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E-Book

Franz im Glück

Meine Wanderjahre auf der Walz

AutorFranz Zschornack
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783732506064
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Das Bündel ist geschnürt, die Kluft angelegt und das Abenteuer kann beginnen: Der Schlossergeselle Franz Zschornack folgt der Tradition und geht auf Wanderschaft. Drei Jahre lebt er nach den strengen Regeln der Walz und nicht einmal an Weihnachten darf er nach Hause. 11.000 Kilometer legt er auf seiner Reise zurück und lernt nicht nur, sein Handwerk zu verbessern, sondern erfährt, was wirklich wichtig ist im Leben und dass Nächstenliebe, Ehrlichkeit und Zusammenhalt auch heute noch unverzichtbare Werte sind.

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Leseprobe

PROLOG:
Warum mache ich das bloß?

Es war der Tag der Heiligen Drei Könige, ein Mittwoch Anfang Januar 2010, an dem ich München verließ. Die Tage zuvor hatte ich mit einem anderen Wandergesellen die Stadt erkundet, und davor hatte ich in Oberschwaben Silvester gefeiert, in der gemütlichen Stadt Ravensburg. Es war mein erster Jahreswechsel, den ich nicht zu Hause in der Oberlausitz verbrachte. Ich hatte mir vorgenommen, nicht zu viel an zu Hause zu denken, aber meine Gedanken schweiften viel zu oft in das sorbische Dörfchen Crostwitz, wo meine Familie lebt. Ich war erst seit sieben Wochen als Wandergeselle auf der Walz, am 21. November 2009 war ich in Erfurt losgetippelt, neugierig darauf, die Welt kennenzulernen. Aber ich war einer der Tippelbrüder, die sich nur langsam an das Leben auf der Straße gewöhnten. Ich war kein Schnellstarter: In die Fettnäpfchen, die entlang meines Weges standen, tappte ich auch hinein. Um eines von vornherein klarzustellen: Tippeln, das hat nichts mit Wermutbrüdern und Schnapsleichen zu tun, wie es viele denken. Tippeln, das bedeutet in der Sprache der Wandergesellen zu reisen und zu arbeiten, so wie es unsere Tradition seit dem späten Mittelalter vorsieht.

Von München hatte ich bis dahin nur gehört, ich kannte Deutschland nur von der Landkarte. Ich war im hintersten Zipfel der ehemaligen DDR aufgewachsen und hatte meine engere Umgebung nur selten verlassen. Durch das Land zu reisen, das kannte ich nicht, bis ich mich auf die Wanderschaft begab. München war auf meiner Landkarte als einer der größeren Punkte eingezeichnet: eine Stadt, die ich mir bunt, lebendig und gastfreundlich ausgemalt hatte. Aber München ist ein schwieriges Pflaster für uns Tippelbrüder. Gerade in Großstädten werden wir oft schief angeschaut wegen unserer Kluft, als ob wir nicht mehr in die moderne Zeit passen würden. Ab und zu wurden wir in München auch von der Polizei und Schwarzen Sheriffs kontrolliert, wie die Obdachlosen, die man möglichst von der Innenstadt fernhalten wollte. Dabei sind wir ehrbare Handwerker auf Wanderschaft. Meine Vorstellungen von München waren strahlender und freundlicher als das, was ich vorfand. Ich jedenfalls wurde mit dieser Stadt nicht richtig warm, ich wollte weiter, per Anhalter in Richtung Stuttgart.

Nur langsam wachte München auf am Dreikönigstag, einem katholischen Feiertag in Süddeutschland, an dem die Geschäfte geschlossen bleiben. Die Straßen wirkten ausgestorben, die grauen Beton- und Stahlfronten bildeten eine eisige Kulisse, in der sich kaum Bewegung und Leben regte. Ich ging einige Straßenzüge entlang und hielt Ausschau nach den blauen Verkehrsschildern, die zu den Autobahnen führten. Ein Stück weit ließ ich mich von der Straßenbahn mitnehmen, ohne ein Ticket zu lösen. Wir Wandergesellen bezahlen nicht für öffentliche Verkehrsmittel. Das ist eine unserer Regeln, die auf der Walz gelten: Wir sparen unser Geld für Notfälle und Reisen in ferne Länder. Viele Kontrolleure akzeptieren das und lassen uns ohne Fahrschein mitfahren, wenn wir uns mit dem Wanderbuch ausweisen können, in dem die Stationen und Arbeitsplätze auf der Walz festgehalten werden.

