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'Frühe Störungen' - Eine psychoanalytische Betrachtung zum Missverständnis von Diagnose und Behandlung beim 'Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom'

Eine psychoanalytische Betrachtung zum Missverständnis von Diagnose und Behandlung beim `Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom`

AutorHarald Bussenius
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783640136858
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Pädagogik - Pädagogische Psychologie, Note: 1,1, FernUniversität Hagen, 75 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Anliegen der vorliegenden Arbeit ist, einen gezielten Blick aus psychoanalytischer Sichtweise auf die gängige Praxis der Diagnostik bei 'ADHS' zu werfen. Zunächst werden psychoanalytische Gesichtspunkte, gezielter die Bindungstheorie, zum Verständnis beim Auftreten von 'ADHS' dargestellt. Anschließend erfolgt eine darstellende Inhaltsanalyse gängiger Diagnosepraxis und dabei angewendeter Diagnosemethoden bzw. -mittel. Die Diagnostik wird auf dem Hintergrund analytischer Gesichtspunkte zum Verständnis von 'ADHS' auf ihre Brauchbarkeit aus analytischer Sicht hin untersucht. Ich vermute, dass die aktuelle diagnostische Praxis bei dem Verdacht auf 'ADHS' anhand standardisierter Verfahren den individuellen Verstehenshintergrund beim Verdacht auf 'ADHS' negiert und verleugnet. Dadurch, so die These, werden wichtige Gesichtspunkte bei der Diagnostik übergangen und es kommt zum in der Praxis existierenden methodischen Bruch verschiedener therapeutischer Schulen, der letzten Endes das Kind und sein Lebensumfeld übergeht. Anschließend wird diskutiert, ob die gängige Praxis heutiger Diagnostik bei dem Verdacht auf 'ADHS' nicht von Anfang an analytische Grundpositionen schlicht übergeht. [...]

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Leseprobe

3.   Begriffsbestimmung ‘ADHS’

 

‚ADS’, ‚HKS’, ‘ADHS’ oder ‚ADHKS’ oder doch ‚ADHD’? „Termini wie „Hyperaktivitätsstörung“, „Hyperkinetisches Syndrom“ oder „ADS“ schaffen Verwirrung, weil sie sich in ihrer Terminologie an unspezifischen Symptomen orientieren, ätiologisch unspezifisch sind und vor allem auch für eine differenzierte therapeutische Orientierung unbrauchbar sind, weil sie symptomatische Behandlungsstrategien provozieren.“ (Gerspach, 2002, S. 61)

 

Die „Halbwertzeit“ der unterschiedlichen Begrifflichkeiten wäre – so Heinz - nicht weiter schlimm, „wenn sie von ihren Erfindern und Benützern nicht als ernsthafte Diagnosen verstanden würden“, mit denen „das so schwer verstehbare Verhalten der Kinder und Jugendlichen auf den Begriff gebracht“  wird: „ es wird als eine Krankheit begriffen mit einem bekannten Namen und wird so scheinbar begriffen.“ (Heinz, S. 315) Die Abkürzungen versuchen etwas kurz zu machen, was als ganzer Begriff für noch mehr Verwirrung sorgt, weil er unpräzise bleibt. „ADS oder HKS sind nicht gleichzusetzen mit all dem, worunter unaufmerksame oder unruhige Kinder leiden. Der Begriff allein erklärt gar nichts. Im Gegenteil – er suggeriert ein nicht vorhandenes Wissen und verschleiert die Ungewissheit.“ (Heinz, S. 325) Mit ADS und HKS summieren sich zwei Syndrome zu ‘ADHS’, zu einem ‚noch-mehr-Syndrom’ im Sinn von noch mehr Unklarheit. Entsprechend wird unspezifisch zur Behandlung etwas Multimodales unter unabdingbarer Einbeziehung einer Medikation gefordert. Der Begriff ‘ADHS’ beinhaltet möglicherweise die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, präzisiert aber keinesfalls das, was beim Kind vorliegt. (vergl. Heinz, S. 327/8)

