichen Ausdrucks auf, die sich als Ausdrucksschwierigkeiten auf syntaktischer (Bilden grammatisch korrekter Sätze) und textstruktureller (Organisation von Textteilen) Ebene zeigen.

Hauptmerkmal der umschriebenen LRS sind Lese- und Schreibleistungen erheblich unter dem Niveau, das ausgehend vom Lebensalter des Betreffenden, dessen Intelligenz und Beschulungssituation zu erwarten wäre (Remschmidt et al., 2006). Die Diskrepanzdefinition umfasst also die Differenz zwischen der Leistung des Kindes in einem standardisierten Lese- und Rechtschreibtest und seiner Intelligenz und seinem Alter. Die Angaben zur Höhe dieser Diskrepanz schwanken allerdings, sie liegen etwa im Bereich von ein bis zwei Standardabweichungen. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) setzt folgende Kriterien zur Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung an (vgl. Warnke et al., 2002):

  • Lese- und Schreibleistungen: Prozentrang (PR) ≤ 10. Mit dem Prozentrang-Kriterium ist der Vergleich zur Altersgruppe gegeben, bei einem PR ≤ 10 ist die individuelle Leistung eindeutig als nicht alters- bzw. klassenstufengemäß einzuordnen,
  • Diskrepanz zwischen Lese-Rechtschreibleistungen und Intelligenz: 1 bis 1,5 Standardabweichungen,
  • Ausschlusskriterium ist die gemessene Intelligenzleistung im stark unterdurchschnittlichen Bereich (IQ < 70).

In den Randbereichen der gemessenen Leistungen (z. B. bei extrem niedrigen oder sehr hohen IQ-Werten) kann das Diskrepanzkriterium eine umschriebene LRS nicht ausreichend genau abbilden. Von der DGKJP wird daher zusätzlich ein Regressionsmodell eingeführt (Deutsche Gesellschaft …, 2007; vgl. auch Schulte-Körne et al., 2001).

Die Diskrepanzdefinition bildet jedoch nach wie vor die Grundlage für sozialrechtliche Entscheidungen, wenn es um die Anerkennung eines Förderbedarfs und beispielsweise um die entsprechende Vergabe von Mitteln für die außerschulische LRS-Therapie oder um die partielle Befreiung von der Notengebung geht. Diese Fördermaßnahmen werden einerseits in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer (teils durch eine eigene Richtlinie zu Thema Lernstörungen, teils – wie z. B. in Berlin – in die Grundschulverordnung integriert), andererseits durch den rechtlichen Rahmen des Sozialgesetzbuchs VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) vorgegeben. Das SGB VIII regelt in § 35a, dass Kinder und Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, wenn sie von seelischer Behinderung bedroht sind und dadurch ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt sein wird. Die Begutachtung im Rahmen eines Antragsverfahrens obliegt einem Arzt, Psychologen oder Psychotherapeuten, der seine Stellungnahme aufgrund der Klassifikation der ICD-10, also letztlich der Diskrepanzdefinition, verfasst.

Die Legasthenie ist zwar in der ICD-10 und im DSM-IV als psychische Erkrankung klassifiziert, gehört jedoch nach deutschen Sozialrecht nicht in den Zuständigkeitsbereich der Krankenkassen im Sinne des SGB V. Eine Behandlung der LRS wird daher nur in Ausnahmefällen von den Krankenkassen (mit-)finanziert, wenn z. B. eine zusätzliche Sprachstörung vorliegt und im Rahmen der Logopädie auch eine Förderung des Schriftspracherwerbs erfolgt.

3.2 Kritische Anmerkungen zur Diskrepanzdefinition


Die Diskrepanzdefinition impliziert, dass es verschiedene Gruppen der Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens gibt: diejenigen mit einer spezifischen, umschriebenen Legasthenie nach den Kriterien der ICD-10, also durchschnittlich intelligente Kinder mit geringen Leistungen im Lesen und Rechtschreiben, und diejenigen mit einer allgemeinen oder unspezifischen Lese-Rechtschreibschwäche, die zwar erhebliche Probleme im Schriftspracherwerb zeigen, aber aufgrund ihrer unterdurchschnittlichen Intelligenz das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen. In den sozialrechtlichen Regelungen wird unausgesprochen davon ausgegangen, dass diese beiden Gruppen Unterschiede in der Verlaufsprognose und Therapierbarkeit haben, wenn die Hilfen nach KJHG und der schulische Nachteilsausgleich in entsprechend engem Rahmen gewährt werden.

In der internationalen Forschung zur Ätiologie wurde die Annahme verschiedener Untergruppen jedoch bereits deutlich widerlegt, sowohl was Hypothesen über verschieden ausgeprägte Problembereiche oder eventuelle Wahrnehmungsbesonderheiten angeht als auch im Hinblick auf die Unterscheidung hinsichtlich der kognitiven Leistungen (einen Überblick dazu gibt Walter, 2005). Für den deutschsprachigen Raum ist die Untersuchung von Marx et al. (2001) richtungsweisend: Sie untersuchten 82 rechtschreibschwache Kinder, von denen 56 das Diskrepanzkriterium erfüllten und 26 als allgemein lese-rechtschreibschwach bei unterdurchschnittlicher Intelligenz eingestuft wurden. Ziel war es, mögliche verursachende Faktoren der Schriftspracherwerbsprobleme herauszufinden, dafür wurden die phonologische und visuelle Informationsverarbeitung durch standardisierte Tests erfasst. Zentrales Ergebnis der Studie: Diejenigen Kinder mit Auffälligkeiten im Schriftspracherwerb unterschieden sich von der Kontrollgruppe (altersgleiche Kinder ohne diese Probleme) vor allem im Bereich der phonologischen Bewusstheit; die beiden Gruppen der lese-rechtschreibschwachen Kinder unterschieden sich jedoch nicht voneinander. Das heißt, dass diese Kinder unabhängig von ihrer Intelligenz ganz ähnliche Schwierigkeiten haben, dass also bei den Kindern mit einer LRS nach Diskrepanzdefinition kein spezifischer Verursachungshintergrund angenommen werden kann.

Im Hinblick auf die Intervention bei Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten untersuchten Weber et al. (2002) Gruppen von leserechtschreibschwachen Drittklässlern, die sich im Hinblick auf ihre Intelligenz und damit auf ihre Einordnung nach dem Diskrepanzkriterium unterschieden. Diese Gruppen nahmen im Umfang von 15 wöchentlich stattfindenden Sitzungen à 90 Minuten am Training mit einer modifizierten Form der „Lautgetreuen Lese-Rechtschreibförderung“ (Reuter-Liehr, 2006) teil. Zentrales Ergebnis war hier, dass die Gruppen gleichermaßen von einem Lese-Rechtschreibtraining profititerten, unabhängig von ihren kognitiven Voraussetzungen. Für den Bereich der Intervention heißt das, dass es keine Grundlage dafür gibt, den weniger intelligenten Kindern eine andere oder sogar überhaupt keine Förderung zukommen zu lassen.

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass es keine qualitativ unterschiedlichen Subgruppen einer Lese-Rechtschreibschwäche gibt. Die Klassifikation in der ICD-10 und deren Operationalisierung in den sozialrechtlichen Bestimmungen beruhen daher auf einem recht willkürlich festgelegten Kriterium (Marx, 2007).

3.3 Typische „Legastheniker-Fehler“


Die Symptomatik der Legasthenie kann sich auf allen Ebenen und bei allen Teilfertigkeiten des Lesens und Rechtschreibens zeigen. Die Lesegenauigkeit...

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