Shababtalk – «Stimme einer Generation»
Frei schreiben! Endlich frei sprechen! Plötzlich war unzensierter Meinungsaustausch möglich! Nie zuvor hatten junge Menschen in arabischen Ländern die Möglichkeit, sich zu kritischen gesellschaftlichen und politischen Prozessen frei zu äußern. Die Erfindung der sozialen Medien: Wow! Auch auf mich wirkten Facebook und Twitter wie eine Offenbarung: Plötzlich konnte ich mitlesen, verstehen, erkennen, was die junge Generation in Arabien denkt, meint und fühlt, was sie umtreibt, wovor sie Angst hat und worauf sie sich freut.
Mit einem Mal sprachen vor allem die jungen Menschen ohne Angst vor der Zensur, den Geheimdiensten, den Sittenwächtern, den Eltern und Altvorderen. Die sozialen Netzwerke sorgten in der arabischen Welt für großes Aufsehen und schufen das Zeitalter der Aufklärung. Auch auf mich wirkte das nachhaltig, auch ich wollte mich nicht nur äußern, sondern darüber hinaus wissen, was die anderen jungen Leute beschäftigt. Während in der Öffentlichkeit, in Cafés und Restaurants, auf der Straße, in den Schulen und Universitäten in fast allen arabischen Ländern immer aufgepasst werden musste, vor wem man was über wen kritisch sagte, eröffnete sich uns auf einmal diese wahnsinnig große digitale Freiheit. Und das nahezu unbemerkt von denen, die sonst immer alles kontrollieren und überall das Sagen haben. Eltern und die Spitzel der Geheimdienste nahmen Facebook anfangs noch nicht ernst, sie sahen nicht, dass sich ein neues Massenmedium etablierte, dass das Zeug dazu hatte, etwa Massen(protest)bewegungen in Gang zu setzen. Die Formulierung der arabischen Eltern lautete immer: «Hör auf, auf Facebook zu spielen.» Da hatten viele Eltern, genau wie die sonst alles überwachenden Regierungen, einfach noch nicht verstanden, was für ein machtvolles Instrument Mark Zuckerberg da erfunden und in die Welt gesetzt hatte.
Die arabischen Länder sind teils als Diktaturen organisiert, in denen öffentliche Debatten zu politischen und gesellschaftlichen Themen nicht üblich sind. So gab und gibt es auch im Vorfeld von Wahlen wie zum Beispiel in Ägypten keine monatelangen Diskussionen in der Öffentlichkeit, wie man sie aus Europa kennt. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Jugend ist, tatsächlich denkt und darstellt, und der Sichtweise, wie die Regierungen sie sehen wollen, ist ziemlich groß. Ich war schon in so vielen arabischen Ländern, in denen beides nicht mehr zusammenpasst, in denen sich die Jugend viel schneller als die Generation, die die Politik beherrscht, entwickelt. Die junge Generation ist informationsdurstig und kann in den sozialen Medien genug finden, um diesen Durst zu stillen. Es gibt ebenso wie in Europa eine Generation der Digital Natives, und es gibt einen Underground, denn oft werden NGOs, Websites oder freie Kunst oder Theater verboten, Filme werden selbst im frei wirkenden Libanon zensiert. Ich vergleiche ungern zwischen den Ländern, denn jedes Land ist individuell. Trotzdem erkennt man es in jedem dieser Länder immer wieder: Bei den jungen Leuten bricht gerade etwas auf. Und sie brechen mit gewohnten Werten, Traditionen, Gefühlen, Gedanken, weil sie langsam das Spiel des Systems verstehen. Das fühle ich bei vielen jungen Menschen in den Ländern. Manche verstehen langsam, dass sie instrumentalisiert werden: von den Systemen, von der Religion, von den Predigern, von den Politikern.
Die junge Generation ist voller Energie und Ambitionen und will etwas aus ihren Leben machen. Was die ältere Generation nicht rafft, ist, dass die Jugend sich per Knopfdruck in andere Welten beamen und sich Zugang zu Informationen verschaffen kann. Die Zensur der TV-Stationen mag funktionieren, aber im Netz gibt es immer einen Weg hinaus. Da sehen die Jugendlichen dann auch zum Teil ganz andere Bilder als die, die die staatlichen Medien produzieren. Warum wird z.B. in Ägypten nicht gezeigt, wie Journalisten oder Aktivisten verhaftet werden? Warum darf eine Ivanka Trump in Saudi-Arabien, wo Frauen und Männer offiziell nur streng voneinander getrennt existieren dürfen, neben dem König sitzen? Warum ist es nicht transparent, wer an Jugendkonferenzen teilnehmen darf, die vom marokkanischen Ministerium für Jugend organisiert werden? In Tunesien, wo die jungen Menschen die Revolution mitgestaltet haben, ist nun wieder ein älterer Herr an der Macht – wie soll er die Jugend repräsentieren? Warum dürfen die anderen etwas, was wir nicht dürfen? Die jungen Menschen hinterfragen und merken, dass etwas nicht stimmt. Sie merken auch, dass die ganzen Unterschiede und Differenzen innerhalb des Islams zwischen den Schiiten und Sunniten nicht so groß sind, wie sie dargestellt werden. Sie merken, dass die religiösen Eliten eher nach Unterschieden zwischen Sunniten und Schiiten suchen und diese propagieren, damit die Jugend keine starke Einheit gegen die Altvorderen bilden kann. Und so kommt es, dass die jungen Leute mehr und mehr nicht länger das mittragen, was die Regime wollen.
