Daniela M. I. Pichler-Bogner
Freiheit zur Entwicklung in der frühen Kindheit
„Es ist die Qualität des Zusammenspiels zwischen den Erwachsenen, die einen bestimmten Ton setzt und über die Atmosphäre (…) entscheidet.“1
Jesper Juul
Die Bedeutung geeigneter Bedingungen für die Entwicklung von Säuglingen und kleinen Kindern bis zum Alter von drei Jahren wird uns seit vielen Jahren von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen nachweislich belegt. Die Auswirkungen der frühkindlichen Erfahrungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und nachhaltige Zufriedenheit auf psychischer, physischer, sozialer wie infolgedessen auch ökonomischer Ebene sind offensichtlich. Voraussetzend darf angenommen werden, dass alle Kinder mit einem Entwicklungspotential auf die Welt kommen, aus dem sie schöpfen, das sie unter geeigneten Bedingungen und in ihrem Zeitmass Wachstums fördernd zur Entfaltung bringen können.
Spezifische Entwicklungsschritte entsprechen den sensomotorischen Bedürfnissen, d.h. durch ausreichende Gelegenheiten, in einer entsprechend anregenden Umgebung aus eigener Initiative sensorisch und motorisch tätig werden zu können, entfalten sich die für diese Zeit zum Reifen angelegten Gehirnstrukturen bestmöglich. Durch eigenständige Aktivität ist es dem kindlichen Organismus möglich, sein äußeres und inneres Gleichgewicht zu bewahren, sich Herausforderungen selbständig zu suchen, sich dabei weder zu unter- noch zu überfordern und dadurch Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Die Erkenntnisse der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler – Gründerin und Leiterin des Säuglingsheims Lóczy, dem Pikler-Institut in Budapest – bieten eine Grundlage, um in der Praxis geeignete Möglichkeiten für die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern in den ersten drei Lebensjahren anzubieten. Denn diese Entwicklungsphase unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von derjenigen von Kindern zwischen drei und sechs Jahren.
Autonome Bewegungsentwicklung
Emmi Pikler hat durch jahrzehntelange Beobachtungen feststellen können, dass jedes gesunde Kind die Fähigkeit in sich trägt, seine Bewegungsentwicklung selbständig zu steuern. Das heißt, dass es nicht notwendig ist, ein Kind in Positionen zu bringen, damit es diese erlernt. Im Gegenteil: All diese ‚Hilfen‘ vermitteln dem Kind die Erfahrung, dass etwas nicht überein stimmt mit seinem eigenen Gefühl. Denn jede dieser vom Erwachsenen vorweg genommen Positionen führen beim Kind zu einem physischen und – in weiterer Folge – oft zu einem psychischen Ungleichgewicht. Kinder lernen von selbst sich auf den Bauch drehen, sitzen, stehen oder gehen.
In der Rückenlage hat das Neugeborene die besten Möglichkeiten, sich und die Umgebung zu entdecken, ohne dabei vorzeitig zu ermüden. Der Kopf lässt sich in der Rückenlage mühelos nach links und rechts drehen, die Bewegungsfreiheit der Beine ist gewährleistet und es lernt seine Hände kennen – ein Prozess, der drei, vier Monate in Anspruch nimmt: Zu erfahren, dass diese Hände zu mir gehören, bedeutet auch, zu wissen, wie ich sie dann einsetzen kann – die Voraussetzung, um Gegenstände ergreifen, berühren, mit ihnen hantieren zu können.
Aus der Rückenlage entwickelt das Kind jede weitere Bewegung – die Beine aufstellen, sich auf die Seite drehen, nach links, nach rechts und von da in die Bauchlage. Viele der wichtigen Übergangspositionen werden auf diese Art und Weise von den Kindern erarbeitet – jeder Positionswechsel wird so lange vorbereitet und geübt, um dann z.B. im seitlichen Ellbogenstütz oder im abgestützten Seitsitz sicher und im Gleichgewicht zu spielen.
Aufgrund all dieser Zwischenpositionen erwirbt das Kleinkind Vertrauen in seine motorischen Fähigkeiten, Sicherheit und Geschmeidigkeit in der Bewegung. Noch bevor es zum freien Sitzen kommt, erfährt es die vielfältigsten Fortbewegungsmöglichkeiten auf dem Bauch und auf dem Rücken. Ein selbständig zum Sitzen gelangter Säugling sitzt sicher, selbstbewusst und ist im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, in dieser neuen Position zu spielen, zu erkunden.
Das Ungleichgewicht eines vorzeitig ins Sitzen gebrachten Kindes wird meist durch Abstützen mit Polstern ausgeglichen. Nichtsdestoweniger spürt das Kind in dieser Position seine Unsicherheit. Der Körper fängt an, sich auf ein mögliches Fallen vorzubereiten, d.h. er erzeugt innere Anspannung. Dies ist die Ausgangslage, aus der heraus das Kind die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – hat zu spielen.
