Küstrin
Mein lieber Papa,
Ich habe mich lange nicht unternehmen mögen zu meinem lieben Papa zu kommen, theils weil es mir abgerathen, vornehmlich aber weil ich mich noch einen schlechteren Empfang, als den ordinairen sollte vermuthen sein; und aus Furcht, meinen lieben Papa mehr mit meinem gegenwärtigen Bitten zu verdriessen, habe es lieber schriftlich thun wollen. Ich bitte also meinen lieben Papa, mir gnädig zu sein, und kann hiebei versichern, dass, nach langem Nachdenken, mein Gewissen mir nicht das Mindeste gezeihet hat, worin ich mir etwas zu reprochiren haben sollte; hätte ich aber wider mein Wissen und Willen gethan, das meinen lieben Papa verdrossen habe, so bitte ich hiermit unterthänigst um Vergebung, und hoffe, dass mein lieber Papa den grausamen Hass, den ich aus allem Seinen Thun genug habe wahrnehmen können, werde fahren lassen; ich könnte mich sonsten gar nicht darein schicken, da ich sonsten immer gedacht habe, einen gnädigen Vater zu haben und ich nun das Contraire sehen sollte. Ich fasse dann das beste Vertrauen, und hoffe, dass mein lieber Papa dieses Alles nachdenken und mir wieder gnädig sein wird …[28]
«Sein eigensinniger, böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet; denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht. Zum Andern weiss er wohl, dass ich keinen effeminirten Kerl leiden kann, der keine menschliche Inclinationen hat, der sich schämt, nicht reiten noch schiessen kann, und dabei malpropre an seinem Leibe, seine Haare wie ein Narr sich frisiret und nicht verschneidet, und ich Alles dieses tausendmal reprimandiret, aber Alles umsonst und keine Besserung in nichts ist. Zum Andern hoffärtig, recht bauernstolz ist, mit keinem Menschen spricht, als mit welchen, und nicht populär und affable ist, und mit dem Gesichte Grimassen macht, als wenn er ein Narr wäre, und in nichts meinen Willen thut, als mit der Force angehalten; nichts aus Liebe, und er Alles dazu nichts Lust hat, als seinem eigenen Kopf folgen, sonsten Alles nichts nütze ist. Dieses ist die Antwort.»[29]
Der Briefwechsel zwischen dem sechzehnjährigen Kronprinz Friedrich und seinem Vater, dem «Soldatenkönig» Friedrich Wilhelm I., rührt unmittelbar. Der Junge hat Angst vor seinem Vater. Er tritt ihm daher nicht unter die Augen, sondern schreibt einen Brief. Er bittet für unbewusste Vergehen um Vergebung, weil er sich einer Schuld nicht bewusst sei. Dadurch hoffe er, den grausamen Hass seines Vaters zu besänftigen und seine Gnade wiederzuerlangen. Nun, der Vater war durch den Brief in der Tat gerührt, aber in anderer Weise, als sein Sohn erhofft hatte. Er reagierte mit einer wilden Schimpfkanonade: Eingefasst vom zentralen Vorwurf mangelnder Vaterliebe und fehlenden Gehorsams sind zahlreiche Einzelvorwürfe: Er sei böse, eigensinnig, unmännlich, unreinlich, geckenhaft, hochnäsig, aufgeblasen, spottlustig. Von Vergebung keine Spur. Ein Weg zur Versöhnung wurde nicht aufgezeigt. Man sei schon ein Häretiker, schrieb Friedrich gut zwei Jahre später, wenn man nicht in allen Dingen mit dem Empfinden des Vaters übereinstimme.[30] Der wiederum gab sich wenig Mühe, die Abneigung gegenüber seinem Sohn zu verbergen. Er brüllte ihn an, riss ihn an den Haaren, schlug ihn, manchmal auch in der Öffentlichkeit. Er selbst hätte sich totgeschossen, höhnte er einmal, wenn er von seinem Vater so behandelt worden wäre. Aber nicht einmal dazu sei Friedrich in der Lage.
Reinhold Koser, Direktor der preußischen Staatsarchive und preußischer Staatshistoriograph um 1900, behandelte in seiner erschöpfenden Friedrich-Biographie das «Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn» in einem Kapitel, das er «Im Elternhause» nannte.[31] Der Titel ruft die bürgerliche Familie als Referenzrahmen für das Geschehen auf. Doch es ging um anderes. Zum einen ist die fürstliche Lebensform mit wechselnden Wohnsitzen, Ammen, Erziehern und Erziehungsplänen nur schwer mit der bürgerlichen Kleinfamilie übereinzubringen. Wie es um den Gefühlshaushalt der so Erzogenen bestellt war, wissen wir nicht. Unsere Rührung muss weder der des kleinfamilial geprägten wilhelminischen Historikers noch der der Herrscherfamilien des 18. Jahrhunderts entsprechen. Zum anderen war der Vater-Sohn-Konflikt nicht nur eine «private» Tragödie und Friedrichs Brief nicht nur eine Kurzversion des Kafka-Briefes an den Vater. Der König war – in heutigen Begriffen – gleichzeitig Gesetzgeber, Regierungschef und militärischer Oberbefehlshaber der brandenburgisch-preußischen Staaten. Der Kronprinz würde in all diesen Funktionen sein Nachfolger sein. Ein unfähiger Thronerbe aber würde alles in Frage stellen, was seit Mitte des 17. Jahrhunderts drei Herrscher aufgebaut hatten: der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640–1688), Friedrich III., der die Königswürde für das Land Preußen errang und seit seiner Selbstkrönung 1701 Friedrich I. König in Preußen (1688–1713) hieß, und schließlich Friedrich Wilhelm, der Soldatenkönig, selbst (1713–1740). Das Königreich der Grenzen, vielfach zerstückelt und inhomogen, dessen innere Festigung und militärische Sicherung der König zu seiner Aufgabe gemacht hatte, vertrug nach seiner Ansicht keinen «effeminirten Kerl […], der sich schämt, nicht reiten noch schießen kann» und der alle Ratschläge und Ermahnungen seines Vaters in den Wind schlug.