 

Der Begriff des Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom kann meiner Meinung nach aus Sicht des Kindes an sich als falsch bezeichnet werden. Es ist nicht ein Defizit an Aufmerksamkeit, dass Kinder aufbringen, sondern vielmehr ein Aufmerksamkeitshypersyndrom. Nach außen hin fallen diese Kinder deskriptiv auf, indem sie nicht die geforderte oder erforderliche Aufmerksamkeit bei der Bewältigung einer von außen an sie herangetragener Aufgabe zeigen. Sie entsprechen damit nicht den Erwartungen ihrer Umwelt; Die Begrifflichkeit ist demnach aus der Erwartungshaltung der sozialen Umwelt des Kindes heraus definiert. Was im Inneren der Kinder dabei vor sich geht, spielt für die Beobachtung von außen zunächst keine Rolle. Ob innere Konfliktlagen ggf. die Aufmerksamkeit der Kinder absorbieren, bleibt zunächst ungeklärt.

 

Oft sind Kinder mit ‘ADHS’ superaufmerksam, sie nehmen viel zu viel sehr penibel wahr und haben Schwierigkeiten bei der inneren Differenzierung dieser mannigfaltigen Eindrücke. Ihr Gehirn nimmt ungefiltert Massen an Informationen wahr und es ließe sich die Frage stellen, ob das ein hirnfunktionelles Problem sei, ob es innerpsychische Konfliktlagen sind oder ob äußere Faktoren das Kind dermaßen überfordern, dass es unbewusst ‚meint’, alles wahrnehmen zu müssen, um psychische Überforderung ausblenden, verdrängen zu können. Bei einer Biologisierung des Begriffs müsste man bei dieser Annahme von einer Reizüberflutung eines Jägers in einer Gefahrensituation sprechen: Er ist steif vor Schreck und muss sich die Anspannung anschließend, als körperliche Reaktion auf das traumatische Ereignis, abzittern, abzappeln, um wieder zur Ruhe zu kommen. In diesem Beispiel wäre die Hyperaktivität eine natürliche Reaktion auf eine Überforderungssituation im Sinn einer traumatischen Reaktion. Der Jäger wäre für den Kampf gewappnet. Vielleicht findet im Kind ein innerer Kampf statt, der es auf innere Höchstspannung bringt? Das Defizit würde sich so jedenfalls nur nach außen zeigen, weil der innere Aufmerksamkeitsfokus ganz woanders liegt.

 

Deutlich werden die unterschiedlichen Perspektiven beim Blick auf das Verständnis für das Kind mit ‘ADHS’: Den Blick von außen oder von innen.

 

Der ICD-10 gruppiert Hyperkinetische Störungen in die Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (ICD-10, S. 212) ein. Hyperkinetische Störungen sind im ICD-10 unterteilt in

 

Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,

 

Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens,

 

Sonstige hyperkinetische Störungen und

 

Hyperkinetische Störungen, nicht näher bezeichnet.

 

Charakterisiert werden die hyperkinetischen Störungen „durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen.“ (ebd.)  Folgend werden soziale Verhaltensauffälligkeiten erwähnt, die zu sozialen Schwierigkeiten gegenüber Erwachsenen und Gleichaltrigen führen und damit bereits reziproke Auswirkungen vorher beschriebener Handlungen als Diagnosemerkmal beschreiben – insofern begreifen sie die Reaktion der Umwelt als durch das Verhalten des Kindes verursachte Reaktionen und nehmen damit einem wechselseitig bedingten Entstehungshintergrund die Schärfe zulasten einem ‚Defekt’ beim Individuum. „Sämtliche für die Diagnose relevanten Merkmale liegen in der psychosozialen Dimension. Bereits an dieser Stelle liegt die Vermutung einer Biologisierung abweichenden Verhaltens nahe.“ (Wenke, S. 66)  Während die Verhaltenstherapie Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten als Symptomträger einstuft, beziehen systemisch-analytische Sichtweisen die soziale Umwelt des Kindes als potentiell mit verursachende Quelle für dann beim Kind - als schwächstes Glied eines sozialen Systems – entstehende Verhaltensauffälligkeiten ein.