Ich erlebe allerdings manchmal das Phänomen, dass mir junge Leute privat auf Facebook etwas zu einem politischen Thema schreiben, aber auf meiner Seite oder der Seite der Sendung dann eine ganz andere, konforme Meinung posten. Es wird noch dauern, bis es möglich sein wird, ohne Angst und jederzeit offen zu sagen oder zu schreiben, was wirklich gedacht wird. Das ist ein Prozess. Aber wenn junge Menschen aus den arabischen Ländern mit ihrer Meinung nach außen gehen, sollten wir in Europa ihnen unbedingt eine Chance geben, sich Gehör zu verschaffen, ihnen zuhören – denn sie sind die Zukunft und nicht die alten Regimes.
Ich war 29 und erinnere mich genau, wie ich, zusammen mit Millionen junger arabischer Menschen, erstmals die Chance dazu hatte, mich im virtuellen Raum frei auszutauschen. Facebook war plötzlich omnipräsent. Für deutsche Jugendliche und junge Erwachsene, die es gewohnt sind, ihren Eltern, Lehrern oder anderen Erwachsenen widersprechen zu dürfen, mit ihnen zu diskutieren, angstfrei ihre Meinung äußern zu können, ist das unglaubliche Freiheitsgefühl dabei wahrscheinlich nur schwer nachvollziehbar.
Wobei in den klassischen Medien wie Fernsehen und Rundfunk ich es sowohl in Arabien als auch in Deutschland immer noch als etwas Besonderes empfinde, wenn junge Menschen ihre Meinung vertreten dürfen. Aber in den arabischen Ländern ist dies besonders auffällig: In den großen, meinungsbildenden Talkshows kommen meist die gleichen, altbekannten und gestandenen Politiker oder religiösen Hardliner zu Wort, ohne dass der junge Teil der Bevölkerung mitreden darf. Diese Sprecher stellen zwar bei weitem nicht die prozentual größte Anzahl von Menschen in der Region – denn das ist die Jugend! –, aber ihre mächtigste Gesellschaftsschicht dar.
Die typischen arabischen Talkshows laden keine jungen Menschen ein, und absurderweise schon gar nicht, wenn es um zukunfts- und richtungsweisende Themen geht. Natürlich gibt es Jugendorganisationen, auch die der Parteien, deren Sprecher dann und wann zu Wort kommen dürfen. Sie sind aber mitnichten ein fester Bestandteil der täglichen politischen Diskussion. Und selbst wenn sie mitreden dürfen, sprechen sie nur für einen Teil der Jugend, den gut gebildeten, den reichen, den systemkonformen. Die meisten, die mitreden wollen, werden nicht gehört und suchen ihren Weg in die sozialen Medien, um dort ihre Meinung frei kundzutun. Die Folgen dieses Nicht-hören-Wollens der jungen Stimmen werden immer wieder unterschätzt. 2011 hat das zu den Revolutionen in den arabischen Ländern geführt.
Außerhalb der sozialen Medien sieht die Welt anders aus. Die arabischen Länder sind eindeutig konservativ, religiös und traditionell geprägt. Trotzdem ist spürbar, dass sich etwas bewegt. Ich möchte es so formulieren: Die jungen Menschen wollen sich aussprechen, rufen nach Aufmerksamkeit – aber sind dabei noch leise. Ich höre sie aber deutlich, auf meinen Reisen. Wo auch immer ich hinkomme, wollen mir junge Leute ihre Sicht der Dinge, ihre Wünsche an die Regierenden, aber auch ihre Botschaften an die Welt mitteilen. Aber von den lokalen und panarabischen Medien werden sie selten gehört. Logischerweise werden sie so auch von der Politik nicht wahrgenommen. Es ist von Land zu Land verschieden: Während man im Libanon und in Tunesien offen über Politik streiten darf und auch junge Menschen ihre Meinung äußern, heißt das aber nicht, dass ihre Meinung beachtet wird. In Ägypten und Saudi-Arabien spricht man dagegen besser gar nicht kritisch über Politik – egal, wie alt oder jung man ist, und schon gar nicht in den Medien. Diese beiden Länder rangieren auf der Rangliste der Pressefreiheit 2018 auf Platz 161 und 169 von 180 beobachteten Ländern.
Genau deshalb ist es so wichtig, dass es Shababtalk gibt und diese Sendung den jungen Menschen eine Plattform gibt – damit sie sich frei äußern können und beachtet werden. Andere Medien berichten dann über unsere Sendung, und schon diskutiert ganz Arabien, was einzelne junge Menschen bei uns zum Ausdruck gebracht haben. Oft sind ihre Gedanken weit entfernt vom arabischen Mainstream oder der staatlich erwünschten Meinung, spiegeln aber dafür nicht selten die Meinung von Millionen wider. Noch sieht es von außen danach aus, als seien die arabischen Gesellschaften verkrustet, aber ich weiß, dass sich da viel bewegt, dass etwas vorangeht, dass vieles in Bewegung ist. Dass die jungen Menschen immer mehr ihre eigenen Lebensideen diskutieren, voranbringen und auch umsetzen, beobachte ich immer wieder und auch immer mehr. Egal, wo ich hinkomme. Ich denke, dadurch, dass wir bei Shababtalk...