In München kam ich nur langsam voran. Es dauerte, bis sich das Straßengeflecht der Großstadt entwirrte und ich einen geeigneten Platz zum Trampen fand. In Karlsfeld stellte ich mich an die Straße, vor mir lag die A8, die von München nach Karlsruhe führte. Hastig rauchte ich noch eine Selbstgedrehte und hielt dabei den Daumen raus. Ich trug die Kluft der Wandergesellen: graues Jackett, darunter ein weißes Hemd mit Weste, schwarze Schlaghosen aus schwerem Doppelpilot, einem festen Baumwollstoff. Auf meinem Kopf saß ein schwarzer Zylinder. Darunter verbarg ich meine langen Haare. Um den Hals trug ich einen kleinen schwarzen Schlips mit unserem Handwerkszeichen. Das ist unsere sogenannte Ehrbarkeit, das Heiligste, was ein Wandergeselle besitzt. Alles, was ich an Gepäck bei mir hatte, war ein kleines geschnürtes Bündel mit einem Schlafsack, sauberer Unterwäsche, Arbeitsklamotten und ein wenig Werkzeug, das ein Schlosser braucht: Zollstock, Anreißnadel, Messwerkzeuge. Meinen Stenz (so heißt der Wanderstock, den wir nur zum Schlafen weglegen) hielt ich in der linken Hand. Mehr brauchte ich nicht auf meiner Tippelei, die mich drei Jahre durch Deutschland und in die weite Welt bringen sollte.

Der Winter hatte die Landschaft neben der Autobahn weiß gefärbt, es war kalt, mein Atem malte immer neue und wirre Muster in die klare Luft, wie ein Künstler, der die Kontrolle über seinen Pinsel verloren hat. Ich reiste ohne großen Plan, ich überließ es meinen Gedanken, immer wieder ein neues Ziel auszuwürfeln. Das nächste hieß Stuttgart; dort wollte ich Marcel besuchen, einen Freund, den ich noch aus Crostwitz kannte. Das Land war schläfrig, noch nicht richtig im neuen Jahr angekommen. Auto nach Auto ließ mich stehen, die Fahrer starrten an mir vorbei, als sei ich eine Fata Morgana, eine Erscheinung in Schwarz. Wie ich wohl auf jemanden wirkte, der unsere Tradition nicht kannte – am Straßenrand stehend, mit dem Stenz in der Hand und dem Zylinder auf dem Kopf? Wie eine Comicfigur, der es gelungen war, in das reale Leben einzudringen? Der Nachmittag war angebrochen, die Sonne begann schon abzutauchen. Mit der einsetzenden Dämmerung stiegen auch Ängste in mir hoch: Wie weit würde ich heute noch kommen? Wo würde ich die kalte Winternacht verbringen? Es dauerte, bis ein Wagen hielt. Der Fahrer war guter Dinge, er versprach, mich bis zum Rastplatz Augsburg mitzunehmen. Augsburg? Warum nicht, Hauptsache weg, die Geschwindigkeit spüren und das Gefühl, vorwärtszukommen in diesem unterkühlten Land, das so wenig Ähnlichkeit aufwies mit dem bunten und fröhlichen Landkarten-Deutschland meiner Fantasie. Schneematsch spritzte auf die Scheiben, auf dem Beifahrersitz erzählte ich von der Walz und versuchte dabei möglichst gelassen zu wirken. Es klang, als hätte ich schon einiges erlebt. Dabei war ich noch ein Anfänger auf der Straße, der sich nach der weiten Welt sehnte und dabei noch nicht einmal wusste, wie er die kurzen Distanzen überbrücken konnte: Erst wenige Male war ich alleine getrampt, und ich fühlte mich dabei überhaupt nicht sicher und behaglich. Mein Magen grummelte nervös, als ob er ahnte, was dieser Tag noch an Abenteuern für mich bereithielt.

