2 Sprachentwicklungsstörungen
Die normale Variationsbreite sprachlicher Kompetenzen ist groß. Der Wortschatz ist bei Erwachsenen recht unterschiedlich und komplexere grammatische Strukturen werden mehr oder weniger virtuos eingesetzt. Nur wenn die sprachlichen Leistungen erheblich unter dem Durchschnitt liegen, ist von einer Sprachstörung auszugehen. Dabei ist die Grenze zwischen schwachen und gestörten sprachlichen Fähigkeiten fließend.
Wann von einer Sprachentwicklungsstörung gesprochen wird, ist das Ergebnis einer willkürlichen Festlegung. Je nachdem, wo die Grenze zwischen normaler und gestörter Sprachentwicklung gezogen wird, werden mehr oder weniger viele Kinder als sprachgestört angesehen.
Fließende Übergänge zwischen normal und gestört sind nicht nur für Sprachstörungen, sondern für alle Entwicklungsstörungen charakteristisch. Was als Störung aufgefasst wird, ist eine Frage der Konvention. Bei Intelligenzstörungen zum Beispiel wird bei einem IQ unter 85 von einer schwachen Intelligenz und unter 70 von einer Intelligenzminderung gesprochen. Für Sprachentwicklungsstörungen gibt es bislang keine allgemein akzeptierte Falldefinition. Entsprechend widersprüchlich sind Angaben zur Häufigkeit und zur Therapienotwendigkeit. Aussagen zum Thema Sprachentwicklungsstörung beziehen sich oft auf recht unterschiedlich beeinträchtigte Kinder. Welche Kinder und welche Sprachauffälligkeiten gemeint sind, lässt sich immer nur dann sagen, wenn klare Angaben zur Falldefinition gemacht werden. Wenn im Folgenden Möglichkeiten zur Früherkennung thematisiert werden, sind diese Unsicherheiten immer mitzubedenken.
2.1 Sprachentwicklungsverzögerungen
In den ersten Lebensjahren ist die Variabilität der Sprachentwicklung besonders hoch (vgl. Kap. 1). Dadurch ist es schwierig, Kinder mit einem verzögerten Spracherwerb im Rahmen der normalen Variationsbreite von solchen mit einer Sprachentwicklungsstörung abzugrenzen.
Die Diagnose „Sprachentwicklungsstörung“ sollte vor dem Alter von drei Jahren nur gestellt werden, wenn ungewöhnlich ausgeprägte Sprachauffälligkeiten bestehen. In den ersten drei Lebensjahren wird besser von einer „Sprachentwicklungsverzögerung“ gesprochen und die betroffenen Kinder als „Spätsprecher“ bezeichnet.
Im angloamerikanischen Sprachraum hat sich für diese Kinder der Begriff Late Talkers eingebürgert, der inzwischen auch im deutschsprachigen Bereich zunehmend Verwendung findet.
Ob es sich bei einem Late Talker um ein Kind mit einer verzögerten Sprachentwicklung als Normvariante oder um ein Kind mit einer Sprachentwicklungsstörung handelt, ist anfangs nicht zu unterscheiden. Handelt es sich um eine Normvariante, dann holen die Kinder ihren Sprachrückstand bis zum Alter von drei Jahren auch ohne eine Sprachtherapie auf. Diese Kinder werden Late Bloomers (Spätentwickler) genannt. Bleiben ausgeprägte Sprachauffälligkeiten bis zum Kindergartenalter bestehen, dann ist von einer Sprachentwicklungsstörung auszugehen. Die Feststellung einer Sprachentwicklungsverzögerung ist somit eine Risiko- und keine klinische Diagnose. Welche Kinder als Late Talkers angesehen werden, wird bislang unterschiedlich gehandhabt. Bisher konnte man sich nicht auf eine verbindliche Falldefinition einigen.
Im deutschsprachigen Raum werden meist Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter sprechen und/oder keine Wortverbindungen benutzen, der Gruppe der Late Talkers zugeordnet. Diese Falldefinition eignet sich aber nur für wenige Wochen um den zweiten Geburtstag.
Würde das 50-Wörter-Kriterium z. B. bei 20 Monate alten Kindern angewendet werden, dann würde jedes dritte Kind und damit viel zu viele Kinder als Late Talkers klassifiziert (Abb. 1).
Abb. 1: Häufigkeit eines Wortschatzes unter 50 (in Prozent) in Abhängigkeit vom Alter der Kinder
Um während einer größeren Altersspanne Sprachentwicklungsverzögerungen feststellen zu können, müssen Grenzwerte (Cut-Off-Werte) benutzt werden, z.B. in Form von Prozenträngen oder Standardabweichungen.
Welcher Grenzwert am sinnvollsten ist, wird allerdings unterschiedlich gesehen (Robertson & Ellis Weismer 1999; Girolametto et al. 2001; Heilmann et al. 2005). In der Literatur werden als Grenzwerte Prozentränge (PR) zwischen 5 und 20 angegeben. So wurde z. B. für den „Fragebogen zur frühkindlichen Entwicklung“ (FRAKIS) ein Cut-Off-Wert von PR ≤ 10 und für den Test „Sprachbeurteilung durch Eltern: Kurztest für die U7“ (SBE-2-KT) PR ≤ 16 (entsprechend einer Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts) festgelegt. Daraus ergibt sich definitionsgemäß eine unterschiedliche Häufigkeit für Late Talkers (10 % bzw. 16 %).
