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Früher war alles später (Wissen & Leben)

... und heute zerreißen wir (uns) so schnell es geht - Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram

AutorManfred Spitzer
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783608190755
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Früher war alles später. Und heute gilt: Schneller, höher, weiter - obwohl wir uns alle nach Entschleunigung, Tiefe und Nähe sehnen. Der Arzt, Neurowissenschaftler und Bestsellerautor Manfred Spitzer blickt in diesem Buch auf unterschiedliche (Fehl-)Entwicklungen, die unser alltägliches Leben betreffen. Er stellt die Fragen von morgen, mit denen wir uns heute beschäftigen sollten: Müssen wir lernen, Maschinen zu vertrauen, selbst wenn sie uns umbringen? Ändern sich unsere Beziehungen durch digitale Medien? Werden bald Roboter für uns arbeiten und bald danach wir für sie? Wie stets beleuchtet Spitzer psychologische, neurobiologische und gesellschaftliche Sachverhalte mithilfe neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er widmet sich dem Zusammenhang zwischen fehlender Weitsicht und Kurzsichtigkeit, Smartphone und Willensbildung, Armut und Intelligenzquotient, Armut und Schmerzerleben sowie zwischen Armut und Lebenserwartung. Er untersucht, was Einsamkeit mit uns macht, und erklärt, wie Stärke schmeckt. Nehmen Sie sich die Zeit, dieses Buch zu lesen - denn auch das zeigt Spitzer eindrucksvoll auf: Wer Bücher liest, lebt länger!

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor an der Harvard-Universität und am Institute for Cognitive and Decision Sciences in Oregon. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft, der Lernforschung und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ordinarius für Psychiatrie in Ulm. Spitzer ist Herausgeber der Zeitschrift 'Nervenheilkunde' und leitet das von ihm gegründete 'Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen' in Ulm. Er hat mehrere neurowissenschaftliche Bestseller verfasst und moderiert eine wöchentliche Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn.

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Leseprobe

1 Früher war alles später – und besser


Früher war Weihnachten später – so lautet der Titel eines Buchs (4), das man in diesen Tagen vielleicht gerne einmal hervorholt, um darin zu schmökern ( Abb. 1-1). Wenn man bedenkt, wie früh heute die Nikoläuse und Sterne in die Schaufenster und in die Gassen zwischen ihnen gelangen, so kann man dem Titel aus rein empirischer Sicht nur zustimmen: „Die Blätter an den Bäumen sind noch nicht einmal gelb, geschweige denn welk, und schon hängt die Weihnachtsbeleuchtung in den Ästen. Immer früher stapeln sich die Schokoladen-Nikoläuse an den Kassen, beschallen elendig vertraute Weihnachtsmelodien die Fußgängerzonen und Supermarktgänge“, bringt der Klappentext des genannten Buchs die Problematik auf den Punkt. Die Vorverlagerung bewirkt leider, dass man an Weihnachten gar keine Weihnachtslieder mehr singen mag, vom Essen der zum Fest schon alt gewordenen Weihnachtsplätzchen einmal gar nicht zu reden.

Abb. 1-1 Cover der beiden hier erwähnten, sehr lesenswerten Bücher.

Früher hat man die Feste tatsächlich gefeiert wie sie fielen, während man sie heute vorverlegt. So grüßt nicht nur das leicht gelbliche Herbstlaub den Weihnachtsmann, sondern der Schneemann auch den Osterhasen, der seinerseits wahrscheinlich demnächst dem Pfingstochsen zuwinken dürfte. Marketing-Spezialisten wissen warum: Wenn aus dem neuen Auto oder Buch innerhalb weniger Wochen ein Vorjahresmodell zu werden droht – weil sich ein Jahreswechsel dummerweise von einem Tag auf den nächsten vollzieht – dann muss man Produkte des kommenden Jahres früher verkaufen, damit sie später altern: Das Auto-Modell vom Frühjahr 2017 kann man daher schon im Herbst 2016 kaufen, ebenso ein 2017 erscheinendes Buch (wer das vorliegende Buch schon 2016 kauft und dies nicht glaubt, der schaue selbst vorne im Impressum nach!). Unsere Abneigung gegen das Altern ist also letztlich die Triebfeder dieser Beschleunigung. Und weil wir alle das Altern noch mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser, wird sich an diesem Trend nichts ändern. Irgendwann, vielleicht erst im Jahre 2098, werden wir zum Fest der Feste Bücher verschenken oder geschenkt bekommen, deren Erscheinen auf das Jahr 2100 datiert ist.