Eine weitere Erfahrung, die das Kind in dieser Position macht, ist die der Abhängigkeit: Wenn ihm ein Spielmaterial wegrollt, wird ihm schnell bewusst, dass es ihm nicht möglich ist, dies selbst zu holen. Es weiß nicht, wie es aus dieser sitzenden Position heraus kommen kann, da es ja auch nicht gelernt hat, selbständig dorthin zu gelangen. Diese Erfahrung der Abhängigkeit und Unflexibilität wirkt sich nicht nur auf sein Körpergefühl aus sondern auch auf seine Persönlichkeitsentwicklung.
Bei allen Überlegungen ging es Emmi Pikler nicht um die Bewegungsentwicklung allein. Der Säugling lernt „im Lauf seiner Bewegungsentwicklung nicht nur sich auf den Bauch zu drehen, nicht nur das Rollen, Kriechen, Sitzen, Stehen oder Gehen, sondern er lernt auch das Lernen. Er lernt, sich selbstständig mit etwas zu beschäftigen, an etwas Interesse zu finden, zu probieren, zu experimentieren. Er lernt Schwierigkeiten zu überwinden. Er lernt die Freude und die Zufriedenheit kennen, die der Erfolg – das Resultat seiner geduldigen, selbstständigen Ausdauer – für ihn bedeutet“.2
Die freie Bewegungsentwicklung erlaubt es den Kindern in jeder Phase selbständig tätig zu sein, ihre große Neugierde, alles entdecken und erforschen zu wollen, eigenständig befriedigen zu können, unabhängig vom Erwachsenen. Dabei erfahren sie eine innere Zufriedenheit, die sie als kompetente und selbstständige Personen befähigt, neue Herausforderungen zu suchen, in Angriff zu nehmen und zu bewältigen. Die unterschiedlichen Entwicklungsschritte in der Bewegungsentwicklung bieten dazu ausreichende Möglichkeiten: Jede neue Position ist eine Gelegenheit, sich zu erproben und zu lernen, wie sie am zweckmäßigsten zu erreichen ist.
Die dazu notwendigen Strategien entwickeln Kinder im Tun, in ihrem individuellen Zeitmass, das ihnen ermöglicht, selbständig zu entscheiden, wie viel sie an Neuem wagen und wann sie sich wieder in die vertraute Lage zurück bewegen, um bei einem nächsten Versuch von vorne zu probieren. Dabei trainieren sie immer in der für sie passenden Weise und in der ihnen möglichen Dauer – die Balance zwischen Aktivität und Ruhephasen zu bewahren ist ihnen durch die selbständige Aktivität möglich.
Die Auswirkungen dieser frühkindlichen Erfahrungen auf das lebenslange für sich selber sorgen können sind deutlich. Zeit und Raum für selbständiges Entdecken schützen Kinder – sie lernen sich selbst einzuschätzen, setzen sich nicht unnötigen Gefahren aus, da sie nicht von außen zu etwas angeleitet werden, das noch nicht ihren Fähigkeiten entspricht.
Sie erleben in ihrem Tun kaum „Misserfolge“, weil sie im Probieren immer wieder Neues entdecken, aber auch wieder „Rückschritte“ gehen können, wenn sie sich einer neuen Herausforderung noch nicht gewachsen fühlen, da ihr Tun nicht bewertet wird als eines, das nicht äußeren Erwartungen entspricht. Dadurch werden sie geschickt, lernen Fallen, verlieren nicht ihr äußeres und inneres Gleichgewicht und entfalten durch das wachsende Körperbewusstsein Schritt für Schritt ihr Selbstbewusstsein.
Von den Anfängen und der Bedeutung des freien Spiels
Im selbst initiierten freien Spiel kann der Säugling zwischen vorhandenen Möglichkeiten selbständig auswählen und aufgrund der Freiheit, die Zeitspanne und Art der Beschäftigung selbst zu bestimmen, Ausdauer zeigen, Konzentration, Freude und Befriedigung über sein schöpferisches Forschen und Experimentieren erfahren. So wird auch das vorhandene Potential zur Selbstregulation genutzt, bewahrt und gestärkt.
Das erste Zeichen menschlichen Interesses ist die Beschäftigung mit den eigenen Händen. Und das sogar über einen Zeitraum von drei bis vier Monaten. Das Spiel mit den Händen in den ersten drei bis vier Monaten zeigt uns etwas, das Anna Tardos, Tochter von Emmi Pikler, als „erste Offenbarungen menschlichen Interesses“ beschrieben hat. Es weist dies darauf hin, dass das Interesse für sich und seine Umgebung im Menschen vorhanden ist, dass es nicht von außen, vom Erwachsenen geweckt werden muss, wenn die Bedingungen für das Kind geeignet sind. Dazu bedarf es einer guten emotionalen Beziehung, einer ruhigen, sicheren Umgebung und entsprechender Materialien, die das Kind interessieren. In dieser Zeit versuchen Säuglinge, ihre eigenen Hände wahrzunehmen und sie im Laufe von Wochen als Teil ihrer selbst zu erkennen, sich mit sich selbst, ihren Händen vertraut zu machen. Dies setzt voraus, dass sie nicht durch „ungeeignete“...