Vater-Sohn-Konflikte in einer Herrscherfamilie beinhalteten daher im späten 17. und 18. Jahrhundert neben einem persönlichen immer auch ein strukturelles Problem. Letzteres verschärfte sich, weil Alternativlösungen zur Weitergabe der Herrschaft ausfielen. Nach den Kriegswirren des 17. Jahrhunderts hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass zur Vermeidung weiterer Kriege und Unruhen die Herrschaft ungeteilt dem ältesten Sohn zufallen müsse. Eine Teilung unter den Kindern oder unter den Söhnen ließ Territorien ebenso schnell zerfallen, wie sie zusammengekommen waren, und schuf ständig Anlässe für Grenzstreitigkeiten und neue, womöglich gewaltsame Territorialbildungen. Eine Bestimmung des Alleinerben durch den regierenden Herrscher ohne Rücksicht auf die Geburtsreihenfolge schuf Probleme mit enttäuschten Geschwistern, die versucht waren, sich ihren Anteil oder das gesamte Erbe mit Gewalt zu verschaffen. Ein Herrscher musste daher erstens unbedingt einen Sohn präsentieren, um zu verhindern, dass die anderen Mächte nach seinem Tod das sohnlose Erbe unter sich aufteilten. Viele der großen Kriege des 18. Jahrhunderts waren Erbfolgekriege. Und er musste zweitens die Person, die ihm die genetische Lotterie als seinen Erben präsentierte, durch Erziehung, Ausbildung und gutes Beispiel zur Herrschaft befähigen.
Die ungeteilte Vererbung an den ältesten Sohn war ein Schritt in Richtung territorialer Verstetigung. Die Herrschaft gewann damit gegenüber dem einzelnen Herrscher an Bedeutung. Sollten die durch Krieg, Diplomatie und Erbfälle durchaus willkürlich zusammengekommenen Herrschaftsteile – nichts verband Wesel, Minden-Ravensberg, Ostpreußen und Brandenburg außer der preußischen Krone – beisammenbleiben, mussten sie in ähnlicher Weise zum Gemeinwesen beitragen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Preußens erster König, Friedrich I., hatte auf Zeremoniell und Darstellung von Herrschaft gesetzt, um seine neue Würde zu begründen und in seinen Territorien zu verankern. Krönungsfeierlichkeiten, Hochzeiten und Beerdigungen hatte er genutzt, um sein Reich als königlich und einig darzustellen.[32] Diese Politik war zwar erfolgreich, doch sie beanspruchte die Ressourcen des Landes über Gebühr. Der zweite König, Friedrich Wilhelm, setzte auf nüchterne Instrumente: Verwaltung, Militär, Finanzen. Zwar wusste auch er um die Bedeutung von Prunk und Zeremoniell, die er punktuell und gezielt durchaus einsetzte.[33] Vor allem aber bemühte er sich, seinen Herrschaftsbereich administrativ zu durchdringen, eine europäischen Machtstandards entsprechende Militärmacht aufzubauen und über dieses Militär auch den Adel der verschiedenen preußischen Territorien an sich zu binden.
Die Forschung bezeichnet Friedrich Wilhelm daher nicht nur als Soldatenkönig, sondern vor allem als den größten inneren König Preußens.[34] Zu seiner Charakteristik gehört freilich auch eine tiefe pietistische Religiosität, die Pflichtbewusstsein wie ständige Schuldgefühle, einen umfassenden Herrschaftsanspruch als Amtmann Gottes sowie Versagensängste, brachiale Durchsetzungsmethoden wie Bußübungen und Reuebekundungen verband. Persönlich bescheiden und seiner Frau Sophie Dorothea treu, war er doch kein Biedermann: Er aß und trank bisweilen übermäßig, konnte liebenswürdig, aber auch unberechenbar aufbrausend und gewalttätig sein. Für seine Umgebung war König Friedrich Wilhelm gewiss kein einfacher Mensch. Für seine Kinder schon gar nicht.
Friedrich Wilhelm hatte selbst als Kind immer wieder gegen Erziehung und Erzieher rebelliert. Grammatik- und Lateinlektionen waren ihm ein Gräuel gewesen. Die feinsinnige Hofkultur vor allem seiner Mutter Sophie Charlotte, die mit Leibniz verkehrt hatte und ihrem Mann geistig weit überlegen gewesen war, war ihm fremd geblieben. Stattdessen widmete er sich dem Militär und der Jagd....