Gemäß diesem Trend war also früher tatsächlich alles später. Dies galt übrigens nicht nur für das genannte hohe christliche Fest, sondern auch – zumindest im rechts-oberen Zipfel der Republik – nahezu für dessen Gegenteil: den Weltuntergang.

„Wenn ich wüßte, dass die Welt morgen unterginge, dann würde ich nach Mecklenburg ziehen, weil dort alles 50 Jahre später geschieht.“ Dieses Otto von Bismarck zugeschriebene3 Zitat drückt ganz wunderbar aus, wie unterschiedlich die Zeit subjektiv erlebt wird. Im Nordosten Deutschlands scheint sie noch heute langsamer zu gehen als im hektischen Südwesten zwischen High-Tech und Spätzle.

Die Angst vor dem Altern, d. h. vor dem Vergehen der Zeit, bewirkt also, dass die Zeit rascher vergeht – so paradox dies auch klingen mag. Dass damit ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird, macht die Sache ebenso wenig besser wie die Tatsache, dass daraus Angst und Stress resultieren. Und weil wir dies wiederum nahezu definitionsgemäß nur aversiv erleben können, war früher nicht nur alles später, sondern eben auch besser.

Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist das sich gegenwärtig vielen aufdrängende Gefühl, früher sei es langsamer und besser zugegangen, vielschichtig: Sowohl objektive als auch subjektive Faktoren spielen eine Rolle. Ihnen nachzugehen lohnt sich – gerade in einer Jahreszeit, die durch lange dunkle Winterabende und damit viel Zeit für Besinnung sprichwörtlich gekennzeichnet ist.

Bevor man einen Effekt diskutiert, sollte man sich vergewissern, dass er auch existiert. Die neuesten Daten zur Frage, ob früher alles besser war (Stand: Herbst 2016) sind eindeutig: Ja, der Effekt existiert. „Die Verunsicherung der 30- bis 59-Jährigen ist gewachsen, ihr Zukunftsoptimismus steil zurückgegangen“, kommentiert das Allensbach-Institut für Demoskopie eine Umfrage im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, vom 1. bis 22. Juni 2016 von insgesamt 1 100 Männern und Frauen im Alter zwischen 30 und 59 Jahren (1, 2). Dabei steigt der Anteil der Leute (im Vergleich zu 2013), denen es nach eigenen Angaben besser geht als früher (heute: 39 %, 2013: 35 %) und es sinkt der Anteil derjenigen, die angeben, es ginge ihnen schlechter als früher (heute: 20 %, 2013: 23 %). Dennoch hat sich die Bewertung der Aussichten für das nächste Jahr deutlich zum Negativen gewendet ( Abb. 1-2):

Abb. 1-2 „Ich sehe den kommenden Monaten entgegen mit Hoffnung (weiße Kreise), Skepsis (schwarze Kreise) bzw. unentschieden“ (graue Kreise; nach Daten aus 1).

„Der Blick auf die jeweils bevorstehenden 12 Monate ist nun aber im Vergleich mit 2015 viel pessimistischer gefärbt: Diesmal gaben nur noch 43 % an, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken; vor einem Jahr waren es noch 57 %. Umgekehrt hat sich der Anteil der sorgenvoll gestimmten Menschen aus der ‚Generation Mitte‘ von 30 auf 42 % erhöht“ (2).

Als Gründe werden genannt – jeweils etwa von zwei Dritteln der Befragten – die Zunahme

  • der Kluft zwischen Arm und Reich,
  • der Terrorgefahr,
  • der Fremden (Flüchtlinge) und
  • der Fremdenfeindlichkeit.

