Mehr zur Grammatik von Freiheiten und Kontrollen
Freiheiten und Kontrollen haben Formen, Dimensionen und Sprachen. Die Dimension der Freiheiten ist sehr einfach zu beschreiben als die Größe des Raums, in dem das Subjekt Entscheidungen treffen kann. Die Grenzen liegen dort, wo es entweder zu wenige Möglichkeiten oder zu viele gibt. »Ich kann mich nicht entscheiden« kann gegenüber einer Leere oder gegenüber einer Fülle ausgesprochen werden. Die Dimension der Kontrollen ist die Größe des Raums, in dem eine Daten- oder Zeichenmenge organisiert ist, und auch hier bestehen die Grenzen dort, wo es zu wenig oder zu viele Daten oder Zeichen (oder andere Elemente der Verdoppelungen) gibt. Eine Kontrollinstanz kann nicht arbeiten, wenn sie zu viel oder wenn sie zu wenig Informationen hat.[1] Die Räume der Entscheidungen und die Räume der Informationen überschneiden sich. Gerade in diesen doppelten Räumen, in denen, zum Beispiel, Entscheidungsmöglichkeiten und Informationsangebot in einem rationalen Verhältnis stehen, bilden sich die Grammatik der Freiheiten und die Grammatik der Kontrollen. Ob wir von Quantenphysik, von Geheimpolizei oder von Big Data sprechen, stets geht es da um Erkenntnis, Überwachung, Information, die sich nicht mehr vollkommen unter das Modell von »Kontrolle« subsumieren lässt.
Aber wie es mit Grammatiken so geht, wurde auch die aus Freiheiten und Kontrollen gebildete immer komplizierter, ermöglichte, nur zum Beispiel, neben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch verschiedene Formen von Möglichkeiten und Phantasien. Das heißt, dass die Beziehungen von Freiheit und Kontrolle nicht nur eine von Praxen ist, sondern auch eine von Erwartungen und Alternativen. In der politischen Ökonomie bedeutet dies, dass sich Freiheiten und Kontrollmöglichkeiten auch wie Schulden behandeln lassen – jedenfalls wenn man, mit Jürgen Habermas, davon ausgeht, dass das »Staatsvolk« und das »Marktvolk« mehr denn je auseinanderfallen.[2] Man kann also nicht nur Freiheit und Kontrolle miteinander in Beziehung setzen, sondern auch ein Versprechen von Freiheit mit Kontrollen oder ein Versprechen von Kontrollen mit Freiheiten. So ist die einfache Formel »Wer Freiheit will, muss Kontrolle zulassen; wer Kontrolle will, muss Freiheiten zugestehen« erweitert: »Nur wer arbeitet, kann Kontrolle und Freiheit tauschen; nur wer besitzt, kann Kontrolle und Freiheit vermehren.« Arbeit verwandelt also nicht nur die (verlorene) Freiheit des einen in die (gewonnene) Kontrolle des anderen, sondern sie erzeugt gleichsam naturgemäß das Ungleichgewicht der Verteilung.
Da alles, was eine Grammatik hat, auch eine Ökonomie hat (da Ökonomie also als besondere Form der Grammatik und Grammatik als besondere Form der Ökonomie zu beschreiben ist), lassen sich Freiheiten und Kontrollen, auf veräußerte, quantifizierbare, tauschbare Einheiten »heruntergebrochen«, in polyvalenten Geflechten sehen. Der Wert einer Freiheit kann daher in der Form von »Kosten« wiedergegeben werden ebenso wie in Form von logischen Verknüpfungen. (In der mythischen Überhöhung ist vom »Preis der Freiheit« die Rede, der in aller Regel in der Währung des Bluts bezahlt werden muss.) Die Freiheit, statt die nächsten Sätze dieses Buches zu formulieren oder aber hinauszugehen und einen Schneemann zu bauen (ja, es ist gerade Schneemannzeit), hängt mit der Geschichte dieses Projektes, mit der Dringlichkeit eines Gedankens, der auf seine Durchführung drängt, mit der körperlichen Verfassung, mit der Lust und mit der Notwendigkeit des Geldverdienens zusammen. Wir haben Verträge! Gedanken werden erst wirksam, wenn sie durch das Nadelöhr von Verträgen gesandt sind! Und wir ahnen schon hier: Die Polyvalenz von Freiheiten (wie dann von Kontrollen) weitet sich bei näherem Hinsehen so aus, dass man am Ende nur noch an die Bedingtheit selber glauben mag: Wir haben die Freiheit gar nicht, aufzustehen, hinauszugehen und einen Schneemann zu bauen, wenn nicht mindestens zehn weitere Seiten geschrieben sind. Aber wir hatten die Freiheit, über diese Freiheit, die wir dann doch nicht haben, nachzudenken. Und plötzlich haben wir sie wieder und gehen hinaus und bauen einen Schneemann, und pardautz, da ist es wieder: das Gefühl der Freiheit! Und, denken wir an Madame Bovary zurück, möglicherweise ist diese Freiheit nicht die des Machens (was vergleichsweise trivial ist, aber lustvoll, ätsch), sondern die des Getan-Habens. Wir waren so frei. Für einen Augenblick. Und jetzt zurück ans Werk.
