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E-Book

Förderung in der schulischen Eingangsstufe

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl315 Seiten
ISBN9783170228627
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Zentrales Ziel des Unterrichts in der Schuleingangsstufe ist das Vermitteln der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Verschiedenen Untersuchungen zufolge weisen inzwischen etwa 10% der Erstklässler während dieses Prozesses einen erheblichen Förderbedarf auf. Die Förderung zu Schulbeginn ist besonders wichtig, weil sich frühe Leistungsrückstände im Anfangsunterricht dramatisch auf die weiteren schulischen Lernprozesse auswirken. Das Buch informiert über Ursachen kindlicher Lernschwierigkeiten, Früherkennung und bewährte Konzepte einer wirksamen Förderung. Hierbei geht es auch um die Vermittlung psychologischen Wissens zur Verbesserung der Lernvoraussetzungen bei den Kindern (etwa im Bereich der Wahrnehmung, der Motivation und der Aufmerksamkeit). Zu jedem Bereich der Förderung werden Beispiele für sinnvolle Übungen mit den Kindern gegeben, wobei alle Übungsformen wissenschaftlich fundiert und in der Praxis erprobt sind.

Prof. Dr. Bodo Hartke und Prof. Dr. Katja Koch lehren an der Universität Rostock mit den Schwerpunkten Lernbehindertenpädagogik bzw. Frühe Sonderpädagogische Entwicklungsförderung. Prof.Dr. Kirsten Diehl lehrt am Institut für Sonderpädagogik der Universität Flensburg.

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Leseprobe

Lernen fördern


Bodo Hartke

1 Einführung


In der Schuleingangsstufe bewältigen Kinder eine umfangreiche Anzahl von schwierigen Entwicklungsaufgaben sowie komplexen Lernprozessen. Innerhalb der ersten Schuljahre entstehen bzw. vervollständigen sich in beeindruckender Weise Umweltwissen, Fertigkeiten im Umgang mit Materialien, Sprachverständnis, soziale Kompetenzen, Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz. Empirische Forschungsergebnisse – insbesondere Erkenntnisse aus Längsschnittstudien – sprechen dafür, sich in Theorie und Praxis besonders intensiv mit Lernprozessen innerhalb der Schuleingangsphase auseinanderzusetzen. Es zeigte sich in vielfältigen Untersuchungen, dass Lücken in den primär schulisch vermittelten Wissens- und Fertigkeitssystemen leider oft nicht in den weiteren Schuljahren geschlossen werden, sondern Kinder, die deutliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung von Anforderungen der ersten beiden Schuljahre aufweisen, noch schwerwiegendere Schulleistungsrückstände in darauf folgenden Klassenstufen entwickeln (s. hierzu insbesondere die Beiträge von Diehl und von Koch und Knopp in diesem Buch). Klassenwiederholungen helfen diesen Kindern meist nur kurzfristig (Bless, Schüpbach & Bonvin, 2005), was relativ einfach zu erklären ist. Analysiert man die Lernschwierigkeiten von Kindern genauer, die in dritten, fünften oder sechsten Klassen scheitern, stößt man meist auf Lücken, die Lerninhalte der ersten beiden Schuljahre betreffen. Eine Wiederholung beispielsweise der dritten Klassenstufe führt dann also nicht dazu, dass ein Kind in den Bereichen gefördert wird, in denen Lücken bestehen, sondern das Kind wird erneut überfordert, meist mit dramatischen Folgen für die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, die Motivation, das Selbstwertgefühl und oft auch das Sozialverhalten des Kindes.

Im Fokus einer aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigenden Förderpädagogik – hier verstanden als eine gemeinsame Aufgabe von Grundschullehrkräften und Sonderpädagogen sowie weiteren Spezialisten – stehen folglich

  • ein Anfangsunterricht, der darauf ausgerichtet ist, Lernrückstände zu vermeiden,
  • Verfahren der Früherkennung von ungünstigen Lernvoraussetzungen, von Leistungsrückständen und damit von besonderem Förderbedarf,
  • unterrichtsergänzende Förderprogramme, welche im Anfangsunterricht vorkommende Kompetenzdefizite deutlich mindern und bestenfalls beseitigen sowie
  • Möglichkeiten der Förderung betroffener Kinder in Kooperation mit dem Elternhaus.