Um das Leben auf der Straße zu lernen, bekamen wir in den ersten Wochen einen erfahrenen Wandergesellen zur Seite gestellt, der uns Kameraden-weniger-lang-unterwegs unterwies. Der Leu, ein Schlosser- und Schmiedegeselle aus Frankfurt an der Oder, hatte mich auf die Straße gebracht. Eigentlich hieß er Sebastian Leu, aber er wurde von den Wandergesellen nur der Leu gerufen. Beim Leu waren die Tage streng organisiert: Morgens um sechs hieß es: »Aufstehen, fechten gehen«, und oft hörte ich ihn meckern: »Rauch nicht so lange, Franz, mach mal schneller, Franz.« Der Leu war klein und kräftig gebaut, kaum größer als 1 Meter 65, aber mit Muskeln bepackt wie ein Preisboxer. Unter den Wandergesellen genoss er großen Respekt: Der Leu wusste, wie man sich auf der Straße behauptete, wie man beim Bäcker und beim Fleischer etwas zu beißen bekam, ohne dafür bezahlen zu müssen. Mit seinem breitbeinigen Auftreten bekam er einfach, was er wollte: Wenn er Appetit auf ein Stück Torte hatte, dann dauerte es nicht lange, bis es vor ihm stand. An seiner Seite fühlte ich mich sicher und beschützt, er war wie ein großer Bruder für mich, der für jedes Problem eine Lösung fand. Manchmal zwang mich der Leu, über meinen Schatten zu springen: Das sei notwendig, behauptete er, ich sei viel zu ruhig und zu zurückhaltend für die Walz. Viel zu sehr Träumer für diese raue Welt. Aber darüber machte ich mir keine großen Gedanken, solange ich an seiner Seite ging.

Das Leben auf der Walz war ganz schön aufregend für mich. Manchmal saßen wir abends in großer Runde zusammen und die erfahrenen Wandergesellen erzählten von ihren Abenteuern auf der Straße. Je länger der Abend wurde, umso gewaltiger wurden dabei ihre Taten. Aber als das Jahr langsam zu Ende ging, machte der Leu mir in seiner knappen Art deutlich, dass ich nun alleine zurechtkommen müsste. Ganz sicher schien er sich allerdings nicht zu sein, dass ich das schaffen würde, als er sich verabschiedete.

Jetzt war ich zum ersten Mal ganz allein unterwegs und versuchte mir Mut zu machen auf dem Weg nach Augsburg: Wird schon, Franz, das wird schon. Eine undurchdringliche Nebeldecke lag über der Autobahn und dem Rastplatz Augsburg. Auf dem Parkplatz eilte ich zwischen Autos hin und her und sprach jeden an, ob man mich nach Stuttgart mitnehmen könnte. Einer fuhr nach Ulm. Ich war nicht sonderlich scharf darauf, Ulm kennenzulernen. Ulm brummt nicht, hatte ich von anderen Wandergesellen gehört, was so viel bedeutete wie: Mach besser einen Bogen um diese Stadt. Es sei schwer, dort zurechtzukommen und einen Schlafplatz zu finden. Aber an diesem Nachmittag kam ich nicht mehr weiter, Stuttgart war noch zu weit entfernt.

Also nach Ulm. Es war schon dunkel, als ich am Hauptbahnhof ausstieg. Im diffusen Dämmerlicht der Straßenlampen versuchte ich mich zu orientieren. Das Ulmer Münster schälte sich aus dem finsteren Grau heraus, es hing wie ein riesiges Ausrufezeichen über der Stadt, das zur Vorsicht mahnte. Weit und breit war kein anderer Wandergeselle zu sehen. Wir haben in jeder Stadt unsere Treffpunkte. In bestimmten Kneipen kamen Wandergesellen zusammen, am Tresen saßen dann auch ehemalige Tippelbrüder, die sich nach der Walz als Handwerker niedergelassen hatten. In solchen Runden war es leicht,...

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