Prolog
Man soll das Handeln der Menschen nicht belächeln,
nicht beweinen, nicht hassen, sondern es verstehen.
Baruch Spinoza
»Er wolle keine Beziehung, sagte mir der Mann, in dessen Bett ich nach einer feuchtfröhlichen Nacht gelandet war. Ich war achtzehn Jahre alt, er siebenundzwanzig – und mir war das recht. Ich sagte ihm, ich käme selber gerade aus einer Beziehung. Wolle mich einfach ein bisschen rumtreiben ohne Verpflichtungen. Wir waren uns einig und trafen uns wieder. Wir kochten zusammen, machten ausgedehnte Touren mit dem Bike, besuchten Konzerte und lagen lange Sonntage im Bett. An einem dieser Sonntage, ich war inzwischen zwanzig, sprachen wir über unser Verhältnis. Unsere Beziehung. Ob es in diesen Jahren daneben vielleicht noch andere gegeben habe. Es hatte. Erst schilderte er mir ein paar Liebesabenteuer. Dann gab ich meine Handvoll zum Besten. Worauf er schweigsam wurde, sich schließlich anzog und mich verließ.
Nach zwei Wochen kam er zurück und bat mich, es nochmals zu versuchen. Ich lehnte ab. Nicht wegen seiner anderen Geschichten, sondern weil er unsere Abmachung verraten hatte: Wir sind zusammen, weil wir uns viel bedeuten. Treue ist dafür keine Bedingung. Und ich wollte keinen Mann als Partner, der sich selber sexuelle Freiheiten herausnahm, die er aber seiner Partnerin nicht zugestehen konnte.«
Die Mehrheit der Menschen wünscht sich, dass ihre Beziehung ihnen alles bietet: eine emotionale Heimat, Stabilität und sexuelle Erfüllung. Die Liebe ist, wie Paartherapeut Klaus Heer sagt, monogam. Nur der Mensch ist es nicht.
Nach dem Erlebnis mit dem eifersüchtigen Mann hat die Frau studiert, einen Beruf erlernt und viele Krisen gemeistert. Noch mehr Krisen hat sie passiv miterlebt, von Freundinnen und Freunden. Und immer ging es um dasselbe. Insbesondere wenn Kinder im Spiel sind, erlahmt die Lust auf den Partner mit den Jahren. Nicht aber der Appetit auf Sex. Für viele Frauen erwacht dieser Appetit erst dann wirklich, wenn sie schon verheiratet sind und Kinder haben. Und oft richtet er sich dann nicht auf den Mann an ihrer Seite, sondern zum Beispiel auf den Arbeitskollegen – oder den Freund der Freundin. Manche gehen sexuelle Affären ein, andere versagen sich das, können aber nicht verhindern, dass sie sich immer weiter von ihrem Partner entfremden.
Wenn wir auch einige Monate, vielleicht sogar Jahre gut mit unseren Lügen leben können, so stolpern wir irgendwann doch darüber.
So wie bei Tina. Sie führte genau das Leben, von dem die meisten jungen Frauen träumen, wenn man sie nach ihren Zukunftsplänen fragt. Sie war Mitte 30, hatte zwei Kinder, einen Mann, eine Karriere, ein Haus. Alles lief rund; es schien Tina an nichts zu fehlen. Im Gegenteil: Ihr Leben war so süß wie eine reife Sommerfrucht. Und dann zerplatzte sie an einem einzigen Nachmittag. Oder vielmehr nach allem, was diesem Nachmittag folgen sollte.
Tina dachte, dass sie sich selbst gut kenne. Ihr Leben, ihre Familie, ihre Träume, ihre Möglichkeiten. Sie hatte sich immer für eine ernste und ehrgeizige Person gehalten, die sich an ihre Versprechen hielt. Bis eines Tages der blonde Michael in Tinas Büro schlenderte und sich als neuer Mitarbeiter vorstellte. Sie kannte Michael von früher, er war nett und lustig und sie verbrachte gern ihre Zeit mit ihm. Sie waren Arbeitskollegen, die zusammen in die Mittagspause gingen, nichts mehr. Dachte sie. Bis er eines Tages vorschlug, nach Feierabend ein bisschen rauszufahren, an den Waldrand. Es war Frühling, und Tina sagte ja, warum nicht? Sie meldete sich zu Hause ab und nach Feierabend zog sie mit Michael los. Sie setzten sich auf eine Wiese, ein hübsches Plätzchen. Dort saßen sie nebeneinander und streckten ihre Gesichter in die Sonne. Und dann drehte er sich plötzlich zu ihr, sah sie an und berührte ihren Arm. Dann umarmte und küsste er sie, einfach so. Sie war überrascht, es blieb ihr aber nicht viel Zeit, sich das genauer zu überlegen.
Es gibt einen Unterschied zwischen »willens« und »bereit« sein, etwas zu tun: Man kann im Sessel sitzen und willens sein, das Haus zu verlassen, aber bereit dazu ist man erst, wenn man Schuhe und Mantel angezogen hat. Hätte man Tina vor ihrer Affäre interviewt – sie hätte Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Loyalität und Treue als zentrale Säulen ihres moralischen Universums bezeichnet. Sie hätte gesagt, dass sie immer nach den Regeln spielen würde und sie hätte ihr späteres Verhalten – wenn man es ihr damals als das von jemand anderem geschildert hätte – als unmoralisch verurteilt. Sie war willens, eine auf Treue und Vertrauen basierende Beziehung bis an ihr Lebensende zu führen. Nun zeigte sich aber, dass sie dazu doch nicht bereit war.
