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Nur eine kann Germanys Next Topmodel werden
Nachdem meine lieben Achter mich nun indirekt darauf hingewiesen haben, dass ich definitiv schnittreif bin, sehe ich mich dazu gezwungen, das Ganze erneut selbst in die Hand zu nehmen. Also packe ich meine Schultasche – meine letzte Stunde hat in diesem Fall Gott sei Dank gerade geschlagen – und begebe mich direkt auf den Nachhauseweg. Dort angekommen, mache ich mich zuerst einmal auf die Suche nach den entsprechenden Arbeitsmaterialien für mein haariges Vorhaben. Die Ausbeute ist allerdings mehr als bescheiden, denn meine Bastelschere habe ich zuletzt in den Händen meines Schülers Aggro-Alex gesehen, danach allerdings nie wieder. Ich hoffe inständig, dass sie nicht irgendwann im Körperteil eines Mitschülers wiedergefunden wird. Das bringt mich auf den Gedanken, dass die scharfen Küchenmesser aus sicherheitstechnischen Gründen für die bevorstehende Aufgabe ebenfalls ausscheiden. Glücklicherweise fällt mein Blick dann aber auf das kleine Nagelscherchen, das mein Freund Julian erst kürzlich angeschafft hat.
»Das ist es, Mut zur Improvisation!«, sage ich selbstbewusst zu meinem Spiegelbild, schlimmer kann’s bei den langen Zotteln sowieso nicht werden. Enthusiastisch schneide ich daraufhin Strähne für Strähne in die richtige Form und stelle mich dabei so geschickt an, dass ich sicher bin, dass nichts mehr schiefgehen kann. Das tut es aber wider Erwarten, obwohl ich wirklich penibel darauf geachtet habe, kerzengerade zu schneiden. Ungünstigerweise habe ich jedoch nicht berücksichtigt, dass die Standard-Nagelschere eine abgerundete Klinge hat, die sich allenfalls für einen extravaganten Stufenschnitt eignet, den ich jetzt auch im Spiegel bewundern darf.
»Vielleicht hätte ich doch etwas gezielter vorgehen sollen«, geht es mir durch den Kopf, als ich meine exklusive Eigenkreation betrachte. Mir wird schlagartig klar, dass ich mehr Stufen in meinen Haaren habe als der Eiffelturm bis zur Spitze. Gar nicht spitze ist auch die unfreiwillig geschaffene Asymmetrie meines Deckhaars, aber vor allem die meines Ponys. Ich sehe aus wie eine Vogelscheuche und wünsche mir den Vergleich mit der Loreley zurück, selbst wenn damit nur Kimberlys Pony gemeint war.
»O je, wie soll ich das nur Julian erklären?«, frage ich mich besorgt.
Das imaginäre Engelchen, das plötzlich auf meiner Schulter erscheint, versucht mich sogleich zu beruhigen.
»Keine Bange, Julian wird das verstehen, er ist dein Freund. Er liebt dich so, wie du bist! Erklär’s ihm einfach.«
Etwas erleichtert nicke ich dem Engelchen in meinem Spiegelbild zu und werde beim Gedanken an meinen verständnisvollen Freund von einem Gefühl der Wärme erfasst. Das hält allerdings nicht lange an, denn keine zwei Sekunden später vernehme ich ein lautes Rasseln an der Haustür, das meinen Liebsten ankündigt und mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinunterjagt. Deutlich kann ich in diesem Moment das feuerrote Teufelchen auf meiner anderen Schulter sehen, das sich bei einem Blick auf meine Frisur – soweit man das so nennen kann – vor Lachen auf seinen Dreizack stützt und ein »Ja, genau, erklär ihm ruhig, dass du mit der Frisur beschissen aussiehst!« herausgrölt.
»Meike, bist du schon zu Hause?«, ruft mein Freund aus der Küche, während sich die himmlischen Heerscharen auf meiner Schulter einen erbitterten Kampf gegen die Unterwelt liefern. Da mir aber keine Zeit mehr bleibt, um den Ausgang dieser imaginären Schlacht abzuwarten, konzentriere ich mich auf das Wesentliche: Schadensbegrenzung.
»Wie war das noch, Improvisation ist alles!«, spreche ich mir Mut zu und schleiche nach einem gezielten Lagecheck – Julian befindet sich jetzt im Wohnzimmer – auf leisen Sohlen ins Schlafzimmer. In Windeseile durchstöbere ich im Dunkeln meine Schubladen auf der Suche nach einer passenden Kopfbedeckung und werde Gott sei Dank fündig. Ich schaffe es gerade noch die Wintermütze, etwas Anderes dieser Art besitze ich nicht, auf den Kopf zu ziehen, als mein Freund hereinkommt und das Licht anknipst.
»Meike, du bist ja doch da! Was machst du denn hier?«, fragt er sichtlich erschrocken.
»Staub wischen?«, entwischt es mir, bevor ich eine bessere Antwort parat habe.
»Staub wischen? Im Dunkeln? Ich weiß nicht, was ungewöhnlicher ist. Die Tatsache, dass du Staub wischst oder dass du jetzt Staub im Dunkeln wischst. Muss ich mir Sorgen machen?«
Da mir darauf nichts wirklich Gescheites einfällt, lächele ich ihn senil an und schüttele meinen Kopf.
»Warum trägst du denn eine Wintermütze in der Wohnung?«, will Julian jetzt auch noch wissen.
»Ohrenschmerzen!«, lasse ich der Wahrheit etwas Spielraum und sehe im gleichen Moment das rote Teufelchen wieder, das mir zufrieden ein Petzauge macht und sich danach in Luft auflöst.
