EINFÜHRUNG
Wie gut funktionieren doch Scheuklappen!
Es ging mir nicht anders als so vielen Menschen. Ich wollte mir nicht ausmalen, was es für mich bedeuten würde, eines Tages alt und gebrechlich zu sein, die Erinnerung an meine Vergangenheit zu verlieren, meine Lieben und mich selbst nicht mehr zu kennen. Die Fernsehauftritte von prominenten Alzheimerpatienten beunruhigten mich so sehr, dass ich unmittelbar danach wieder die Scheuklappen anlegte.
Zeitungsberichte über Skandale in Altenheimen las ich nicht zu Ende. Immer dasselbe, dachte ich, eher ermüdet als empört. Das wissen wir doch alle schon so lange: dass erstens die Pflege- und Betreuungskräfte keine gesellschaftliche Wertschätzung erfahren, dass sie zweitens überfordert, immer schlechter ausgebildet und unterbezahlt sind, und sie drittens aller Voraussicht nach in der Altersarmut landen werden. Nie führte ich gezielt Gespräche über Altenpflege, ich speicherte eher zufällig Informationen, forschte nicht weiter nach. Mehr wollte ich darüber nicht wissen. In meiner Familie hatte es keine Hochbetagten gegeben. Niemand im Freundeskreis war über einen langen Zeitraum pflegebedürftig gewesen und hatte meinen Beistand gebraucht. So konnte ich mein ganz persönliches Tabu bis zu meinem 65. Lebensjahr aufrechterhalten.
Dann änderte sich mein Fokus. Ich begriff Demenz nicht länger als ein Elendsthema, mit dem man am besten klarkam, wenn man es sich so lange wie möglich vom Leib hielt. Stattdessen entdeckte ich vor allem eins: ein großes Beziehungsthema für Familien, eine Reifeprüfung für die ganze Gesellschaft. Seitdem ist mir klar, wie sinnlos die im Fernsehen üblichen kontroversen Pflegediskussionen sind. Wir brauchen eine Wertediskussion. Ein Satz, der verlässlich immer wieder auftaucht, lautet: »Die Altenpflege in Deutschland hat keine Lobby.« Wie ist es möglich, dass sie überhaupt eine Lobby braucht? Ist es nicht selbstverständlich, dass die Pflege und Begleitung alter Menschen – sprich die Zukunft jedes einzelnen von uns – allen in der Gesellschaft ein zentrales Anliegen sein muss, elementar wichtig wie sauberes Wasser und funktionierende Ampelanlagen? Und warum nehmen wir es als unveränderbar hin, dass die Deutschen im Hinblick auf das Altern vor nichts mehr Angst haben, als den Verstand zu verlieren. Man hält das hierzulande für normal, man glaubt, es sei in anderen Ländern genauso. Stimmt aber nicht. In einer Studie wurden Brasilianer, Amerikaner und Deutsche gefragt, welche Aspekte des Alters sie am meisten fürchten. Heraus kamen drei völlig unterschiedliche Ergebnisse: Bei den Brasilianern ist es in erster Linie der Verlust des sexuellen Antriebs, bei den Amerikanern das Übergewicht und bei den Deutschen die Demenz.1
»Die unheimliche Geißel des Alters«
Das Bild, das in der Öffentlichkeit von der Alzheimerkrankheit verbreitet wird, hat auch mich geprägt. Die meisten Schlagzeilen machen Angst und nicht wenige schüren Panik. Von der »unheimlichen Geißel des Alters« ist die Rede. Eine typische Bildunterschrift lautet: »Der zunehmende Verlust des Gedächtnisses und anderer kognitiver Fähigkeiten macht die Patienten hilflos und einsam.« Überrascht es irgendjemanden, wenn der Blick in eine so hoffnungslose Zukunft gemieden wird? Mein Interesse am Thema »Älterwerden« verließ mich immer knapp bevor die Frage aufkam: Wie wird mein Leben sein, wenn ich meine Autonomie verloren habe und auf fremde Hilfe angewiesen bin? Das wollte ich mir nicht vorstellen.
Natürlich kannte ich entsprechende Berichte von Angehörigen. Für das, was die Frauen – immer waren es Frauen! – leisteten, habe ich sie, wie es vermutlich jeder Mensch tut, bewundert. Ich sah auch, wie sehr sie darunter litten, wenn eine Entscheidung zur Heimunterbringung anstand. Es entlastete sie sichtlich, darüber zu reden, aber für mich überstiegen die Details manchmal die Grenze des Erträglichen. Und ich dachte: Meine Güte, wenn es mir schon beim Zuhören schlecht geht, wie erbärmlich würde ich als pflegende Tochter oder Ehefrau versagen! Sehr viel später erst begriff ich, dass die Übelkeit, die in mir hochstieg, Angst war.
Nein, ich habe noch nie, noch nicht einmal über wenige Stunden, einen verwirrten Menschen versorgt. Ich habe keinen Urin weggewischt und keine falschen Beschuldigungen ausgehalten, im Sinne von: Sie haben meine Uhr geklaut. Ich weiß nicht, wie es mir ginge, wenn mein Mann Nacht für Nacht, Stunde um Stunde, nach irgendetwas suchend in der Wohnung umherirren würde. Aber ich weiß inzwischen, wo ich mir im Ernstfall Hilfe holen könnte. Ich weiß, wer mir den Rücken stärken würde, und ich gehe davon aus, dass mein Mann es weiß, falls eines Tages ich diejenige bin, die zum Pflegefall wird. Inzwischen besitze ich Kriterien für eine gute oder eine schlechte Unterstützung in der häuslichen Pflege. Das erfuhr ich vor allem durch meine Besuche bei pflegenden Angehörigen. (Die Anonymisierung ihrer Namen wurde mit einem * hinter dem Namen gekennzeichnet.) Ich kann unterscheiden zwischen einer guten und einer schlechten Einrichtung für Menschen mit Demenz. Denn ich habe aufgehört wegzuschauen. Es hat viele Jahre gedauert, bis es so weit war.
