1 Die Straße nach Pakistan
Bells sind klein, aber bei einem Beizvogel von großer Bedeutung. Ein guter Beizvogel tötet auf ungeheure Entfernungen und kröpft in der Deckung, lautlos, perfekt getarnt und beinahe unsichtbar. Stößt der Falkner schließlich dazu, ist das hohe Klingeln der Bell oft der letzte Rettungsanker, der das Wiederauffinden vom Verlust des Vogels trennt.
Früher, viel früher, haben die Falkner ihre gesamte Ausrüstung selbst angefertigt. Handschuhe, Falknertaschen, Federspiel, Drahlen, Aufblockmöglichkeiten, Hauben und natürlich die Bells – alles maßgeschneidert, alles einzigartig, alles auf die Bedürfnisse des jeweiligen Vogels abgestimmt. Mittlerweile sind insbesondere die Bells maschinell hergestellte Massenprodukte, und die Bequemlichkeit hat der Individualität handgefertigter Bells den Garaus gemacht. Doch auch heute noch genießt das eigene Anfertigen von Ausrüstungsgegenständen unter Falknern ein hohes Ansehen, vor allem wenn es sich um eine verlorene Kunst handelt. Natürlich wollte auch ich unbedingt herausfinden, wie man Bells selbst anfertigt, und bestellte rasch alle Einzelteile, ohne wirklich zu wissen, wie man sie zusammenfügt.
Über eine Woche lang arbeitete ich fieberhaft. Ich folgte meiner Intuition und lernte aus Fehlern. Ich überzog das Haus mit einer feinen Staubschicht aus Metall, rasierklingenscharfe Metallspäne verfingen sich im Fußboden und schnitten mir die Füße auf. Ich brannte Löcher in den Teppich. Ich war viel zu konzentriert und hektisch bei der Arbeit, als dass ich mir um meine Sicherheit Gedanken gemacht hätte, und so flogen Metallstückchen von der Dremel auf und wirbelten wie Sterne durch die Luft; sie frästen sich in meine Stirn, die am Ende ein Tattoo dunkler Punkte unter einem rotblutigen Ausschlag zierte. Einige der Bells waren wunderschön und funktionierten, andere fielen fast augenblicklich wieder auseinander. Um sie weiterzuentwickeln und beständigere Erfolge zu erzielen, lieh ich mir in der Bibliothek Bücher aus und suchte Hilfe in den sozialen Netzwerken.
Die arabischen und muslimischen Nationen weisen eine lange und enge Verbindung zur Falknerei auf. Dort durchziehen Greifvögel das gesamte Leben, sie dringen bis ins Herzstück des Lebens vor. Lange bevor man im Westen um das Potenzial von Habichtartigen und Falken für die Jagd wusste, perfektionierte die muslimische Welt die Praxis bereits und erhob sie in den Stand der Wissenschaft. Über Handelswege gelangte sie schließlich auch nach Europa, der Prophet Mohammed selbst soll ein eifriger Falkner gewesen sein. Deshalb überrascht es nicht, dass die ältesten Stile und die traditionellsten Beizvogelbells noch heute im Osten angefertigt werden.
Nachdem ich Falknereiforen durchstöbert hatte, fand ich Bilder von höchst kunstvoll verzierten und juwelenbesetzten Bells, deren Gestaltung unglaublich detailliert und atemberaubend schön war. Der Herr, der sie zum Verkauf anbot, war ein Falkner aus Pakistan und hieß Salman Ali. Ich schrieb ihm eine Mail. Im Laufe des nachfolgenden Mailwechsels fragte ich ihn, ob ich kommen und mir ansehen dürfe, wie die Bells gemacht wurden. Er war einverstanden, und so hob ich 2007 mein gesamtes Geld vom Konto ab und buchte einen Flug. Ich folgte schlicht einem Impuls.
Ich schätzte, die Reise im Land selbst würde etwa zwei bis drei Tage dauern. Ich wollte in einem Hotel übernachten und nach einer Woche wieder zu Hause sein. Da Karatschi nicht ganz ungefährlich ist, schlug Salman mir stattdessen vor, während meines Aufenthalts bei ihm zu wohnen, länger in Pakistan zu bleiben und in den entlegeneren Regionen des Sindh, einer der vier pakistanischen Provinzen, Habichte zu fliegen. Anschließend wollte er mit mir nach Lahore reisen, wo wir uns mit dem Bellmacher treffen würden. Mir war nicht wirklich klar, welche Folgen dieses großzügige Angebot haben sollte. Jedenfalls schenkte ich einem völlig Fremden mein Vertrauen und legte mein Wohlergehen treuherzig in seine Hände.
Ein paar Monate später schüttelte mir am Flughafen ein ruhiger, elegant gekleideter, muskulöser Mann zurückhaltend die Hand und brachte mich zu seinem Haus in einem wohlhabenden Vorort der Stadt. Ich war vom Jetlag noch völlig benommen und fiel erst einmal in einen langen, tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen tranken wir in einem kleinen, aber sehr sauberen Innenhof im Schatten eines großen Feigenbaums Tee.
Der Innenhof, in dem Salman eine bescheidene Auffangstation für wilde Greifvögel eingerichtet hatte, war von einer Mauer umgeben. Über Salmans Schulter konnte ich vier aufgeblockte Vögel sehen: einen weiblichen Sakerfalken, ein kleineres Männchen derselben Art, also einen Sakret, einen Luggerfalken und eine Unterart des Wanderfalken mit dem wunderschönen Namen »Rotnackenshahin«.
