1. Einleitung
Den Jubel sollten Sie sehen, der hier allgemein herrscht, allüberall Vivat, allüberall Bänder und allüberall ungetrübte Freude. Die Studenten und wir ihnen Befreundete sind zu den Waffen gerufen. Wollen Sie sich die Sache aber nicht fürchterlich vorstellen. Außer der Bürgergarde hat sich ein Studentencorps gebildet, [dieses] wählt sich seinen Commandanten, ihm ist die Sicherheit der Stadt vorzüglich anvertraut. Es war Gefahr vorhanden, jetzt ist aber keine mehr übrig. Die Bauern waren sehr aufgeregt gewesen und das Gassengesindel, aber ich glaube nicht, daß es noch zu etwas kommt, Jung und Alt aus allen Ständen hat sich zum Waffendienst bereit erklärt. Die Studenten schreiten erst ein, wenn nichts mehr hilft, aber dann desto kräftiger. […] Der 15. März, an dem vor 1892 Jahren Caesar der Tirann geendet, vor 1613 Jahren der Tiran Alexander Severus ermordet ward und vor 1395 Attila, die tiranische ‚Geisel Gottes‘, erstickte, [brachte] uns 1848 die Befreiung vor [sic!] Druck und Joch – befreit auf ewige Zeiten. Was man 30 Jahre gehofft, aber nicht so vollendet zu hoffen gewagt, das hat der 15. März gebracht. Seit Freitag ist Vakanz und bis Freitag werden die Studien schwerlich beginnen. Morgen ist großer Fackelzug u. allgemeine Stadtbeleuchtung.1
Mit diesen Worten schilderte der Doktorand Joseph Hundegger seiner Mutter die Vorgänge in Innsbruck und seine Begeisterung über die neue politische Ordnung tritt deutlich hervor. Wenn auch Tirol 1848 kein Zentrum der Revolution war, so stand es keineswegs abseits der Ereignisse. Zum einen war Tirol auf Grund seiner geographischen Lage zwischen der Schweiz, Oberitalien und dem süddeutschen Raum nahe an Revolutionszentren gelegen2 und die Bewohner der deutschsprachigen Städte Tirols begrüßten – zumindest anfänglich – durchaus die politischen Errungenschaften der Märzrevolution.3 Zum anderen wurde Innsbruck nach der Flucht der kaiserlichen Familie aus Wien für rund zwei Monate zur provisorischen Hauptstadt der Habsburgermonarchie und damit auch zum Sammelpunkt der politischen und militärischen Reaktion.4 Trotz dieser hier nur angedeuteten Komplexität der Ereignisse in Tirol hat sich die historische Forschung – wie noch zu zeigen sein wird – bislang nur ansatzweise mit den Ereignissen in Alttirol auseinandergesetzt. Dieses Desinteresse steht im krassen Gegensatz zu den internationalen Entwicklungen. Auf europäischer und insbesondere auch auf der Ebene der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie wurde und wird der Erforschung von Ursachen, Verlauf und Nachwirkungen des Revolutionsjahres große Aufmerksamkeit gewidmet.5 Die ungebrochene Popularität der Thematik führte dazu, dass sich eine schier unüberblickbare Anzahl von einschlägigen Publikationen finden lässt.6 Im Gegensatz dazu nimmt sich der Forschungsstand zu den Vorgängen in Alttirol recht bescheiden aus. Hans Heiss und Thomas Götz begannen ihr Standardwerk über Tirol in den Jahren 1848/49 mit der treffenden Feststellung, dass „1848 […] nicht zu jenen Ereignissen und Prozessen des 19. Jahrhunderts [zählt], die unter deutschsprachigen Landeshistorikern Tirols verstärkte Beachtung und im historischen Bewusstsein des Landes einen festen Platz fanden“.7 Schon während des Neoabsolutismus setzte die Verdrängung aus dem kollektiven Gedächtnis ein8 und bis heute lassen sich kaum deutschsprachige Arbeiten finden, die sich mit den Vorgängen des Revolutionsjahres in Tirol auseinandersetzen.9 Oswald Gschließer hat 1938 die – bis zum Erscheinen der Publikation von Heiss und Götz – einzige Überblicksdarstellung vorgelegt.10 Wenngleich Gschließer auch zahlreiche Primärquellen herangezogen hat, so weist seine Darstellung dennoch erhebliche Defizite auf. Erstens werden die Vorgänge in Welschtirol bzw. die Forderungen der italienischsprachigen Bevölkerung kaum objektiv untersucht, sondern aus dem Blickwickel des Verlustes Südtirols betrachtet; etwa wenn er den nationalbewussten Kreisen des Trentinos unterstellt, eine „richtige Irredenta“ gebildet zu haben, „[…] deren letztes Ziel die Einverleibung ganz Südtirols bis zum Brenner war“.11 Diese Formulierung ist maßlos übertrieben, zumal es in einem Aufruf der provisorischen Zentralregierung der Lombardei an die Deutschtiroler [sic!] vom 17. April 1848 hieß: „Trient ist wälsch und soll wälsch sein. Botzen ist deutsch und wird immer deutsch bleiben […].