Wen interessiert der psychosoziale Faktor?
Dass es letztlich doch geschah, verdanke ich einer immer wiederkehrenden beruflichen Situation. Seit 2004, seit ich zu Lesungen aus meinen Büchern über die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges eingeladen werde, taucht beim anschließenden Austausch regelmäßig die Frage auf: »Wissen Sie etwas über den Zusammenhang von Kriegstrauma und Demenz?« Meine Antwort war immer die gleiche: »Es gibt dazu keinerlei Studien. Der psychosoziale Faktor ist für die Demenzforschung ohne Bedeutung. Hier geht es um die Entwicklung neuer Medikamente und Untersuchungsmethoden.« Ich hätte die Frage als einen Auftrag zur Recherche sehen können, tat es aber nicht. Ich war noch nicht bereit, über meinen Schatten zu springen.
Schließlich, 2011, siegte meine journalistische Neugier. Ich beschloss, dem Thema »Kriegstrauma und Demenz« für eine Hörfunksendung nachzugehen und besuchte dazu Alteneinrichtungen. Und dann? Nicht Schrecken und Ohnmachtsgefühle überfielen mich, sondern etwas völlig anderes geschah. Ich begann zu staunen. Nirgendwo habe ich so viel Kreativität angetroffen wie in der Fürsorge für Menschen mit Demenz. Es kam mir vor wie eine stille Revolution.
Wie war das möglich? Ohne Zweifel hatte ich es bei meinen Gesprächspartnern mit Ausnahmepersönlichkeiten zu tun. Dies ergab sich aus der Thematik: Kriegstrauma, Alter, Demenz, gleich drei Tabus. Nur wenige Menschen sind dafür empfänglich. Sie müssen in der Lage sein, einen Traumatisierten, der sich sprachlich nicht mehr ausdrücken kann, in seinen Ängsten und seiner Traurigkeit wirklich wahrzunehmen. Sensibilität allein reicht nicht. Auch biografisches und historisches Wissen ist erforderlich. Vor allem aber Zeit. Es muss im Berufsalltag auch Phasen des Verweilens, des Innehaltens geben. Menschen, die in der häuslichen oder stationären Altenpflege, in Krankenhäusern, in Arztpraxen oder in der Seelsorge arbeiten, brauchen Zeit, um auszuprobieren, in welcher Weise ein verwirrter Mensch in einer bestimmten Situation beruhigt und getröstet werden kann.
Ein lösbares Problem
Meine Gespräche und meine Besuche in Alteneinrichtungen vermittelten mir vor allem eines: Es gibt unzählige gute Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Demenz. Wir haben es hier keineswegs mit einem unlösbaren Problem zu tun. Die Richtung ist bekannt. Wir müssen ihr nur folgen. Die Forschungsergebnisse machen Mut. »Es mangelt uns nicht an Wissen darüber, was Menschen mit Demenz brauchen, was ihre Bedürfnisse sind, was ihnen guttut«, sagt der Pflegeexperte Christian Müller-Hergl. »Aber die Rahmenbedingungen der Langzeitpflege machen es kaum möglich, dieses Wissen in die Praxis zu überführen. Die Schere zwischen dem, was man weiß und dem, was üblicherweise machbar ist, geht immer weiter auseinander.«
Dies ist ein Buch über Beziehungen. Es geht hier nicht um die Organisation und die Kosten in der Pflege und Begleitung altersverwirrter Menschen. Es geht nicht um die Vorund Nachteile von Heimen, Wohngruppen oder Einrichtungen der Tagespflege. Es wird kein Kriterienkatalog aufgestellt. Wer dazu Informationen braucht, findet sie in örtlichen Beratungsstellen, im Internet, bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und vielen anderen Netzwerken.
Die meisten Menschen, die in meinem Buch zu Wort kommen, kennen sich aus mit guten Arbeitsbedingungen: wenig Zeitdruck, viel Teamgeist, gute Fortbildungen und Supervision. Sie halfen mir, mich in der Parallelwelt einer guten Demenzpflege zurechtzufinden. Es waren überwiegend Menschen mit Visionen. Sie überzeugten mich vor allem durch ihren Mut Neues auszuprobieren, auf die Gefahr hin zu scheitern. Dass es sich bei ihnen um Ausnahmen in der Altenpflege handelt, muss nicht so bleiben. Aus Exoten können Vorbilder werden – das kennen wir aus anderen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozessen.
Von Pionieren lernen
Auch das Engagement für Aidskranke hat klein angefangen, mit einer Handvoll Leute. Das war in den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt der Aidshysterie und der Angst vor Ansteckung. Damals gab es ernst gemeinte Vorschläge, wonach HIV-Infizierte tätowiert oder in Lager gesteckt werden sollten. Es wurde der flächendeckende Aidstest für alle deutschen Erwachsenen gefordert. Bekanntlich kam es ganz anders.
Eine neue gesellschaftliche Formation, die Aidshilfe, rückte die Menschenrechte in den Vordergrund und beendete die Diskriminierung von Aidskranken. Aufklärung, neue Medikamente, ein Umdenken im Gesundheitswesen, das...