In diesem Beitrag über Grundsätze der Förderung in der Schuleingangsphase geht es vorrangig darum, wie gegenwärtig Lernen und gestörte Lernprozesse wissenschaftlich beschrieben und erklärt werden. Spezifische Erkenntnisse über Möglichkeiten der Vermittlung und Steigerung von Lese-, Rechtschreib- und Rechenkompetenz sowie der Förderung von lernrelevanten Personenmerkmalen wie beispielsweise Aufmerksamkeit, Motivation oder phonologische Bewusstheit sind in der Praxis in Zusammenhang mit allgemeinen Erkenntnissen über Lernen und Lehren zu bringen, um den Lernbedürfnissen von Kindern mit besonderen Entwicklungsrisiken gerecht zu werden. Um dies zu erleichtern, werden im Folgenden

  • förderungsrelevante Modellvorstellungen über Lernen in den Abschnitten über Lernen und Gedächtnis (Abschnitt 2) sowie Entwicklung von Wissen (3) erläutert,
  • Hinweise für das Erkennen von besonderem Förderbedarf beim schulischen Lernen (Abschnitt 4) gegeben,
  • wirksame Möglichkeiten der unterrichtsintegrierten und außerunterrichtlichen Lernförderung (Abschnitt 5) aufgezeigt.

Informationen über besondere, beim Lernen zu beachtende bereichs- oder merkmalsspezifische Zusammenhänge finden sich in den weiteren Aufsätzen dieses Buches.

2 Lernen und Gedächtnis


Der Begriff Lernen umschreibt die Fähigkeit einer Person (oder eines Lebewesens), ihr Verhalten aufgrund von Erfahrungen zu ändern. Der Begriff Gedächtnis beschreibt Fertigkeiten, Informationen kurz- oder langfristig zu speichern und zum Abruf bereit zu stellen. Im engeren Sinne versteht man unter schulischem Lernen den Erwerb von Wissen und Fertigkeiten und deren kompetente Anwendung. Wie letztlich Lernen abläuft und gelingt oder misslingt, was den Unterschied zwischen erfolgreichen und gescheiterten Lernversuchen ausmacht, ist noch nicht vollständig erforscht. Aber gerade die Neurowissenschaften, die moderne Kognitionspsychologie und die pädagogische Psychologie erzielen vermehrt Fortschritte und es gelingt ihren Fachvertretern immer differenzierter, Lernprozesse zu beschreiben und zu erklären. Die aus diesen Wissenschaftsgebieten heraus entwickelten Kenntnisstände und Modellvorstellungen können zudem gerade dann hilfreich sein, wenn Lernen nicht gelingt, denn Gründe für Lernschwierigkeiten können auf dieser Basis erkannt und Ansatzpunkte für Förderung bestimmt werden. Insofern liefern gerade die Neurowissenschaften, die moderne Kognitionspsychologie und die pädagogische Psychologie die entscheidenden Grundlagen für die (sonder-)pädagogische Diagnostik und Förderung bei Lernschwierigkeiten.