Als Michael sie küsste, leistete sie keine Sekunde Widerstand. Das war alles nicht vorgesehen gewesen. Zweigleisig zu fahren war für sie nie in Frage gekommen. Vorgesehen war, dass Tina sich an den Plan hielt. Und der Plan war, ein anständiges Mädchen zu bleiben. Doch der hielt gerade so lange an, wie ein Nervenimpuls einer Berührung der Haut bis zum Hirn eines Menschen dauert. Bald wälzten sie sich auf der Wiese herum. Und sie schämten sich nicht einmal dafür.
Es blieb nicht bei dieser einen Begegnung. Tina hatte schon fast vergessen, wie Sex geht – abgesehen davon, dass er irgendwo in der Grauzone unterhalb des Kinns stattfindet. Sie hatte nicht nur die Beziehung zu ihrem Mann vernachlässigt, sondern auch die zu ihrem eigenen Körper. Nach Michael kam bald ein anderer. Und dann noch ein anderer. Wenn sie zu ihrem Liebhaber fuhr und ihr Herz im Brustkorb klopfte, als ob es sich aus seinem Gefängnis befreien wollte, dann schwor sie sich, niemals zu bereuen.
Bis sie aufflog und ihre Beziehung in die Brüche ging. Dann bereute sie. Nicht den Seitensprung selber, sondern dass sie ihre Bedürfnisse nicht früher erkannt und sie gegenüber ihrem Mann offengelegt hatte. Denn hätte sie nicht zuerst sich selbst und dann ihren Mann belogen, hätte sie ihn auch nicht so verletzt. Hätte sie ihre Bedürfnisse offengelegt, hätte er darauf reagieren, seine Konsequenzen ziehen können. Er hätte sich weniger hintergangen und ohnmächtig gefühlt. Vielleicht hätte ihre Ehe eine Chance gehabt. Wäre sie nur ehrlich gewesen. Aber lieber als sich der Auseinandersetzung zu stellen, hatte sie sich selbst und ihm etwas vorgemacht.
Ich habe viele Beziehungen am Problem falscher Treueerwartungen zerbrechen gesehen. Und viele Fremdgeherinnen haben mir erzählt, dass ihr Verhalten sie selbst überrascht hat. Dass ihr moralisches Urteil über Fremdgeher immer eindeutig gewesen war – bis sie selber in eine Situation schlitterten, in der sie sich nicht mehr im Griff hatten. Dass sie erst dann begriffen, dass die Sache vielleicht komplizierter ist, als sie ursprünglich gedacht hatten.
Die meisten Menschen wissen, wie es sich anfühlt, die erste große Liebe zu betrügen. Es passiert in einem schäbigen Hotelzimmer, auf einem Boot, am Strand. Man befindet sich in einer besonderen Stimmung, leichtsinnig, vielleicht betrunken. Das Handy liegt im Hotel, ist auf lautlos gestellt, die Batterien sind leer. Da ist dieser Mann oder diese Frau, die Situation ist vollkommen, wie im Paradies. Ein magischer Moment kommt zum anderen, wie unter der Regie eines geheimen Zaubers. Und die wenigsten Menschen möchten die Erinnerung an solche Momente missen, weil wir damit an den Wurzeln unserer Herkunft rühren.
Dass Frauen ihre Bettgefährten stets vorsichtiger gewählt haben als umgekehrt, weil sie das Risiko der Schwangerschaft trugen, besagt nichts über ihre Lust. Tatsache ist, dass die Erfindung der Pille und die Emanzipation das weibliche Sexualverhalten revolutioniert haben. Heute ist es für Frauen durchaus nicht mehr ausgefallen, eine größere Anzahl Sexualpartner zu haben, sich selber zu befriedigen oder sich auf gleichgeschlechtliche Beziehungen einzulassen. Ich kenne Single-Frauen, die mit vielen verschiedenen Männern schlafen und das auch genießen. Aber sie achten tunlichst darauf, dass niemand davon erfährt. Denn Schwangerschaften lassen sich verhüten, aber eine Frau riskiert noch immer ihren Ruf, wenn sie sich verhält wie ein Single-Mann und Gelegenheiten beim Schopf packt. Also ganz normal.
Ich hatte schon einige Erfahrung mit untreuen Freunden, bevor ich selber meine erste große Liebe betrog. Er war amerikanischer Student in der Schweiz, und nach zwei Jahren Beziehung fuhren wir erstmals getrennt in die Ferien. Er zum Theaterfestival, ich zum Klettern mit ein paar Leuten. Aber dann reisten alle ab, nur mein Kletterpartner und ich blieben zurück. Wir sicherten uns in der Wand, saßen Seite an Seite vor dem Kocher, lagen nebeneinander im Zelt. Und plötzlich lagen wir aufeinander. Nicht weil ich eine Beziehung zu diesem Mann wollte, sondern weil es die naheliegendste Sache der Welt war. Als ich von den Ferien zurückkam und meinem Freund davon erzählte, stand er auf und sagte: »Ich gehe. Zurück nach Amerika.« Ich war am Boden zerstört.
Unser Wunsch nach einer langjährigen, tiefen Partnerschaft entspricht letztlich der Sehnsucht danach, eine Familie, eine Heimat zu haben. Ein legitimer, ein menschlicher Wunsch.
Ich frage mich heute: Ist es vielleicht gar nicht die Untreue, die Ehen kaputtmacht, sondern die unrealistische Erwartung, dass Sex nur innerhalb der Ehe stattfinden soll? Und betrifft dieses Problem Frauen nicht auch deshalb besonders, weil sich ihre Sexualität anders entwickelt als die der Männer? Weil sie oft Jahre brauchen, bis sie überhaupt Freude an ihrer Sexualität entwickeln? Weil sie dann meistens schon in einer...