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Franz Kafkas 'Der Fahrgast' und 'Kleider'. Versuch einer Interpretation

AutorGerd Berner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl38 Seiten
ISBN9783656907121
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wissenschaftlicher Aufsatz aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, , Veranstaltung: Deutsch Leistungskurs (gymnasiale Oberstufe), Sprache: Deutsch, Abstract: Die beiden Prosaskizzen 'Der Fahrgast' und 'Kleider' entstammen dem Band 'Betrachtung', der ersten Buchveröffentlichung Kafkas. Der Begriff 'Betrachtung' meint sowohl die optische Wahrnehmung von Außenwelt als auch Reflexion und kontemplative Verinnerlichung des Betrachteten. Beide Texte sind keine Erzählungen, sondern monologische Gedankenreden. Das betrachtende Subjekt in beiden Texten ist ein einsames, verunsichertes, männliches Ich, das von einer exzentrischen Position aus seinen Blick auf die Welt richtet. Beide sich von der äußeren Wirklichkeit distanzierende Ichs verfügen über einen besonderen Blick, der das/ die angeschaute[n] Mädchen 'atomisiert, indem er den Eindruck eines ganzen Menschen in Bruchstücke zerlegt' (P.-A. Alt). Im 'Fahrgast'-Text greift ein zugleich erzähltes und erzählendes Ich ein junges Mädchen vor dem Aussteigen aus der Straßenbahn derart mit Blicken ab, nach Alt 'mit sezierender Genauigkeit', dass der Ich-Sprecher sagen kann: 'Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte.' Den Prosatext 'Kleider' hat Kafka der 'Beschreibung eines Kampfes' entnommen. Hier will der mit seinem Bekannten auf dem Laurenziberg spazierengehende Ich-Erzähler seinem Begleiter die unter der Oberfläche jugendlicher Schönheit lauernde zukünftige Hinfälligkeit einer alternden Frau verdeutlichen. In unserem, nur drei Sätze umfassenden 'Kleider'-Text betrachtet ein namenloses Ich schöne Kleider und denkt über deren Alterung nach. Durch eine Verlagerung des Betrachtersubjekts in die Träger der schönen Kleider, die nur durch deren Schönheit schön gewordenen Mädchen, gelingt es dem auch hier das barocke Vanitas-Motiv thematisierenden Ich, dass den am Abend sich im Spiegel betrachtenden Mädchen mitunter auch ihr Gesicht als nicht mehr tragbar erscheint, weil es, wie die Kleider, zu oft getragen und durch die bewundernden Blicke der Männer 'abgenützt' sei. Das sprechende Ich lässt durch die Affinität der Kleider- und Körpermaske so klammheimlich den Eindruck entstehen, die Schönheit der Mädchen besitze die gleiche Eigenschaft wie die Schönheit der Kleider, beide bekämen Falten und setzten Staub an, ergo: blieben nicht lange so erhalten. Das auf die Mädchen zielende Nomen 'Maskenanzug' evoziert die Vorstellung, die Mädchen zögen ihr 'Gesicht' wie ein schönes 'Kleid' früh an und abends aus..

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Leseprobe

6. Interpretation des Textes Kleider


 

6.1 deren Einbettung und Funktion in der Beschreibung eines Kampfes


 

 Der Prosatext Kleider stammt aus [Abschnitt] III der Beschreibung eines Kampfes. In diesem Abschnitt wird die Ausgangslage des gemeinsamen, nächtlichen Spazier-ganges auf den Laurenziberg wieder hergestellt, trotz der separaten Belustigungen des Ich-Erzählers in [Abschnitt] II. Der Narrator aus [Abschnitt] II 4, der dem Unter-gang des Dicken zugesehen hat, tritt auch im letzten Teil der Beschreibung auf, allerdings lässt Kafka nicht ihn, sondern am Anfang nur den Bekannten zu Wort kommen. Der ist nach seiner Knieverletzung am Ende von [Abschnitt] II 1: Ritt ver-wundet liegen geblieben und den Geiern überlassen worden, zum Bewachen oder, was auch denkbar ist, zum Fraß. Der mit dem in Kauf genommenen Tod des Be-kannten endende Ritt hat sich aber, wie die folgende Binnengeschichte, nur in der Phantasie des weiterhin mit seinem Bekannten auf dem Laurenziberg spazieren gehenden Ichs abgespielt. Durch den „Rückzug“ des Ich-Erzählers „in das eigene Selbst“[89] weiß der Bekannte nicht, was sich in [Abschnitt] II 2, 3 und 4 ereignet hat. Vor allem kann er nicht ahnen, welche Rolle er während des „Ritts“ gespielt hat, und somit ganz unbefangen sein Gespräch mit dem Narrator fortsetzen. Als er sich schließlich auf eine Bank am Gärtnerhaus gesetzt hat, gesteht er dem Ich-Erzähler: „Ich war noch niemals wirklich verliebt gewesen.“ Der scheint nicht zu bemerken, dass der Bekannte schon im übernächsten Satz das Gegenteil behauptet:

