Die vielfältige Welt der digitalen Algorithmen
Meine Zahnbürste spricht mit mir
Seit Neuestem habe ich eine elektrische Zahnbürste, die stufenlos fünftausend Umdrehungen pro Minute schafft, eine ausgesprochen kurze Ladedauer benötigt und spricht. Nun ja, sie spricht nicht in herkömmlichen Sprachmustern mit mir, sondern eher in blinkender und piepsender Form. Sie verhindert akustisch (durch schrilles Piepsen) und visuell (mit grellrotem Blinklicht), wenn ich Gefahr laufen sollte, meinem Zahnfleisch durch zu hohen Anpressdruck einige Blessuren zuzufügen, und ich frage mich heute ernsthaft, wie ich es seinerzeit ohne digitale Vorwarnstufen geschafft habe, mich dahingehend nicht zu verletzen.
Dass ich aber inzwischen eine wirklich kommunikative Beziehung zu meiner Zahnbürste aufbauen konnte und sie daher nicht mehr missen möchte, liegt an einem Zusatzmodul. In Form und Größe vergleichbar mit einer Zigarettenschachtel steht im Badezimmerregal direkt sichtbar und mit meiner Zahnbürste via Bluethoos eng verbunden eine Art Mini-Display. Darauf ist ein Gesicht zu sehen, das in seiner Darstellung an jenes Mondgesicht erinnert, mit denen wir in Kindertagen unsere Strichmännchen bzw. Kopffüßler versehen haben. Es lächelt mich schon frühmorgens an, und ignoriert damit großzügig meinen Gesichtsausdruck – ich bin von Natur aus kein Morgenmensch. Wenn ich nun meine Zahnbürste in Betrieb nehme, fragt sie vorerst, welches Programm ich vorziehe, von federleicht mit sanften Umdrehungen bis „Heavy Metal“, also maximale Umdrehung mit interruptierenden „Anschlägen“ im Zehnsekundentakt – ich entscheide mich meiner morgendlichen Verfassung entsprechend für die sanfte Variante. Nach dreißig Sekunden kommt die erste kurze Unterbrechung begleitet von einem kurzen Piepston und am Display erscheint das erste Sternchen. Mit dem Erreichen von vier Sternchen ist das Soll erfüllt und mein Mondgesicht lächelt mir in gewohnter Art und Weise zu.
Für ganz ehrgeizige Electric Tooth Cleaner gibt es eine Bonusstufe mit fünf Sternchen, einem Zusatzlächeln vom Mondgesicht und die Sternchen blinken wie seinerzeit am Flipper die Lämpchen, wenn es ein Freispiel zu erwarten gab.
Und jetzt kommt der Moment, in dem die digitale Vorgabe formal als betreutes Zähneputzen in mein reales Leben eingreift: Ich ertappe mich immer öfter dabei, dass ich ordnungsgemäß, also den Vorgaben entsprechend, das vorgegebene Limit von vier Sternchen erfülle, auch wenn ich die Zahnbürste zum Spülen schon abgeschaltet habe und gefühlsmäßig mit dem Putzen fertig bin. Denn da zeigt mir das Display, dass mir zum vierten Stern nur noch acht Sekunden fehlen (was bei einer Gesamtputzzeit von zwei Minuten hinsichtlich der Zahnhygiene natürlich überhaupt keine Rolle spielt), und wie automatisiert schalte ich das Gerät wieder ein, der vierte Stern erscheint majestätisch, das Mondgesicht lächelt befriedigt in gewohnter Manier und in mir steigt wieder einmal der Gedanke hoch, einfach zum nächsten Supermarkt zu pilgern und eine Zahnbürste ohne Stromanschluss und Display zu kaufen. Ich verwerfe jedoch den Gedanken alsbald, denn ich glaube fast, dass mir das morgendliche Lächeln meines mondgesichtigen Freundes fehlen würde, genauso wie die Sternchen, bei deren Anblick mitunter jenes Gefühl aufsteigt, das ich hatte, wenn mir meine Grundschullehrerin wohlwollend ein Sternchen für die gemachte Fleißaufgabe ins Heft klebte.
Das eben beschriebene Beispiel mag Ihnen vielleicht ein Schmunzeln entlockt haben oder Ihnen die Gewissheit vermitteln, dass auch Sie bereits einen festen Platz in der Welt der Algorithmen haben. Sollten Sie jedoch zu denen gehören, die sich einer elektrischen Zahnbürste verweigern und glauben, der Welt der Algorithmen zu entkommen, da muss ich sie leider enttäuschen. Algorithmen sind in der Welt der Computer nicht mehr wegzudenkende bestimmende Faktoren in der digitalen Datenverarbeitung, und nicht immer beeinflussen sie unsere Lebensweise so harmlos wie im eben genannten Beispiel, das anschaulich macht, wo überall wir mit digitalen Taktgebern konfrontiert sind.