Welche neuronalen Prozesse laufen im Gehirn ab, wenn Kinder im Unterricht Buchstaben-Lautzuordnungen, neue Begriffe, Zahlwörter oder Rechenstrategien lernen? Die Kinder nehmen über Sinnesorgane neue Informationen auf. Sie arbeiten mit diesen Informationen gedanklich, verknüpfen sie mit bereits im Gedächtnis vorhandenen Informationen, prägen sich die neuen Informationen längerfristig ein und rufen sie zum Zweck des Lösens von Übungs- oder Anwendungsaufgaben ab. Vorhandenes Wissen wird gedanklich mit neuem Wissen verbunden. Hierbei finden biochemische Veränderungen in Nervenzellen des Gehirns statt. Beim Lernen wird ein Neuron über seine „Eingangskabel“, die Dendriten aktiviert, ein Signal wird empfangen und über ein „Ausgangskabel“ – das Axon – an andere Nervenzellen weitergegeben. Ein Axon kann einen Impuls über Synapsen – eine besondere Struktur zur Reizübertragung – an mehrere tausend weitere Zellen übertragen. Sind so miteinander verbundene Zellen gleichzeitig wiederholt aktiv, gelingt der Informationsaustausch an den Synapsen immer besser und es entsteht ein leicht zu aktivierender Zellverbund, ein so genanntes Assembly. Solche Netzwerke von Zellen entstehen durch optisch, akustisch oder haptisch dargebotene Informationen, umfassen mehrere Areale im Gehirn und können später gemeinsam aktiviert werden. Beim Anblick eines Buchstabens, einer Ziffer, dem Hören eines Lautes, dem handelnden Umgang mit Gegenständen oder dem Bilden und Abzählen von Mengen werden jeweils bestimmte Zellverbünde aktiviert und erweitert. So stoßen beim Anblick eines bestimmten Graphems immer wieder eine Reihe von bestimmten Neuronen eine spezifische Menge von Übertragungsstoffen an Synapsen aus, die dann beispielsweise Neuronen aktivieren, die Informationen über den Klang des mit dem Graphem verknüpften Phonems frei geben. Der Anblick eines Tieres aktiviert z. B. Zellverbünde, die im Erleben von dem betreffenden Tier, aber auch von Tieren überhaupt, entstanden, und bietet Anknüpfungspunkte für deklaratives und prozedurales Wissen über Tiere. Je öfter ein solches Assembly aktiviert wird, desto genauer und kräftiger ist es ausgebildet und desto leichter ist es, es erneut zu aktivieren. Damit ein neuer Lerninhalt – ein neuer Buchstabe, ein Begriff, eine Zahl, eine sachkundliche Information – nachhaltig gelernt wird und schnell präsent ist, muss er mehrmals ein Netzwerk von Neuronen durchlaufen, denn Kontakte zwischen Neuronen, die selten gemeinsam aktiv sind, bilden sich wieder zurück (Edelmann, 2000, S. 16; Spitzer, 2009). „Entscheidend für absichtsvolles Lernen ist daher, dass ein Inhalt mehrmals gleiche, regelhafte Erregungsmuster hervorruft. Erst dadurch eröffnet sich die Chance, dass die notwendigen Synapsenverbindungen hergestellt werden. Im Alltag wird das entweder durch die Unterrichtsmethodik (ein Lehrer sorgt z. B. durch wiederholtes Üben für die Konsolidierung des Lernstoffs) oder durch selbstgesteuertes Lernen erreicht (ein Schüler wiederholt z.B. von sich aus neu zu lernende Vokabeln). Lernen setzt demzufolge eine ‚regelhafte Informationszufuhr‘ voraus, die wiederum regelhafte Abspeicherungen und dadurch einen sichtbaren Lerngewinn entstehen lässt“ (Lauth, Brunstein & Grünke, 2004, S. 16).

Eng verknüpft mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über Lernen sind Modelle der Kognitions- und Gedächtnispsychologie. Aus dem Blickwinkel dieses Wissenschaftsgebiets beschreiben die Begriffe Lernen und Gedächtnisprozesse „zwei Seiten einer Medaille“. Mit Lernen sind schwerpunktmäßig die Prozesse der Aneignung, also der aktiven Auseinandersetzung mit Informationen gemeint. Gedächtnisprozesse betreffen hingegen die Vorgänge der Speicherung und des Abrufs. Menschliche Informationsverarbeitung ist eine andere Bezeichnung für Lernen und damit verbundene Gedächtnisleistungen (Edelmann, 2000, S. 277).

Der Prozess des Lernens und der Speicherung von Informationen, die Informationsverarbeitung, wird kognitionspsychologisch mit dem Drei-Speicher-Modell (Atkinson & Schiffrin, 1968) erklärt:

  1. Ein Reiz bzw. eine Information wird im sensorischen Register (synonym: Ultrakurzzeitgedächtnis, sensorisches Gedächtnis)...
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