 

Die beim ICD-10 skizzierten Beobachtungen weisen allesamt auch auf die Möglichkeit einer möglicherweise vorliegenden Bindungsstörung hin, die in ihrer Definition allerdings die mögliche Ursächlichkeit in einem für das Kind schädlichen frühen Umfeld mit in Betracht ziehen. So gibt es die ‚reaktive’ Bindungsstörung, die als Symptom eine vorliegende Reaktion impliziert. Interessanterweise wird diese Möglichkeit beim Hyperkinetischen Syndrom gar nicht erwähnt. Die Skizzierung hat allein das Kind im Blick, also die Symptomatik, die nach psychoanalytischem Verständnis aus einer Konflikthaftigkeit im inneren Erleben als Leistung des Ichs erwächst. Auch eine neuere Studie über „Vorboten hyperkinetischer Störungen“ (Esser et al.) sieht als „spezifische Risikofaktoren … die Herkunft der Mutter aus zerrütteten Verhältnissen (Heimaufenthalte, häufiger Wechsel der Bezugspersonen) als der bedeutsamste Prädiktor hyperkinetischer Störungen in Abgrenzung zu unauffälligen Kindern und solchen mit emotionalen Störungen.“ (S. 128)  Entsprechend sieht die Studie „eine Kombination aus frühen Verhaltensauffälligkeiten, einen ungünstigen Erziehungsstil und der Häufung psychosozialer Risikofaktoren“ begünstigend für „die Ausbildung einer hyperkinetischen Störung“. (S.129)      

 

Präziser gegenüber dem ICD-10 definiert das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition, Text Revision (DSM-IV-TR) das ‘ADHS’ aufgrund seiner Unterteilung in Subtypen. „Während bei der HKS nach ICD-10 (15) sowohl Unaufmerksamkeit als auch Überaktivität vorliegen müssen, eröffnet das DSM-IV (1) die Möglichkeit, auch Subtypen zu klassifizieren, die entweder nur die Aufmerksamkeitsstörung oder nur die Merkmale Hyperaktivität/ Impulsivität umfassen. ... Diese Unterschiede sind dafür verantwortlich, dass bei einem Vorgehen nach DSM-IV rund doppelt so viele Kinder die Diagnose erhalten wie nach einem Vorgehen nach ICD-10.“ (Remschmidt/ Heiser, S. 2) Neuhaus merkt ergänzend an, „dass immer mehr akzeptiert werden muss, dass ‘ADHS’ eben nicht nur eine ‚psychiatrische Problematik’ ist, sondern sehr deutlich auch eine motorische Komponente hat.“ (S. 4) Sie geht davon aus, dass motorische Entwicklungsdefizite vorliegen, die sich im Sinn einer motorischen Retardierung „nicht nur durch Übung und Beüben, sondern offensichtlich auch durch Reifung“ (ebd.) verbessern. Dabei geht sie vermutlich von vorliegenden psychomotorischen Schwierigkeiten aus, die sich durch Reifung des Hirns oder doch Auswirkungen steter Übung verzögert einstellen. Belegt ist heute, dass zur Reifung des Gehirns eine akzeptierende emotionale Bindung, Haltung der Bezugspersonen gegenüber dem Kind notwendig ist (vergl. Hüther).

 

Ich werde stets den Begriff Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom (‘ADHS’) verwenden, weil er umfassend der ICD-10 Definition entspricht und ‚umfassend verschleiernd’ die Unschärfe der Symptomatik, die sich meiner Meinung nach hinter der Verschleierung durch den Begriff ‚Syndrom’ verbirgt, am ehesten gerecht wird bzw. nicht versucht, eine Präzision der Begrifflichkeit vorzutäuschen, deren „Diagnose auf einem...

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