Zudem hat die Angst der Deutschen vor dem Anstieg von Gewalt und Kriminalität in ihrem Umfeld (Gewaltverbrechen, Diebstahl, Einbruch, Anschlag im Inland) seit dem Vorjahr um 22 % zugenommen. In globaler Hinsicht fürchtet knapp die Hälfte der Bevölkerung einen Krieg. Sorgen bereiten zudem die Alterung der Gesellschaft und die Furcht vor einem geringeren eigenen Lebensstandard im Alter (60 %) sowie vor persönlicher Arbeitslosigkeit (29 %) und dem persönlichen Verlust der Ersparnisse durch Inflation (40 %). Der Anteil derer, die über mehr Stress (43 %) und Überforderung im Beruf (21 %) klagen, hat ebenfalls gegenüber dem Vorjahr um 15 % zugenommen.

So hoffnungslos erschien uns Deutschen die Lage seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und der Finanzkrise von 2008 nicht mehr; und gerade im letzten Jahr ging es mit dem Pessimismus bergauf und mit dem Optimismus bergab.

Betrachtet man die Sorgen der deutschen Bevölkerung einmal ganz nüchtern, dann fällt auf, dass sie berechtigt sind. So nahm die Kluft zwischen Reich und Arm weltweit zwar im vorletzten und vor allem letzten Jahrhundert deutlich ab, seit etwa 1970 steigt sie jedoch weltweit wieder an und wird, glaubt man den Experten, dies auch bis ans Ende dieses Jahrhunderts weiterhin tun. Da Armut hierzulande vor allem Ungleichheit meint (sie ist relativ zum Median des Verdienstes aller definiert), wird also die Armut zunehmen. Selbst wenn durch ein Wunder alle Deutschen ab dem 1.1.2017 doppelt so viel verdienen würden als zuvor, wäre der Anteil der Armen unverändert (denn das sind diejenigen, die nur 60 % oder weniger vom Median des Einkommens aller Deutschen zur Verfügung haben). Das mag paradox klingen, ist jedoch aufgrund der Mathematik dahinter unausweichlich.

Dass die Terrorgefahr heute größer ist als sie es früher war – selbst in den Zeiten von Bomben in Nordirland (IRA) sowie Andreas Baader und Ulrike Meinhof (RAF) – wird kaum jemand bezweifeln. Nicht anders ist es mit den Flüchtlingen. Zwar hatten wir davon in der Vergangenheit (nach Ende des Zweiten Weltkriegs) schon deutlich mehr als im Jahr 2015, aber deren Zahl wird sich in den kommenden Jahrzehnten noch in einer Weise steigern, die uns heute unvorstellbar erscheint: Wenn es stimmt, dass bis zum Ende dieses Jahrhunderts die Erderwärmung so zugelegt haben wird, wie man es heute mit den vorhandenen Daten berechnen kann, dann steht in etwa 80 Jahren 2 Milliarden Menschen (den Bewohnern aller großen Küstenstädte sowie den Bewohnern von Ländern wie Holland, Louisiana oder den Malediven) das Wasser buchstäblich bis zum Hals, und sie werden sich aus genau diesem Grunde schon auf den Weg gemacht haben. Wenn nun aber eine Million Flüchtlinge die Europäische Union an den Rand der Zerreißprobe gebracht haben (mit bislang noch ungewissem Ausgang!), mag man sich gar nicht ausmalen, was 2 000 Millionen (das sind 2 Milliarden!) Flüchtlinge mit der Welt, wie wir sie kennen, machen. Der im Jahr 2016 allenthalben zu beobachtende kleinherzige Nationalismus (Stichworte: Brexit, AfD) jedenfalls stimmt einen hier für die in einigen Jahrzehnten in den Blick zu nehmende Zukunft wirklich nicht optimistisch!

So ergibt sich, das auch bei der Angst vor alledem (die ja selbst als eines der Probleme fungiert) die Hoffnung auf Entwarnung kaum gegeben werden kann – zumal die Akzeptanz einer psychiatrischen Lösung – Lithium, Benzodiazepine oder Haloperidol ins Trinkwasser – gegen Null gehen dürfte. Sie wird mittelfristig eher zunehmen, nicht zuletzt weil Einbrüche und die Ausgaben für Verteidigung tatsächlich zunehmen und der Wert des Geldes sowie die...

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