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Fremde Heimat Kirche

Glauben in der Welt von heute

AutorHans-Joachim Höhn
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783451339226
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Skandale, Reformstau, Abbruch religiöser Traditionen: Wie können die Kirchen unter sich rasant verändernden Umständen kreativ eine neue Sprache zu finden und Menschen eine wirkliche Heimat, wirkliche Nähe und Orientierung bieten? Höhn zeigt Schritte aus der Binnenfixierung - hin zu einem Christentum, das wirklich 'Salz' der Gesellschaft wird.

Hans-Joachim Höhn, Dr. theol., geb. 1957, lehrt als Professor für Systematische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Zahlreiche Publikationen besonders zur Stellung und Funktion der Religion in der Moderne sowie zu Grundfragen der Christlichen Sozialethik liegen vor.

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Leseprobe

1. Problemskizze: Fremde Heimat Kirche


ES GEHÖRT ZU den Ritualen von Prominenteninterviews, dass bei der Gretchenfrage „Wie hältst Du’s mit der Religion?“ eine gewisse Offenheit für diverse Transzendenzvorstellungen geäußert wird – und man sogleich beteuert, kein Kirchenchrist zu sein. Sollten tatsächlich biografische Indizien für eine Konfessionszugehörigkeit ausgemacht werden, so werden sie in der Regel einer fernen Vergangenheit zugewiesen. Es ist schon so lange her, dass es fast nicht mehr wahr ist! Ausnahmen gibt es gleichwohl. Einige Zeitgenossen, die heute zu den Großen im Showgeschäft oder im politischen Establishment zählen, können auch ganz unverkrampft auf eine kirchliche Phase in ihrer Biografie verweisen. In Talkshows lassen sie sich bereitwillig das Geständnis entlocken, dass sie für eine Weile Ministranten waren oder in Jugendchören ihre musische Begabung erproben konnten. Die Kirche war für sie durchaus ein Ort, an dem sie sich heimisch fühlten und Wurzeln schlagen konnten. Aber mit der Zeit sind sie über diese Herkunft (und dabei auch über sich selbst) hinausgewachsen. Sie sind andere Wege gegangen und haben andernorts neue religiöse Bekanntschaften gemacht. Im Rückblick fällt ihr Urteil über die Kirche bisweilen bemerkenswert milde aus, wenngleich diese Milde stets auch einen Schuss Ironie enthält: Obligatorisch war die heimliche Messweinprobe in der Sakristei. Wurde das Weihrauchfass geschwenkt, sind dabei nicht nur fromme Gedanken geweckt worden. Man hat einiges gelernt, das später in ganz anderen Feldern wichtig wurde: ein Gespür für Ästhetik und Inszenierungen, Mut zum öffentlichen Auftreten. Manche Prominente geben zu, dass sie dieser Zeit auch eine eiserne Ration an moralischen Überzeugungen oder existenziellen Gewissheiten verdanken. Eine dauerhafte und intensive Kirchenbindung besteht jedoch oft nicht mehr. Die Kirche ist für sie eine Größe, deren man sich eigens erinnern muss. Über sie wird nicht in der Zeitform der Gegenwart, sondern der Vergangenheit gesprochen.

In der Zeitform der Vergangenheit wollen auch die erklärten Kritiker über die Kirche reden. In ihren Augen ist die Kirche selbst daran schuld, dass sich ihre Zukunft bereits in der Vergangenheit erledigt hat (weshalb eigentlich in der Zeitform des Plusquamperfekt über sie zu sprechen wäre). Ihre Zeit ist vorbei, weil sie als Institution des christlichen Glaubens längst allen Kredit verspielt hat. Zu oft hat sie den Menschen Steine statt Brot gegeben. Zu oft war sie ängstlich vor den Unterdrückern, schweigend vor den Ausbeutern, verschlossen vor den Zweifelnden, erbarmungslos gegenüber den Gestrauchelten.