 

 „Jetzt nun muss ich sagen: Ja, ich bin verliebt und wohl aufgeregt vor Verliebtheit. Ich bin ein Liebhaber von Glut, wie ihn die Mädchen sich wünschen.“[90]

 

 Der Ich-Erzähler überhört den Widerspruch geflissentlich und erwidert „teilnahms-los, und nur an [sich] denkend: „Ihre Geliebte ist doch schön, wie ich hören musste.“ Der Bekannte bestätigt diese Feststellung, fährt dann aber, seine eigene Einschät-zung desillusionierend, fort:

 

 „Aber wenn sie lacht, zeigt sie ihre Zähne nicht, wie man doch erwarten sollte, sondern man kann bloß die dunkle, schmale gebogene Mundöffnung sehen. Das nun schaut listig und greisenhaft aus, wenn sie beim Lachen den Kopf nach rückwärts beugt.“

 

 Das ist schlicht die Vorwegnahme des von Senilität oder Morbidität bedrohten Aus-sehens seiner Geliebten im Alter.

 

 Als habe ihm die unter der Oberfläche jugendlicher Schönheit lauernde zukünftige Hinfälligkeit einer Alternden das Stichwort geliefert, greift der Ich-Erzähler die negativ empfundene Vergänglichkeit der Schönheit auf. Was er da sagt, klingt für den Ger-manisten fast wie eine Neuauflage von Andreas Gryphius‘ Gedicht Es ist alles eitel (1643). Der Narrator konkretisiert den Vanitas-Gedanken zunächst an der auch dem „Spiel der Zeit“[91] unterworfenen „Mädchenschönheit überhaupt“, dann folgt der Klei-der-Text.

 

 Neymeyr weist im Kontext der „Imagination des Gesichts als Maske“[92] natürlich auf zwei diesbezügliche Stellen hin: „Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eigenes Gesicht ist!“ - Also sprach Zarathustra, und nach Schopenhauer ist „unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade!“[93]

 

 Auf jeden Fall wird der Begleiter durch die Worte des Ich-Erzählers in seiner Be-fürchtung über die der jugendlichen Vitalität im Alter folgende Hinfälligkeit bestärkt, und er fragt daraufhin den Narrator: „Sagen Sie, haben Sie etwas Böses vor? Warum trösten Sie mich nicht?“ Er offenbart nun dem Ich-Erzähler seine inneren Ängste bezüglich seiner Liebesbeziehung, er scheint zutiefst irritiert zu sein, seine Skepsis lässt ihn an eine Flucht in den Alkohol denken. Der Narrator reagiert aber auf den „höchste Befürchtungen für [sich]“ hegenden Bekannten eher mitleidlos:

 

 „Mir war sehr kalt und schon neigte sich der Himmel ein wenig in weißlicher Farbe: „Da wird keine Schandtat helfen, keine Untreue oder Abreise in ein entferntes Land. Sie werden sich morden müssen“, sagte ich und lächelte außerdem.“[94]

 

 Mit diesem mörderischen Ansinnen des Ich-Erzählers der Beschreibung eines Kampfes beende ich den Rückblick auf die ursprüngliche Einbettung der Kleider und ihre den Bekannten abschreckende Funktion in der Beschreibung.

 

6.2 formale und inhaltliche Analyse des Textes Kleider


 

