PROLOG
Im Schlund der Politik
In einem sind sich viele seiner Freunde und die meisten Feinde von Franz Josef Strauß einig: Sie halten ihn bei allen Entscheidungen von weitreichender Bedeutung für einen Zauderer – für einen, der das Risiko scheut. Bleibt er in Bonn, geht er nach München? Wird er mit letztem Einsatz darum kämpfen, Kanzlerkandidat zu werden, oder überlässt er anderen das Feld? Lang ist die Liste der Themen und Anlässe, bei denen die Zeitgenossen diesen Mann, der um ein schnelles Wort und eine deutliche Sprache im Grunde nie verlegen ist, als unentschlossen und wankelmütig wahrnehmen.
Die wichtigste Entscheidung seines Lebens will sich in dieses Bild nicht fügen. An Rosenmontag 1957, bei einem Faschingsball in München, lernt er Marianne Zwicknagl näher kennen, bereits an Ostern feiern sie Verlobung, wenige Wochen später, am 4. Juni, dem Dienstag vor Pfingsten, folgt die Vermählung. Die Medien haben keinen Schimmer, selbst Der Spiegel, der in der Woche vor Ostern noch ein großes Interview mit dem Verteidigungsminister geführt hat, tappt im Dunkeln. Da Adenauer urplötzlich grundsätzliche Bedenken hat, kommt es zwischen Strauß und Augstein zu einem Gezerre um den Veröffentlichungstermin. In seiner Not – das Titelblatt ist bereits gedruckt – versucht der Spiegel-Chef direkten Kontakt mit Strauß aufzunehmen, doch der ist mit seiner Braut und den zukünftigen Schwiegereltern auf Verlobungsreise. »Es tut mir leid, daß ich den heiteren Himmel dieser für Sie so erfreulichen und glücklichen Tage trüben muß«, entschuldigt Augstein sich ganz artig, um die Rettung des Interviews bemüht, in einem langen Telegramm nach Rom: »Der Spiegel ist wieder einmal von einem wichtigen Ereignis völlig ahnungslos überrascht worden.«1
Kaum anders ergeht es den vielen politischen Freunden und Wegbegleitern, die sich durchaus für das stürmische Privatleben des demnächst zweiundvierzigjährigen Ministers interessieren. Für sie ist die bevorstehende Heirat eine eher beruhigende Nachricht. Vorbei ist dann wohl das Junggesellendasein, das den christlichen Politikern alter Prägung moralisch zweifelhaft erscheint, zumal der nachgeholte studentische Übermut des Ministers so gar nicht zu der Würde seines Amtes passen will: nicht die Nächte in den harmlosen Vergnügungslokalen der fünfziger Jahre, schon gar nicht jene Besuche zu später Stunde bei Damenbekanntschaften, für die der Herr Minister über Zäune kraxeln, durch Flur und Treppenhaus schleichen muss, um unbemerkt zu bleiben, während vor dem Haus der Begehrten – wie unauffällig – die Dienstlimousine mit laufendem Motor wartet.2
Doch nein, Strauß hat es nicht eilig, die auch für seine Parteifreunde und Kabinettskollegen erfreuliche Kunde seiner Vermählung zu verbreiten. Dem Bundeskanzler, den er um Urlaub ersuchen muss, schreibt er, dass er sich »einige Tage (…) in Erholung begeben« wolle und die Absicht habe, »die Kartage und die Osterfeiertage privat in Rom zu verbringen, wie ich es auch die letzten Jahre getan habe.«3 Kein Wort von der bevorstehenden Verlobung. Woher diese Schweigsamkeit? Marianne Zwicknagl ist wahrlich keine Braut, die man verstecken müsste: hübsch, gebildet, aus gutem Haus; der Brauereibesitzer Max Zwicknagl, ihr Vater, den Strauß im Frankfurter Wirtschaftsparlament kennen und schätzen gelernt hat, zählt in der CSU zu den Honoratioren der angenehmeren Art. Auch in Bonn hat sein Name einen guten Klang.
Aber das Schweigen – merkwürdig bei einem, der stets im Rufe stehen wird, zu viel zu sagen – ist leicht zu erklären. Es soll das letzte Reservat von Privatheit einer durch und durch öffentlichen Existenz schützen. Mit den Jahren werden die Räume für Nichtöffentliches immer kleiner – umso wichtiger ist es für Strauß, dass sie nach anderen Regeln funktionieren. Gewiss, auch der Privatmann Strauß sieht es nicht ungern, für sein Politikerdasein bewundert zu werden, aber dessen andere Seite – der ständige Kampf, die vielen Zweifel an ihm – soll niemals in die Privatheit eindringen. Wer mit Strauß als Freund zu tun hat und ihm dieses Maß an Ruhe nicht gönnt, von dem wendet er sich ab.
Für die Ehe gilt das noch viel mehr. Lange hat er sich danach gesehnt, Ausschau gehalten nach dem Glück seines Lebens, einem Ruhepunkt, einer Gemeinschaft, in der er sich – anders als in der Politik – nicht ständig beweisen muss. In Zeiten, da Vermählungen hochpolitische Angelegenheiten waren, wäre Strauß wohl nicht zurechtgekommen. Für die immer wieder anklingende Nachrede, die Hochzeit mit Marianne Zwicknagl habe auch politischen oder wirtschaftlichen Zwecken gedient, gibt es keine Anhaltspunkte. Denn als Strauß vor den Traualtar tritt, ist er schon viel zu lange ein Mann aus eigenem Recht – von Rang und Gewicht gehört er zweifellos zu den ersten in Staat und Gesellschaft –, als dass er darauf angewiesen wäre, in die bayerische Honoratiorenfamilie Zwicknagl einzuheiraten, um so seinen rasanten sozialen Aufstieg aus kleinen bürgerlichen Verhältnissen abzurunden.
