Familienorientierung! Ein empirischer Blick auf die gelebte Praxis
Matthias Lütolf, Christina Koch & Martin Venetz
In der Prämisse Frühförderung wirkt in und mit Familien – Familienorientierung des ViFF-Symposion 2017 in Frankfurt spiegeln sich zwei Perspektiven wider, welche zurzeit in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Fachgebiet der Frühförderung intensiv diskutiert werden. Es sind dies Wirksamkeit und Familienorientierung. Diese gehören zusammen und lassen sich sowohl theoretisch wie auch empirisch darlegen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf hin, ergänzend zur theoretischen Auseinandersetzung einen Blick auf die gelebte Praxis der Fachpersonen der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) (Schweizer Äquivalent zur Frühförderung in Deutschland) zu werfen.
Ausgangslage
Um sich der Perspektive der Familienorientierung zu nähern, ist es sinnvoll, vorgängig frühe heilpädagogische Interventionen unter dem Aspekt der Wirksamkeit zu betrachten. Nach Guralnick (2011) lassen sich drei Wirksamkeitsebenen beschreiben, die es zu beachten gilt und nicht isoliert voneinander angeschaut werden können. Neben der Ebene der kindlichen Entwicklung, welche im Besonderen die kognitiven und sozialen Kompetenzen des Kindes beachtet, ist es die Ebene der Familie, mit Blick auf die Eltern-Kind-Interaktion sowie die familiären und außerfamiliären Netzwerke, die als einflussreich betrachtet wird; im Weiteren die Ebene der familiären Ressourcen, welche persönliche psychische Merkmale der Eltern und materielle Ressourcen der Familie einschließt. Diese drei Ebenen wirken wechselseitig und gemeinsam. Sie beinhalten Themen der kindorientierten Förderung und weisen zudem auf eine Familien- und Lebensweltorientierung hin. Diese ist geprägt von intensiver Zusammenarbeit mit dem Kind, der Familie und weiteren Bezugspersonen, dem Fachteam und involvierten Institutionen.
Frühe heilpädagogische Interventionen, zu denen in der Schweiz die HFE gehört, welche sich der Familienorientierung verpflichtet fühlen, definieren sich demnach nicht nur über die Förderung der kindlichen Entwicklung, sondern beachten ebenso die Ressourcen und Bedürfnisse der Familien sowie deren Umfeld und beziehen die Familien in die Förderung ein. Es wird gefordert, den Fokus der Unterstützung sowohl auf die kindliche Entwicklung wie auch auf die Beratung der Eltern und die Eltern-Kind-Interaktion zu richten (Klein 2013). Damit dies garantiert werden kann, muss sich eine heilpädagogische Unterstützung an der Lebenswelt und dem Alltag der Familie und des Kindes orientieren. Im Wissen um die Tatsache, dass gerade der Alltag eine Vielzahl an Lerngelegenheiten bietet und diese für den Entwicklungsverlauf eines Kindes von hoher Bedeutsamkeit sind, wird die direkte Förderinteraktion zwischen dem Kind und der heilpädagogischen Fachperson zum Impulsgeber, damit die Eltern »… fachliche Anregungen in ihre Alltagsgestaltung mit dem Kind integrieren« (Sarimski 2017, 193) können. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, ist ein intensiver Einbezug der Familien unumgänglich, welcher in den Prinzipien der familienorientierten Förderung von Sarimski et al. (2013a) beschrieben wird. Es gilt, die Eltern als aktive Partner bei allen Entscheidungen und Unterstützungsfragen einzubeziehen. Die heilpädagogischen Angebote werden individuell und flexibel den Bedürfnissen des Kindes und der Familie angepasst. Dies erfordert die Bereitschaft, die Priorisierung der Anliegen und Bedürfnisse der Eltern wahr- und anzunehmen (Odom & Wolery 2001). Die interdisziplinäre Zusammenarbeit richtet sich ebenso nach den Anliegen der Familien und des familiären Umfelds. Die HFE hat demnach zum Ziel, »[…] die Familie in die Lage zu versetzen, ihre Probleme selbständig zu lösen, was sich wiederum positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirkt« (Sarimski et al. 2013a, 37).