 Der kurze Prosatext Kleider besteht aus nur drei Sätzen. Deren erster beginnt mit „oft wenn“, die temporale Konjunktion ‚wenn‘ wird durch das ihr attribuierte Temporal-adverb ‚oft‘ verstärkt. Es spricht ein namenloses Ich, dessen einzige Tätigkeit darin besteht, etwas zu ‚sehen‘ und zugleich über das Geschaute zu reflektieren. Im ersten Satz ist der Blick des Ichs auf kostbare Kleider gerichtet. Deren Erlesenheit ist er-schließbar aus dem dem Akkusativobjekt ‚Kleider‘ attribuierten Präpositionalaus-druck „mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen“. Die Kostbarkeit wird zudem verstärkt durch den Hinweis auf die Träger dieser Gewänder, die schönen Körper der Frauen bzw. der Mädchen. Auf diesen mehr das Äußere beschreibenden temporalen Gliedsatz folgt der erste Hauptsatz „dann denke ich“, dem zwei mit ‚dass‘ eingeleitete Inhaltssätze untergeordnet sind. Der erste Gliedsatz hat einen futurischen Sinn: den schönen „Falten, Rüschen und Behängen“ ist keine Dauer beschert, sie werden „nicht lange so erhalten bleiben“. Den Gegensatz zu dem „so“ schönen Aussehen der Kleider offenbart der folgende, ohne Konjunktion und ohne Subjekt (= elliptischer Satzbau) mit „sondern“ anschließende (fortgesetzte) Inhaltssatz: sie werden nicht mehr wegzubügelnde „Falten bekommen“, ebenso wird sich „Staub“ auf sie legen. Diesem zweiten Akkusativobjekt ‚Staub‘ ist ein Relativsatz attribuiert; der „Staub“ wird „dick in der Verzierung“ liegen und wird sich nicht „mehr [...] entfernen“ lassen. Diese in den ersten Inhaltssätzen vom Ich wie mit einem erfahrenen Hausfrauenblick gesehenen Alterungsprozesse werden dem Akkusativobjekt des ersten Temporal-satzes, den ‚Kleider[n]‘ prognostiziert. Das Subjekt ‚sie‘ der Inhaltssätze bezieht sich (noch) auf die „Kleider“. Allerdings könnte man beim ersten, schnellen Lesen das „sie [werden] nicht lange so erhalten bleiben“ rein grammatisch auch auf das zuvor genannte Nomen ‚Körper‘ beziehen. Dann läse man: die weibliche Schönheit werde „nicht lange so erhalten bleiben“, d. h. sie wird dann nur noch schön gewesen sein. Das Futur II ließe so das barocke „Memento mori“, das Vergänglichkeitsmotiv, un-terschwellig schon anklingen.

 

 Das beobachtende Ich führt seinen Denkvorgang aber noch fort. Der Ich-Erzähler sagt in dem langen Inhaltssatz noch einmal: [ich denke], „dass niemand so traurig und lächerlich sich wird machen wollen, täglich das gleiche kostbare Kleid früh an-zulegen und abends auszuziehn.“ Mit diesem Inhaltssatz vollzieht der Betrachtende einen Wechsel seiner Blickrichtung. Bis dahin hat er die Kleider fokussiert, jetzt richtet er seinen Blick auf die Person, die sie trägt. „Niemand“, schlussfolgert das Ich als Ergebnis seines betrachtenden Denkens, werde sich dadurch dem Gespött preis-geben (das meint ‚sich lächerlich machen‘), dass er/ sie so etwas Schönes wie ein „kostbare[s] Kleid“ tagtäglich trägt, d. h. morgens an- und abends wieder auszieht. Im Text stehen zwei erweiterte Infinitive, die habe ich bei gleichem Sinn durch einen In-strumentalsatz ersetzt. Der nennt das Mittel (das tägliche Tragen), durch das der im dass-Satz (Inhaltssatz) genannte Sachverhalt der Blamage eintritt.

 

 Vom Gedankengang her, die Kleider würden unansehnlich, hätte das reflektierende Ich auch die rhetorische Frage stellen können, ob jemand so töricht im Umgang mit schönen, kostbaren Kleidern sein könne. Doch das Ich sagt nur, fast suggestiv, das könne „niemand ... wollen“.

 

 Bei den Kleidern des ersten Satzes fällt auf, dass sie sich „schön“ „über schöne Körper“ legen. Es sind daher nicht schöne Kleider, das ‚schön‘ taucht also nicht als Adjektivattribut auf, sondern als Adverbialbestimmung: die zum Subjekt gewordenen ‚Kleider‘ legen sich (= Anthropomorphisierung) „schön“ (das Adjektiv ‚schön‘ wird syntaktisch zur Umstandsbestimmung) „über schönen Körper“. Der Grammatiker hätte sich an dieser Stelle ‚über einen schönen Körper‘ oder ‚schöne Körper‘ ge-wünscht.

 

 S. v. Glinski geht auf die grammatische Spitzfindigkeit nicht ein, sondern bemerkt dazu: „Sie werden schön, indem sie sich dem Körper mimetisch angleichen.“ Sie sieht in dieser nachahmenden Annäherung bereits die „Vorstellung von zwei Häuten, von (Kleider-)Haut über nackter Haut“,...

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