Größer kann der Kontrast nicht sein gegenüber dem, was die Kirche ihrem Namen und Anspruch nach sein könnte: jener Ort, an dem Gott zur Sprache kommt und das Wort Gottes (Evangelium) in der Gemeinschaft der Glaubenden mutig und kreativ praktiziert wird: aufbegehrend für die Unterdrückten, einladend für die Ausgestoßenen, suchend nach den Ratlosen, barmherzig mit den Sündern. Ihr Ort ist bei den Menschen. Was diese von ihr zu erwarten haben, ist Solidarität – in den Worten des II. Vatikanischen Konzils: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“1

Weil die Kirche in ihrer Geschichte aber zahllose Scheußlichkeiten begangen hat, traut man ihr heute jede Scheußlichkeit zu. Zum Beweis ist es nicht nötig, die Bücher zur „Kriminalgeschichte“ des Christentums aufzuschlagen. Es genügen die Zeitungen vom Tage, um stets auf’s Neue zu lesen, dass die Kirche einen enormen Ansehensverlust erleidet – vor allem bei den Armen, Trauernden und Bedrängten.

Provozierende Kirche


Die Kirche steht häufiger in den Schlagzeilen als das Evangelium. Das muss nicht weiter schlimm sein, wenn der Zweck solcher Publicity wäre, das Evangelium in die Öffentlichkeit zu bringen. Die theologische Bestimmung der Kirche besteht ja gerade darin, dass sie Ort und Ereignis der Veröffentlichung der „Sache Gottes mit den Menschen“ ist. Hier geht es darum, wie Gott und Mensch gemeinsame Sache machen können. Sache der Kirche ist es, sich der Erwartungen der Menschen an ein sinnvolles Leben in einer vom Evangelium geprägten Lebenskultur anzunehmen. Sie schreibt dabei jene Geschichte fort, die im Evangelium erzählt wird, wie Gott sich der Nöte und Hoffnungen der Menschen annimmt. Mit dieser Geschichte soll die Kirche Geschichte machen – und zwar auf durchaus provokante Weise. Das Evangelium erzählt keinen geschichtslosen Mythos und entwirft auch nicht ein bloß weltjenseitiges Heilsideal. Es ist vielmehr Konsequenz eines Geschehens, in dem der Heilswille Gottes im Widerstreit von Leben und Tod, von Freiheit und Unterdrückung, von Macht und Ohnmacht erfahrbar geworden ist. Gott hat es im Leben und Sterben Jesu von Nazaret mit dem Tod aufgenommen, um das tödliche Verhältnis von Leben und Tod zugunsten des Lebens zu verändern (vgl. Joh 10,10). Als Konsequenz dieses Geschehens jenseits frommer Innerlichkeit und diesseits weltflüchtiger Jenseitigkeit ist das Evangelium selbst wiederum folgenreich – auch in jenen Feldern, die scheinbar abseits des Religiösen liegen.

Für die Praxis des christlichen Glaubens sind darum zwei Grundmotive leitend, die das Christentum von Grund auf und im Ganzen bestimmen: Politik und Mystik, Aktion und Kontemplation. Der politische Einsatz für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden sowie das Bemühen, die eigene Existenz in Gott zu verwurzeln, sind hier keine Alternative. Beides bedingt sich vielmehr wechselseitig. In eben diese Richtung weist auch das II. Vatikanische Konzil, wenn es die Kirche als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“2 bestimmt.