Und in diesem sind wir bei der nächsten Ebene der Beziehungen zwischen Freiheiten und Kontrollen angelangt. Sie lassen sich nicht nur miteinander verbinden auf ökonomische und grammatische Art (also in Macht-, Diskurs- und Tauschbeziehungen), sondern auch anderweitig bedingen. In einer »bedingten Freiheit« ist die Praxis einer Freiheit, die grundsätzlich »gegeben« und »möglich« ist, an Voraussetzungen oder Umstände gebunden. Die einfachste und doch fundamentale Form dieser Beziehung ist die, in der die Mehrzahl der Menschen, so oder so, leben: Die Freiheiten, die man in der Freizeit genießen kann, sind bedingt durch die Erledigung eines Arbeitswerkes. Die Freiheit, die das Staatsvolk hat, ist nicht identisch mit der Freiheit, die das Marktvolk hat, welche wiederum nicht identisch ist mit der Freiheit, die das biographische Subjekt hat. Ernsthaft problematisch freilich wird dies, wenn diese drei nicht einmal grammatisch (und schon gar nicht »harmonisch«) miteinander verbunden sind. Nicht viel hat sich geändert seit der Zeit der Sklaven, die Aristoteles, wenn uns nicht alles täuscht, vom Zustand der Natur in den der Geschichte »emanzipierte«. Es hat sich alles nur beschleunigt und formalisiert; das »Sklavendasein« ist statt im Lebenszeitraum in der täglichen, wöchentlichen und jährlichen Taktung begrenzt. Statt am Ende des Lebens winkt die Freiheit nun vielleicht am Ende eines Arbeitstages (und droht beide Male an Erschöpfung zu vergehen).
Zwischen beiden aber vermittelt nun statt der oikonomia, der Ordnung des Hauses, das Geld. Das Geld, das ich in der Arbeit (dem Reich der Kontrollen) »verdient« habe, setze ich in der Freizeit (jedenfalls zum Teil) in Freiheiten um. Das Geld hat erst eine Bedeutung, wenn ich es ausgebe. Es ist gleichsam das Pfand, das hinterlegt wird, für alles, was Menschen in Gebrauch nehmen können und wollen. Es ist, wie am Beginn des 18. Jahrhunderts klargeworden ist, eine Repräsentation, eine Fiktion, an die freilich alle glauben. Es soll das, was die Hände des Gebenden verlässt, in anderer Form wieder zu ihm zurückbringen, es soll mithin nicht verschwinden. (Sehen wir eine Verwandtschaft zwischen »verschwenden« und »verschwinden«?) »Das Geld ist eine solide Erinnerung, eine sich spaltende Repräsentation, ein aufgeschobener Tausch. Wie Le Trosne sagt, ist der Handel, der sich des Geldes bedient, in dem Maße eine Vervollkommnung, in dem er ›unvollendeter Handel‹ ist, ein Akt, dem während einer bestimmten Zeit der fehlt, der ihn kompensiert, eine halbe Operation, die den umgekehrten Tausch verspricht und erwartet, durch den das Pfand sich in seinen wirksamen Inhalt rückverwandelt finden wird.«[3]
Das Geld, als das Unabgeschlossene des Handels, verkörpert dessen Freiheit. Aber in der rigiden Verknüpfung der Einheiten des Handels – Arbeit, Produkt, Tausch, Besitz – verkörpert es genauso auch seine Kontrolle. Geld erzeugt in den unendlichen Tauschprozessen Freiheit und Kontrolle in einer, was die vorherigen Dimensionen der Macht anbelangt, neuen Form. Die sich spaltende Repräsentation, von der Foucault spricht, ermöglicht es unentwegt, Freiheiten in Kontrollen umzuwandeln. Mein durch Arbeit erworbenes Geld gebe ich einerseits hin für meinen bescheidenen Anteil an der allgemeinen Produktion, aber damit auch für einen freilich noch bescheideneren Anteil an der Kontrolle des gesamten Marktgeschehens; zur gleichen Zeit jedoch falle ich sofort wieder zurück in die Kontrolle des Produktionsprozesses, der die meisten meiner Freiheitspotentiale in Beschlag nimmt.
Konnte indes je ein Mensch »frei über sein Geld verfügen«? Ist nicht jeder Tauschvorgang auch mit Freiheit und Kontrolle verbunden? Und hat es eine Bedeutung, wo ich es ausgeben muss? Das Geld, das ich benötige, um mich zu ernähren, zu kleiden, zu wohnen und mich zu bewegen, hat letztlich keine andere Bedeutung, als dass es durch meine Lebenspraxis hindurchfließt. Biographische Nullsumme. So wie Arbeit der Ausdruck der nicht vollendeten Befreiung aus der Sklaverei geworden ist, ist das Geld Ausdruck des nicht vollendeten Tauschs. Beides enthält ein ewiges »Hinterher«. Eine in Aussicht gestellte Belohnung, die dem Gefühl der Freiheit nachempfunden sein mag, welche sich durch überstandene Kontrollen einstellt. Erst wenn das Geld nicht nur meine Bedürfnisse befriedigt, sondern darüber hinaus Freiheiten verschafft, verstehe ich es als Wert. Die Freiheit ist der Mehrwert jeder Ware im Kapitalismus, sie bedingt ihre Ästhetik. Natürlich wird die Kritik sofort kontern: Es handelt sich um bloße Scheinfreiheit. Die Wahl zwischen Waren, die nur unterschiedlich verpackt sind, zum Beispiel. Die Wahl zwischen Bewegungen, die alle in dieselben Kreise führen. Die Wahl zwischen Fernsehprogrammen, die sich allenfalls noch durch den Grad ihrer Verblödung unterscheiden. Aber natürlich ist auch unter den Marktbedingungen die Freiheit noch wesentlich vielfältiger. Sie umfasst eine Unzahl von Teil-Freiheiten (einschließlich des »Konsumverzichts«), die zu einem Selbst-Design zusammengefasst werden können....