In der internationalen Literatur liegen die Häufigkeitsangaben für Late Talkers vorwiegend zwischen 10 % und 17 %. So berichten z. B. Horwitz et al. (2003) bei 18 – 23 Monate alten Kindern über eine Häufigkeit der Late Talkers von 13,5 % und bei 30 – 36 Monate alten Kindern von 17,5 %. Rescorla und Alley (2001) hatten mit 9,7 % einen deutlich niedrigeren Wert ermittelt. Allerdings bestand die Stichprobe der Arbeitsgruppe um Rescorla vorwiegend aus Kindern aus höheren sozialen Schichten. Diese Kinder sind jenen aus bildungsferneren Familien in der Regel sprachlich überlegen.
Wird bei 24 Monate alten Kindern das Kriterium Wortschatz unter 50 benutzt, wie dies in Studien aus dem deutschsprachigen Raum üblich ist, dann ergibt sich für 23–24 Monate alte Kinder eine Auftretensrate von 14 % (Grimm & Doil 2006; Sachse & v. Suchodoletz 2007b).
Werden für beide Geschlechter gleiche Cut-off-Werte bei der Festlegung einer Sprachentwicklungsverzögerung angesetzt, dann liegt die Zahl der Late Talkers bei Jungen etwa doppelt so hoch wie bei Mädchen (v. Suchodoletz & Sachse 2008). In einer anderen Studie (Rescorla & Alley 2001) fielen die Unterschiede mit einem Verhältnis von etwa 4 : 1 sogar noch größer aus.
2.2 Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen
2.2.1 Charakteristika von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen
Die Symptomatik von Spracherwerbsstörungen ist von Kind zu Kind unterschiedlich, weshalb verschiedene Subtypen voneinander abgegrenzt werden. Je nachdem, welche Sprachdimension betroffen ist, stehen Lautbildungs-, Grammatik- oder Wortschatzprobleme im Vordergrund (Tab. 1).
Tab. 1: Klassifikation von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen
- Umschriebene (spezifische) Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen (F80) nach ICD-10
- Artikulationsstörung (F80.0)
- Expressive Sprachentwicklungsstörung (F80.1)
- Rezeptive Sprachentwicklungsstörung (F80.2)
- Sprachentwicklungsverzögerung (Late Talking)
- Sekundäre Sprachentwicklungsstörungen (bei Intelligenzminderung, Hörstörungen u. a.)
Entwicklungsstörungen des Sprechens
Erwerbstörungen des Lautsystems werden den Sprechstörungen zugeordnet und solche von Grammatik und Wortschatz den Sprachstörungen. Entwicklungsstörungen des Sprechens sind dadurch gekennzeichnet, dass die Realisierung des Sprachentwurfs nur ungenügend gelingt. Sie sind durch Fehler bei der Aussprache und dem Erkennen von Lauten charakterisiert, die unter Berücksichtigung des Entwicklungsalters außerhalb des Normbereichs liegen. Typische Lautbildungsfehler sind Auslassen, Ersetzen und Fehlbildungen von Lauten, wobei am häufigsten |s|, |sch|, |ch| und |r| betroffen sind. Unterschiedliche Bezeichnungen, wie Dyslalie, Artikulations-, Aussprache-, Lautbildungs- und phonologische Störung sind gebräuchlich. Lautbildungsstörungen treten oft kombiniert mit Störungen des Sprachsystems auf.
Entwicklungsstörungen der Sprache
Im Mittelpunkt des klinischen Bilds von Sprachentwicklungsstörungen stehen ein Dysgrammatismus und Wortschatzdefizite. Die Symptomatik ist vom Alter des Kindes abhängig (Tab. 2). Im Säuglingsalter gilt ein verzögert auftretendes und vermindertes Lallen als typische Auffälligkeit. Im zweiten Lebensjahr sind ein verspätetes Erlernen der ersten Wörter und eine verzögerte Entwicklung des aktiven und passiven Wortschatzes charakteristisch. Im dritten Lebensjahr stehen eine verminderte Äußerungslänge und ein weitgehendes Fehlen syntaktischer Strukturen im Vordergrund. Im Kindergarten- und Vorschulalter haben die Kinder insbesondere Schwierigkeiten bei der Bildung und dem Verständnis grammatischer Wortformen und Satzstrukturen. Im Schulalter wird die Spontansprache oft weitgehend fehlerfrei. Die Kinder sprechen in einfachen und kurzen Sätzen und vermeiden kompliziertere grammatische Strukturen, so dass Sprachdefizite nicht sofort bemerkt werden. Aufgrund der Sprachstörung fällt es den Kindern aber schwer, Geschichten folgerichtig zu erzählen, übertragene Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten zu verstehen und sich schriftlich kohärent auszudrücken. Diese Probleme bleiben oft bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen, werden jedoch erst bei besonderen Anforderungen oder einer gezielten Überprüfung deutlich.
Tab. 2: Altersabhängigkeit der Leitsymptome von Sprachentwicklungsstörungen
1. Lebensjahr | Verspätetes und... |