Auch wenn am Tag der Hochzeit die Gier der Illustrierten nach schönen Bildern groß ist, einige der besten Reporter zum Ereignis eilen und eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit das Fest begleitet, sollte für Strauß eigentlich nichts anderes gelten als für jedermann: Dieser Tag sollte der privateste aller privaten Tage in seinem Leben sein. Doch diese Privatheit ist ihm nicht vergönnt. »Demokratisch heißt jedermanns Sklave sein dürfen«,4 so schrieb Karl Kraus, und bräuchte man einen Beweis für den Wahrheitsgehalt dieser sarkastischen Bemerkung: Die Hochzeit von Franz Josef Strauß bietet ihn.
Die Bedürfnisse der sich im Wirtschaftswunderland auf voyeuristische Vergnügungen einstellenden Öffentlichkeit sind dabei noch der geringere Teil, mag sich die Braut auch berechtigte Sorgen machen, dass ihre »Hochzeit zu einem Rummel ausarten könnte, wie es bei der armen Maria Schell der Fall war«.5 Vergleichsweise harmlos sind auch die politischen Rücksichtnahmen, die bei der Erstellung der Gästeliste zu bedenken sind: Am besten bittet man das ganze Kabinett und verstreut großflächig Einladungen über die Führungsriegen der Unionsparteien und der Bundestagsfraktion, den Verteidigungsausschuss nicht zu vergessen! Allerdings muss sich kaum einer genötigt sehen, der Trauung auch gegen die Stimme des eigenen Herzens beizuwohnen. Denn alles geht ja ein wenig plötzlich. Wem dies noch nicht Vorwand genug ist, sich kurzfristig indisponibel zu erklären – Strauß ist anerkannt, gewiss, und seine Gaben werden allenthalben bewundert, aber die persönliche Verbundenheit mit den Bonner Kollegen reicht kaum über Parteifreundschaften hinaus, nein, richtig mögen tun ihn hier die wenigsten –, dem kommt schließlich die Politik zustatten: Keine zwei Wochen vor dem Termin muss noch einmal alles umgestoßen werden – »aus dienstlichen Gründen«, wie Strauß am 19. Mai bekanntgibt, da er zur nämlichen Zeit überraschend nach Italien und England zu politischen Konsultationen reisen muss.6
Wird der Kanzler kommen? Eigentlich will er nicht. Zu viel der Ehre für jenen ungestümen Mann, der es mit seiner eigenwilligen und oft respektlosen Art immer wieder versteht, Adenauer die Freude an dieser zweifellos großen politischen Begabung zu vergällen. Gerade in den Wochen vor der Hochzeit ist die Stimmung zwischen beiden eingetrübt. Denn natürlich bleibt es dem greisen Kanzler mit dem wachen Sinn für jeden Angriff auf seine Autorität nicht verborgen, dass Strauß, bei aller aufrichtigen Ergebenheit, doch zunehmend daran zweifelt, ob der alte Herr noch auf der Höhe der Zeit ist. Argen Tand hat Adenauer gerade erst zu Fragen der Atombewaffnung zum Besten gegeben. Der Auseinandersetzung mit jenen achtzehn Professoren – die Nobelpreisträger Max von Laue, Werner Heisenberg, Otto Hahn und Max Born zählen zu dieser Gruppe –, die sich seit dem Frühjahr unter großer öffentlicher Anteilnahme mit der nuklearen Strategie des Bündnisses und deren Risiken für Deutschland befassen und eine überaus kritische »Göttinger Erklärung« unterschrieben haben, ist Adenauer intellektuell nicht gewachsen. Zudem ist gerade eine Diskussion darüber im Gang, »wer außer Ihnen nach den Wahlen 1957 Bundeskanzler werden könne«, wie Strauß – sein eigener Name taucht in diesem Zusammenhang nun immer häufiger auf – an Adenauer schreibt.7 Vorsorglich sagt der Kanzler also erst einmal ab, der vielen Termine wegen.8 Dessen enger Vertrauter und Vorsitzender der Unionsfraktion Heinrich Krone, der Strauß recht skeptisch gegenübersteht und dem die Feierlichkeiten ohnehin etwas zu aufwendig geraten sind, berät den Kanzler in diesem Sinne.
Am Ende ist Adenauer schlau genug zu erkennen, dass er eben nicht nur eine glanzvolle Staffage für das Fest abgibt – er geleitet die Brautmutter in die Kirche –, sondern durch schlichte Präsenz die Szene schon beherrschen wird. »Franz Josef Strauß heiratet«, notiert Krone, der selbstverständlich nicht zugegen ist, am Tag der Vermählung in sein Tagebuch: »Der Münchner Kardinal traut. Vier Minister und der Bundeskanzler sind unter den Gästen. Höher geht es nimmer, es fehlt nur noch ein Legat des Papstes. Ich hatte dem Kanzler geraten, nicht nach Rott am Inn zu gehen, obwohl er an diesem Tage in Passau war. Der alte Herr war aber klüger als ich.«9
Auch mit der Wahl seines Trauzeugen lässt...