Nicht immer ist die Herausforderung dieser mystisch-politischen Doppelstruktur der Kirche unmissverständlich und klar wahrnehmbar. Meistens provoziert die Kirche genau dann die Aufmerksamkeit der Medien, wenn sie nach dem Urteil ihrer Beobachter gegen die Grundwerte des Evangeliums verstößt. Im „Jubeljahr 2000“ hatten Kirchenkritiker reichlich Gelegenheit, die kirchliche Skandalchronik wieder aufzublättern. Sie reicht von Judenverfolgungen, Kreuzzügen, Inquisition und Hexenverbrennungen über die Verquickung mit Kolonialismus und Imperialismus bis hin zur Verstrickung mit faschistischen Regimes. Mit der Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauches durch Priester und Ordensleute im Jahre 2010 erreichte das Ansehen der Kirche einen Tiefpunkt. Die schleppende Aufarbeitung dieses Skandals hat die Situation anfangs sogar weiter verschlimmert. Inzwischen ist mit Entschiedenheit begonnen worden, Unrecht aufzuarbeiten und Präventionsmaßnahmen einzuleiten. Der Vorsatz, auch andere Missstände in der Kirche durch einschneidende Reformen zu überwinden, wurde jedoch nur halbherzig umgesetzt. Verlorenes Vertrauen wurde nicht zurückgewonnen. Ein im Frühjahr 2011 von mehr als 200 deutschen Theologinnen und Theologen unterzeichnetes Memorandum, das einen Abbau des Reformstaus anmahnte (u. a. Lockerung des Pflichtzölibates, Priesterweihe für „viri probati“, Stärkung synodaler Strukturen und der Beteiligung der „Laien“ an Entscheidungsprozessen, Zugang von Frauen zu kirchlichen Ämtern, veränderter Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen), hat ein zwiespältiges Echo gefunden. Die Kritik reichte von gelangweilten Feststellungen, dass das Papier nichts Neues enthalte und resignativer Ausdruck professoraler Ohnmacht sei, bis hin zu frömmelnden Verunglimpfungen der Unterzeichner. Es gab Aufrufe zu „Gebetsstürmen“, auf dass der Heilige Geist sie wieder zur Umkehr bewege. Offen legte man ihnen auch den Übertritt zur evangelischen Kirche nahe. Dort seien sämtliche ihrer Forderungen erfüllt. Gleichwohl stünde sie nicht besser da und somit sei die Sinnlosigkeit der Reformwünsche bereits empirisch erwiesen. Wurden zuvor unbequeme Reformpapiere zu Tode gelobt, machen sich ihre Kritiker nunmehr über sie lustig. Kirchenreform – ein Projekt zum Totlachen? Einige Bischöfe vermissten in dem Memorandum ein „sentire cum ecclesia“. Aber wieso schließt ein „Mitfühlen mit der Kirche“ jedes Mitgefühl mit den Menschen aus, die unter den Missständen in der Kirche leiden? Warum soll nur ein schweigendes Mitfühlen mit den Leidtragenden erlaubt sein? Ein solches Schweigen führt in die Komplizenschaft mit jenen Kräften, denen an Vertuschung und Verschleierung gelegen ist. Gilt nicht, dass die Wahrheit den Menschen frei macht und dass nur in Freiheit die Wahrheit eine Chance hat?

Immer wieder liefert die Kirche einen neuen Grund für den Vorwurf, dass sie sowohl gegenüber dem Freiheitsbewusstsein der Moderne als auch gegenüber den Grundwerten des Evangeliums im Verhältnis einer unproduktiven Ungleichzeitigkeit verharrt. Ist dies die Weise, wie die Gesellschaft mit dem Evangelium provoziert werden soll? Gibt die Kirche damit nicht häufiger Anlass zum Ärgernis als Anstoß zum Umdenken? Ist der Umstand, dass Frauen in der Kirche nicht wenigstens so viel an Gleichheit und Verantwortung haben, wie es ihnen in der Gesellschaft das Grundgesetz garantiert, nicht ein signifikantes Indiz für eine kulturelle Rückständigkeit der Kirche? Und sind nicht die regelmäßig wiederkehrenden Versuche, in Fragen der Sexualmoral neben dem persönlichen Gewissen eine weitere normative Instanz zu etablieren, Ausdruck eines tiefsitzenden Ressentiments gegen den Grundsatz der...

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