“12 Zweitens werden die Ereignisse des Revolutionsjahres umgedeutet und lassen die Tiroler des Jahres 1848 regelrecht als Vorkämpfer eines „vereinigten Deutschland“ erscheinen, wie es durch den „Anschluss“ von 1938 verwirklicht wurde.13 Eine anti-italienische bzw. deutschnationale Haltung, wie sie bei Gschließer zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch die übrigen deutschsprachigen Publikationen zur Thematik bis 1945. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fand kaum eine Auseinandersetzung deutschsprachiger Historiker mit 1848 statt.14 Erst seit rund zehn Jahren wird dem Verlauf des Revolutionsjahres in Tirol eine etwas stärkere Beachtung geschenkt. Diese Entwicklung dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass Hans Heiss und Thomas Götz 1998 ihre bemerkenswerte Überblicksdarstellung vorgelegt haben.15 Diese beruht auf umfassenden Quellen- und Literaturstudien und bietet zum ersten Mal eine ausgewogene Betrachtung der politischen Einstellungen, Forderungen und Hoffnungen der deutsch- und italienischsprachigen Tiroler Bevölkerung. Weiters haben Heiss und Götz sich in Aufsätzen mit verschiedensten Aspekten des Revolutionsgeschehens auseinandergesetzt und somit den Forschungsstand wesentlich vorangetrieben.16 Ungeachtet dieser wichtigen Publikationen haben – abgesehen von ein paar Diplomanden17 – bislang kaum andere Historiker diesen Faden aufgenommen, so dass immer noch Raum für weiterführende Untersuchungen bleibt.
Dieser Befund trifft auch auf die Geschichte der Landesverteidigung im Revolutionsjahr zu, die im Gegensatz zu jener der Jahre 1703, 1796/97, 1809 und 1915 fast in Vergessenheit geraten ist. Während es unzählige Werke über die Landesdefension in den obgenannten Jahren gibt, fand die „48er“-Landesverteidigung bis heute kaum Beachtung in der Geschichtswissenschaft. Die bislang einzige Monographie, „Die Tyroler Landesverteidigung im Jahre 1848“, wurde 1904 (!) von Alexander Freiherr von Helfert vorgelegt.18 Helfert versucht zwar eine umfassende Darstellung zu bieten, seine Ausführungen sind aber stellenweise patriotisch bzw. verklärend19 und entsprechen daher nur bedingt wissenschaftlichen Ansprüchen. Darüber hinaus beruht das Werk im Wesentlichen auf Sekundärquellen. Diesen Mangel kann man dem 119 Seiten starken Kapitel über die Landesverteidigung 1848 in Alois Luggins Dissertation aus dem Jahre 1979 wahrlich nicht vorwerfen. Der Verfasser hat dafür zahlreiche Primärquellen aus dem Tiroler Landesarchiv und der Bibliothek des Ferdinandeums herangezogen und bietet einen Überblick über die militärischen Operationen im Rahmen der Landesverteidigung. Allerdings kommt er über eine rein deskriptive Darstellung kaum hinaus. Einzig in der rund zehn Seiten umfassenden „Schlussbetrachtung“ versucht Luggin einige Aspekte zu analysieren. Seine Ausführungen zur Kriegsführung 1848 erscheinen aber zumindest hinterfragenswert. So schreibt Luggin:
Verhielten sich schon die Soldaten der Bevölkerung in den Tiroler Tälern gegenüber verhältnismäßig fair, wenn man dies mit der Situation in anderen Gegenden, z. B. in der Lombardei, vergleicht, so muß man von den Schützen sagen, daß sie sich mustergültig der italienischen Bevölkerung gegenüber benommen […].20
Diese Einschätzung ist für die Vorgänge im Valsugana nicht haltbar. Hier wurden im Juni 1848 mehrere Ortschaften von der österreichischen Soldateska geplündert bzw. niedergebrannt und zumindest an den Plünderungen beteiligten sich auch Mitglieder der I. Akademischen Kompanie.21 Darüber hinaus lassen sich in der zeitgenössischen Literatur Indizien finden, die dafür sprechen, dass auch in anderen Talschaften Militär und Schützen wenig behutsam mit dem Besitzstand der einheimischen Bevölkerung umgegangen sind. Adolf Pichler etwa berichtet über massive Plünderungen der Ortschaft Caffaro und des Schlosses Lodron durch österreichische Soldaten und Schützen.22 Insgesamt bietet Luggins Dissertation zwar eine deskriptive Operationsgeschichte, die zur Orientierung über die militärischen Vorgänge hilfreich sein kann, aber keine analytisch-kritische Auseinandersetzung mit der Tiroler Landesverteidigung 1848.
Neben den zwei erwähnten Werken lassen sich einige wenige kursorische Überblicksdarstellungen finden, die als Einstieg in die Thematik nützlich sein können, aber kaum über die Erkenntnisse Helferts bzw. Luggins...