Von virtuellen Einflüssen, realen Folgewirkungen und entfesselten Algorithmen
Bedenklich wird es, wenn digital gesteuerte Prozesse derart in das wirkliche Leben eingreifen, dass sie reale Existenzen beeinträchtigen. Ich werde dies im Folgenden anhand eines Gespräches mit einem Bankberater verdeutlichen, in dem ich aufzeige, dass vor dem Einsatz von Algorithmen der Berater selbst entscheiden konnte, ob er einen Antragsteller als kreditwürdig einstuft oder eben nicht. Dazu gab es sehr persönliche, oft auch vertraute Gespräche, in denen sich der Bankberater ein persönliches Bild vom Antragsteller machen konnte und nach eigenem Gutdünken zu entscheiden hatte, ob er den Kreditantrag in das dafür bestimmende Gremium einbringen konnte oder nicht. Oft genug (so gestand mir mein Gesprächspartner) hat er gefühlsmäßig entschieden und in den meisten Fällen mit seiner Einschätzung recht behalten.
Nun entscheiden Algorithmen anhand von mathematisch ermittelten Durchschnittswerten, ob ein Antrag überhaupt zur Weiterleitung in die nächsthöhere Ebene vordringen darf, wie der nachfolgende Realfall verdeutlicht: Herr E. C., Vater von drei unmündigen Kindern und Alleinverdiener mit einem Nettoeinkommen von € 1.380, sucht in seiner Bank um einen Kredit an, um sich eine Eigentumswohnung im Wert von € 110.000 zu kaufen. Diese wurde vom Sachverständigen mit € 125.000 bewertet und deckt somit den Kredit als Sicherstellung klar ab. Herr E. C. ist seit zehn Jahren Kunde bei der Bank und als zuverlässig und ehrenhaft bekannt. Bei einer Laufzeit von fünfundzwanzig Jahren hätte er eine monatliche Rückzahlung von circa € 570. Sein gegenwärtiges Mietaufkommen beträgt € 680. Und obwohl er dadurch zu den bisherigen Ausgaben eine Ersparnis von € 110 aufweist, wurde der Kredit nicht bewilligt, weil Algorithmen als Berechnungsgrundlage eine Durchschnittsfamilie mittleren Einkommens annehmen und Herr E. C. demnach die Kreditrate nicht zahlen kann. Da spielt es keine Rolle, dass seine realen KFZ-Kosten um mehr als fünfzig Prozent unter der Berechnung liegen und seine Kinder nicht, wie vom Computerprogramm vorgegeben, € 980 im Monat an Kosten verursachen, sondern nur etwa € 500, weil sie gelernt haben, sich mit dem zu bescheiden, was möglich ist – und das ohne Not zu leiden. Diese Liste ließe sich hinsichtlich Lebenshaltungskosten beliebig fortsetzen. Tatsache bleibt, dass Herr E. C. laut den berechnenden Algorithmen gar nicht überleben kann, obwohl er das über Jahre schon bewiesen hat – gut, dass ihm das vorher nicht so bewusst war. So kann eben nicht sein, was (digital) nicht sein darf.
Nun kann man einwenden, dass sich der genannte Fall für den Betroffenen mehr oder minder problematisch darstellen mag, jedoch kein Einzelfall und auch nicht neu ist und uns (sofern nicht in ähnlicher Situation) kaum betreffen mag.
Anders verhält es sich dort, wo die schnellsten Computer der Welt als Spekulanten agieren und der weltweite Finanzmarkt Gefahr läuft, ins Netz räuberischer Algorithmen zu geraten. Da kann es schon vorkommen, dass sich an der Börse mitunter ein heftiges Herzkammerflimmern14 feststellen lässt, welches in Sekunden die Realwirtschaft kontaminiert. Dann beginnen die Märkte verrücktzuspielen, der Dow Jones rasselt um tausend Punkte nach unten und keiner weiß vorerst warum. Ratlosigkeit macht sich breit, verbunden mit dem unbestimmten Gefühl, dass hier einiges außer Kontrolle geraten ist.
Wenn Sie nun glauben möchten, dass die Finanzmärkte ein Ort sind, an dem Menschen aus Fleisch und Blut auf Monitore starren und schreiend Angebot und Nachfrage bedienen, sich auf Zehntel- und Hundertstelpunkte konzentrierend, das Große und Ganze mehr oder weniger verantwortungsbewusst bis zum Erschallen der Schlussglocke im Blick haben, dann haben Sie wie viele von uns jenes Bild eines Finanzmarktes vor Augen, wie er uns vorderhand präsentiert wurde. Doch dieses Bild ist so schon lange nicht mehr gültig. Längst kommunizieren Rechenmaschinen mittels ausgefeilter strategisch hochgerüsteter Algorithmen und durchforsten riesige Datenmengen innerhalb von Millisekunden. Der Mensch kann hier kaum mehr mitwirken, da das menschliche Gehirn zwar wesentlich komplexer agiert, aber mit den parallel prozessierenden Chips temporal nicht mithalten kann. Neuere Expertisen gehen davon aus, dass in etwa siebzig Prozent des amerikanischen Aktienhandels ausschließlich zwischen Computern abgewickelt werden. In diesem „Hochfrequenzhandel“ arbeiten Hochleistungsrechner selbsttätig nur mehr mit marginaler Einwirkung durch den Menschen. Es sind umfassend programmierte Algorithmen, die auf Marktveränderungen reagieren, blitzschnell kaufen und verkaufen und somit weitreichende Handelsentscheidungen treffen. Ob dabei der „Human Factor“ auf der Strecke bleibt, ob der Mensch als Kontrollinstanz bestehen kann oder unterliegen wird, wird sich zeigen – zehntausendmal pro Sekunde.
Computer...