Au weia, ich hoffe nicht, dass wir uns in der Hölle wiedersehen!, denke ich noch, als Julian mir einen mitleidigen Blich zuwirft und mich mit einem »Du Ärmste!« in seine starken Arme nimmt.
In den nächsten Stunden darf ich dann bereits in der Hölle schmoren für meine klitzekleine Notlüge, denn besagte Wintermütze hält nicht nur die Frisur bedeckt, sondern vor allem die körpereigene Klimaanlage. Dabei ist die Hitze in dieser Wollsauna noch nicht das Schlimmste, sondern das Gefühl, als würde ein ganzer Ameisenhaufen über meine Kopfhaut marschieren. Es juckt auch noch wie die Hölle, in die ich mich gerade selbst hineinmanövriert habe. Dabei war mein Schultag doch schon schlimm genug. Als ich das Kribbeln und Brennen nicht mehr aushalte, lasse ich Julian unter dem Vorwand, dass ich dringend mit meiner Freundin Nele telefonieren müsse, allein vor dem Fernseher sitzen. Auf direktem Wege stürme ich ins Bad, wo ich mir als Erstes dieses Mützenmonstrum vom Kopf reiße, eine Kratzorgie hinlege und mich dann statt in der Wanne in Selbstmitleid bade. Der extreme Schulstress kombiniert mit dem selbst verschuldeten »Haarakiri« hat meine Nerven doch sehr beansprucht. Um nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren, greife ich zum Telefon und rufe meine bodenständige Freundin Nele an.
»Buuuaaaaahhhh…«, kreischt mir eine extrem helle, aber kräftige Stimme ins Ohr, sodass ich den Hörer blitzschnell von meinem sensiblen Hörorgan wegreiße und sicherheitshalber den Lautsprecher einschalte.
»Hallo, wer auch immer gerade in der Leitung ist, ich bin momentan verhindert und rufe in achtzehn Jahren wieder zurück, wenn mein kleiner Schreihals, so Gott will, aus der Pubertät und dem Haus ist«, erklärt Nele.
»Entschuldigen Sie bitte, aber sind Sie nicht die Frau, die mir vor kurzem weismachen wollte, wie toll es ist, Mutter zu sein?«, bohre ich nach.
Den sarkastischen Unterton kann ich mir in diesem Moment beim besten Willen nicht verkneifen.
»Ist es auch, jedenfalls die meiste Zeit. Nur momentan ist es etwas schwierig, wir versuchen gerade unseren ersten Puh auf der Toilette, aber Nils ist die Kloschüssel noch suspekt.«
»ZU VIEL INFORMATION, Nele!«, rufe ich angeekelt.
Doch zu spät, ich habe schon die entsprechenden Bilder im Kopf. Ich kann mich glücklich schätzen, dass es noch kein Geruchstelefon gibt.
»Also, ich will ja nicht drängeln, aber es kann jeden Moment losgehen. Also, was gibt’s?«, will meine Freundin wissen.
So gut es mir möglich ist, fasse ich mich kurz und erzähle meiner Freundin von meinem äußerst anstrengenden Schultag.
»… und ich hab das Gefühl, dass ich bei meinen Schülern überhaupt nichts ausrichten kann, egal was ich mache. Jeden Tag sage und erkläre ich denselben Scheiß, und nichts bleibt hängen. Ich komme mir mittlerweile vor wie Bill Murray in Und täglich grüßt das Murmeltier.«
»Mensch Meike, stell dich nicht so an. Werd endlich schwanger, dann nimmst du dir eine Elternzeit, und nach dem Jahr ohne Schlaf und Privatleben bist du froh, wenn du wieder in die Schule gehen darfst«, stöhnt sie.
Obwohl meine Freundin es wahrscheinlich gut mit mir meint, kann ich mich mit ihrem Ratschlag nicht so ganz anfreunden, denn mein Lebensentwurf passt überhaupt nicht zu ihrem. Irgendwie scheint der liebe Gott oder mein Hormonhaushalt mich bei der Verteilung der Muttergefühle vergessen zu haben. Mir reicht es jedenfalls, Lehrerin und nebenbei Patin zu sein. Damit bin ich schon gefordert – besser gesagt überfordert – genug. Und gerade, als ich Nele davon in Kenntnis setzen möchte, höre ich ein mir bekanntes Ploppen und einen Jubelschrei.
»Ei toll hat er das gemacht …«, ertönt die begeisterte Stimme meiner Freundin am anderen Ende.
»Wow, das müsstest du sehen, Meike. Nils ist stolz wie ein Spanier. Er hat ein richtig großes Geschäft gemacht. Das muss ich seinem Papa zeigen, wenn der nach Hause kommt.«
Ich kann Neles Begeisterung für das erfolgreich erledigte Geschäft meines kleinen Patensohnes nur bedingt teilen und hoffe inbrünstig, dass sie es nicht vakuumzieht und mir bei meinem nächsten Besuch unter die Nase hält.
»Sorry Meike, aber ich muss den kleinen Scheißer jetzt ins Bett bringen. Können wir ein anderes Mal weiterquatschen?«
»Kein Thema!«, antworte ich und höre im nächsten Moment schon ein Tuten in der Leitung.
Wirklich besser fühle ich mich jetzt auch nicht, und deswegen sehe ich keine andere Möglichkeit, als den Kopf in den Sand zu stecken, beziehungsweise unter die Bettdecke, denn die Wintermütze möchte ich auf keinen Fall mehr aufsetzen müssen. Ein vorsichtiger Blick ins Wohnzimmer verrät mir, dass Julian, wie so häufig, schon vor...