Diese Falkenarten werden auf der Arabischen Halbinsel sehr geschätzt, manche von ihnen erzielen Preise von umgerechnet bis zu vierzigtausend Euro oder mehr. Im Laufe der Jahrhunderte sind Saker- und Luggerfalken dort in großer Anzahl gefangen, außer Landes gebracht und entweder auf Tiermärkten oder an reiche Privatpersonen in den Golfstaaten illegal verkauft worden. Viele der Vögel lassen dabei ihr Leben, und so sind die Falken durch die zusätzliche Bedrohung des immer mehr schwindenden Lebensraums mittlerweile stark gefährdet.
Wenn Salman sie gesund gepflegt hatte, sollten die Falken wieder freigelassen werden und hatten ein potenziell langes und produktives Leben vor sich. Leider war es auch möglich, dass sie erneut in Fallen gerieten und bald darauf auf einem anderen Markt illegal zum Kauf angeboten wurden. Da Salman der Schutz der Tiere ungeheuer am Herzen lag, war ihm die geringe Aussicht auf Erfolg Zeit und Mühe aber durchaus wert.
Ein gesunder Falke von welcher Spezies auch immer ist eine respekteinflößende und eindrucksvolle Erscheinung. Die Augen klar, dunkel und kreisrund, die Füße makellos sauber, kraftvoll, schuppig wie die einer Echse und in der Lage, Beute mit großer Geschwindigkeit mitten im Flug zu greifen. Der Schnabel ist glatt und gebogen, die Spitze scharf. Form und Aussehen eines gesunden Falken ähneln warmem Wind, der über ein erntereifes Sommerfeld streicht. Von Kopf bis Stoß fließen die gefiederten Konturen in sanften Wellen, ohne Unterbrechungen, ohne zersplitterte Ränder. Ein gesunder Falke ähnelt einer auf den Kopf gestellten Träne mit perfektem Federkleid.
Die Falken in Salmans Innenhof dagegen waren unförmig, schäbig, das Gefieder stumpf und glanzlos. Sie machten einen in sich befremdlichen Eindruck, irgendwie schief, mit schlechter Haltung und müden, trüben Augen, so als wären sie nur halb fertig, verhalten und unendlich traurig. Bei näherer Betrachtung zeigten sich verschiedene Leiden: gebrochene Federn, gebrochene und zersplitterte Schnäbel, verdrehte, von Geschwüren und Fäule befallene, schorfige und wunde Füße. Sosehr mich der Anblick dieser äußerlichen Verletzungen auch mitnahm: Sie waren nur die Spitze des Eisbergs.
Greifvögel zeigen in der Regel erst Schwäche, wenn sie dem Tod nah sind, ein natürlicher Sicherheitsmechanismus, der sie in freier Wildbahn vor anderen Beutegreifern schützt. Man muss sie schon sehr genau beobachten und über einige Erfahrung verfügen, um die Wurzeln der tiefer liegenden Erkrankungen zu erkennen, die hinter dem Offensichtlichen lauern.
Damit Pflege und Wiederauswilderung überhaupt gelingen können, muss der Vogel konstant mit Nahrung versorgt werden. Es kann viele Monate dauern, einen Habicht oder Falken auf diese Weise gesund zu pflegen, und dabei muss er täglich geatzt werden. In England gibt es spezielle Hersteller für Raubtiernahrung, meist ein Nebenprodukt der Eierindustrie. Das Protein, das diese Produkte enthalten, ist sauber. Sie sind bakterienfrei, preiswert und werden auf Bestellung bis an die Haustür geliefert. Nach dem Auftauen kann das Fleisch sofort verfüttert werden, ohne dass man sich dabei Sorgen über eine eventuelle Kreuzkontamination machen müsste.
Salman atzte seine Vögel mit Straßentauben.
Sie gingen gerade aus, und so machten wir uns auf den Weg zum Tiermarkt, um neue zu kaufen. Im wabenförmigen Netz dunkler, mittelalterlicher Straßendurchgänge stapelten sich Hunderte von rechteckigen Käfigen aus Hasendraht, Reihe auf Reihe, sechs Meter hoch. Affen, kleinere Vögel, Falken, Nagetiere, Eulen, Eidechsen, alle nur Zentimeter voneinander entfernt dicht zusammengedrängt, von ohrenbetäubendem Lärm, widerlichem Gestank und drückender Hitze umgeben. Pisse und Scheiße tropften und klecksten durch den Draht und beschmutzten von oben nach unten der Reihe nach alle anderen Tiere. Ich spürte irgendetwas an meinem Hosensaum zerren: Fette Ratten huschten und drängelten sich über meine Stiefel.
Nach getätigtem Kauf schleppten wir den Plastiksack voller unruhig zappelnder Tauben zum Jeep. Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, sie von Hand zu schlachten und jede einzelne auf Anzeichen von Krankheiten zu untersuchen. In einem dürren Kadaver fanden wir eine große Abkapselung gelblich faulender Flüssigkeit um das Herz herum. Salman warf ihn weg. Dafür mussten wir mehrere gefangene wilde Spatzen töten, die in Käfigen hinter dem Haus herumhüpften. Als wir sie geatzt hatten, entspannten sich die Falken zusehends. Wir trugen vorbereitete Akazienpaste, ein natürliches Antibiotikum, auf ihre Füße auf und ließen sie dort ihre Arbeit verrichten.
Um Mitternacht wurde ich geweckt. Ich sollte eine kleine Tasche packen, und dann machten wir uns auf den Weg zum Busbahnhof.
Vor den Toren der Stadt vergehen mehrere Stunden, während der Bus in der Schwärze dahinrollt. Bei Tagesanbruch taucht der Sindh drohend vor uns auf, ausgedehnte Flächen voller Ziegeleiöfen, die Feuer und Rauch speien...