Ein wiederholt diskutierter Aspekt der familienorientierten heilpädagogischen Intervention lässt sich im örtlichen Setting der Unterstützung ansiedeln. Während geraumer Zeit wurde – im Besonderen im deutschsprachigen Fachdiskurs – die Möglichkeit aufsuchender Frühförderung (mobile Hausfrühförderung) als wesentliches Merkmal der Familienorientierung angesehen. Dabei fiel das Augenmerk auf die Berücksichtigung des natürlichen Lebensumfelds des Kindes, des möglichen Einbezugs von Geschwistern oder weiteren Familienmitgliedern (Pretis 2014). Es ist jedoch in den letzten Jahren zu beobachten, dass Kinder mit Behinderung oder Entwicklungsverzögerung vermehrt auch in familienergänzenden Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Spielgruppen betreut und heilpädagogisch begleitet werden. Gerade Praktiker weisen im Zuge dieser Veränderung darauf hin, dass sich diese Verlagerung dahingehend auswirken könnte, dass die Familien »verloren gehen« (Sarimski et al. 2013b) und das Postulat der Familienorientierung möglicherweise vernachlässigt werden könnte. Aus einer Elternbefragung von Pretis (2014) lässt sich jedoch sagen, dass nach Einschätzung der Eltern die erlebte Familienorientierung nicht vom Setting abhängig ist. Dies sowohl in Bezug auf die Frühförderung in der Kindertagesstätte, zuhause oder an der Frühförderstelle. Die Befragungsresultate zeigen, dass Familienorientierung in erster Linie eine Frage der Haltung der Fachkräfte darstellt. Diese Haltung bedingt, dass die Fachkräfte die bereits erwähnten Prinzipien der Familienorientierung unabhängig vom Förderort zu leben und umzusetzen gewillt sind.
Praxis der Heilpädagogischen Früherziehung
Wird aber die Familienorientierung, wie sie oben beschrieben wurde, in der täglichen Arbeit der Fachpersonen der HFE sichtbar umgesetzt? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. Als Grundlage dienen Ergebnisse des Forschungsprojekts »Arbeitstätigkeiten und Aufgabenfelder der Heilpädagogischen Früherziehung«, welche die Autorenschaft an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich durchgeführt hat. Ausgehend von einer Literaturanalyse und rechtlichen Richtlinien der HFE lassen sich fünf Aufgabenfelder definieren, in welchen die Fachpersonen tätig sind. Es sind dies Diagnostik, Förderung des Kindes, Beratung und Begleitung der Eltern und Bezugspersonen, Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Präventive Massnahmen und Früherkennung (Lütolf et al. 2014). Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, die gelebte Praxis der Fachpersonen der HFE hinsichtlich dieser Aufgabenfelder zu beleuchten. Folgende Fragestellungen stehen im Rahmen dieses Beitrags im Zentrum:
1. Wie verteilen sich die zeitlichen Ressourcen der HFE in der beruflichen Praxis auf die verschiedenen Aufgabenfelder?
2. Werden die Eltern und Bezugspersonen aktiv in die Förderung einbezogen?
3. In welchem Setting finden die Tätigkeiten statt?
4. Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Resultaten mit Blick auf die Familienorientierung gewinnen?
Stichprobe
Früherziehungsdienste aus 15 deutschsprachigen Kantonen der Schweiz sowie dem Fürstentum Lichtenstein nahmen an der Untersuchung teil. Es konnte eine Stichprobe von 117 Heilpädagogischen Früherzieherinnen und 4 Früherziehern (N =121) gewonnen werden. Die Fachpersonen wiesen ein mittleres Lebensalter von 43 Jahren (SD = 11.1) auf. Das durchschnittliche Arbeitspensum betrug 64 % (20 %–100 %). Die Datenerhebung erstreckte sich über einen Zeitraum von sechs Monaten.
Instrumente und Vorgehensweise
Im Forschungsvorhaben wurde die Experience-Sampling-Methode (ESM; Hektner et al. 2007) eingesetzt. Ziel dieser Methode ist es, die täglichen Aktivitäten einer Person und das mit diesen Tätigkeiten verbundene emotionale Erleben zeitnah und direkt im natürlichen Alltag zu erfassen. Die beteiligten Fachpersonen erhielten während fünf Arbeitstagen an acht – zufällig ausgewählten – Zeitpunkten pro Tag ein SMS-Signal, welches per Smartphone versendet wurde. Die SMS verwies auf einen standardisierten Fragebogen, in welchem die Fachpersonen ihre aktuelle Tätigkeit, ihre aktuelle Situation sowie das aktuelle Befinden und Erleben protokollierten. Einleitend in den Fragebogen schätzten die Teilnehmenden ihr Befinden im Moment des Signals ein. In einem weiteren Schritt waren sie aufgefordert, im Sinne eines Top-down-Verfahrens ihre aktuelle Tätigkeit einem der fünf definierten Aufgabenfelder zuzuordnen, um anschließend auf der Basis einer detaillierten Auswahlliste ihre Tätigkeit präzise zu erfassen. Falls eine Zuordnung nicht möglich erschien, konnten die Fachpersonen in...