Kapitel 1
Das Fundament
Als Adam Brown am Morgen des 17. März 2010 aufwachte, konnte er nicht wissen, dass er in der folgenden Nacht in den Bergen Afghanistans sterben würde. Aber er war bereit.
11 000 Kilometer entfernt, in einem Vorort von Virginia Beach, machte sich der zehnjährige Nathan Sorgen. Als er an jenem Morgen die Augen öffnete, spürte er, dass seinem Vater etwas Schlimmes zustoßen würde. Aber er behielt seine bedrückenden Gedanken für sich, stieg aus dem Bett und zog sich an, um in die Schule zu gehen. Es war der St. Patrick’s Day, und er holte sich ein grünes Kleidungsstück aus dem Schrank, denn wie alle seine Klassenkameraden würde er an diesem Tag die irische Nationalfarbe tragen.
Bei einer früheren Entsendung ins Ausland hatte Adam Brown in seinem Tagebuch einen Brief an Nathan und seine siebenjährige Tochter Savannah aufgesetzt, den sie nur im Fall seines Tods lesen sollten:
Ich fürchte mich vor nichts, was mir auf dieser Erde geschehen kann, denn ich weiß, dass mir nichts meine Seele nehmen wird. Aber die Vorstellung, nicht zu erleben, wie mein Junge Erfolg im Leben hat, oder nicht bei der Hochzeit meines kleinen Mädchens dabei sein zu können, quält mich sehr. … Kumpel, ich werde da sein, du wirst meine Gegenwart fühlen, wenn du zum ersten Mal eine Base stiehlst, auf dem Footballfeld einen Angreifer zu Fall bringst oder nur Einsen im Zeugnis hast. Ich werde bei dir sein, wenn du einen Erfolg feierst. Aber vor allem werde ich in den schweren Zeiten bei dir sein. Ich weiß, wie es ist zu weinen. Ich kenne Schmerz und Enttäuschung, und ich werde für dich da sein. Du kannst mich nicht enttäuschen. Ich verstehe es!
Adam Brown wusste, was es bedeutet, Menschen zu enttäuschen. Er wusste, was es bedeutet, Scham zu empfinden wie an jenem schwülen Nachmittag im August 1996, als seine Eltern die Polizei gerufen hatten, um ihn verhaften zu lassen. »Es ist an der Zeit, dass du die Verantwortung für deine Handlungen übernimmst«, hatte sein Vater an jenem Tag zu ihm gesagt, bevor Adam in Handschellen zum Streifenwagen geführt wurde. Als der Hilfssheriff die Autotür zugeschlagen hatte, sah Adam, wie die Beine seiner Mutter nachgaben und wie sein Vater sie auffing und an sich drückte. Als sie zu weinen begann, wusste Adam, dass er ihr das Herz gebrochen hatte.
Das Bild seiner Mutter, die an der Brust seines Vaters schluchzte, verfolgte ihn den Rest seines Lebens. Aber diese Erinnerung gab ihm auch den Anstoß zu der Reise, die ihn verwandeln sollte.
Adam Brown, der den offiziellen Titel eines Chief Special Warfare Operator (SEAL) trug, war einer der angesehensten Kämpfer in den Spezialeinheiten der United States Navy. Er gehörte der Naval Special Warfare Development Group (NSWDG) an, die auch unter dem Kürzel DEVGRU bekannt ist. Bis Mai 2011 bestätigten weder das Pentagon noch das Weiße Haus die Existenz dieser in der Öffentlichkeit als »SEAL Team 6« bezeichneten Einheit oder äußerten sich zu ihren Einsätzen. Eine Nacht änderte das: Das weltweite Aufsehen um den Tod von Osama bin Laden katapultierte diese geheimnisvolle Einheit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.
Als Adam Browns Team im März 2010 ausrückte, um an der Operation »Enduring Freedom« teilzunehmen, schwärmten die SEALs in ganz Afghanistan aus, um eine Vielzahl von Aufgaben zu erfüllen, die ihnen im Rahmen der strategischen Operationen von den Generälen und Admiralen aufgetragen wurden. Adam und ein Teil seines Teams wurden in einen abgelegenen Landstrich in Nordafghanistan geschickt, der den Taliban als Ausgangsbasis für Angriffe auf die Koalitionstruppen diente. Der »Krieg gegen den Terror« dauerte zu jener Zeit bereits achteinhalb Jahre, aber diese Region im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet war weiterhin ein Zufluchtsort für Aufständische, ausländische Glaubenskrieger und Terrorzellen, die ihr Vorgehen oft miteinander abstimmten. In diesem Gebiet wimmelte es von hochwertigen Zielen: Kommandounternehmen lieferten fast immer wertvolle Aufklärungsdaten, die genutzt werden konnten, um die Gegner der afghanischen Regierung zu schwächen und weitere Steinchen in das Puzzle zu setzen, das gelöst werden musste, um den Terrorfürsten Bin Laden aufzuspüren.
Seit Ende 2009 waren die Nachrichtendienste einem Talibanchef in der Provinz Kunar auf der Spur. Der Codename dieses Ziels lautete »Objective Lake James«. Der Mann war für den Tod zahlreicher Soldaten der internationalen Koalitionsstreitmacht verantwortlich. Neue Informationen hatten bestätigt, dass »James« vorhatte, ein amerikanisches Bataillon anzugreifen, das von seinem gegenwärtigen Stützpunkt im Tal des Pech-Flusses verlegt werden sollte. Das Tal war ein mörderischer Flecken Erde. Die Aufständischen konnten die Koalitionstruppen dort leicht angreifen und sich rasch wieder in die umliegenden Berge zurückziehen. Viele Bewohner der Dörfer und Täler in dieser Gegend hatten noch nie einen Amerikaner gesehen. Die Aufständischen wussten, dass sie jenseits bestimmter Linien auf der Karte nicht verfolgt werden würden.
Doch das sollte sich nun ändern. Die Nachrichtendienste hatten herausgefunden, wo sich »James« derzeit versteckte: auf einem Gehöft in einem abgelegenen Dorf im gebirgigen Bezirk Chapa Dara. Obwohl diese Ortschaft eine jener Hochburgen der Aufständischen war, die »weit jenseits der Linie« lagen, begann Adams Team zu planen, wie es »James« gefangen nehmen oder töten konnte.
Zunächst studierten die Amerikaner Luftaufnahmen der Anlage. Bevor die Elitesoldaten diesen Ort mit eigenen Augen sehen würden, konnten sie sich kaum ein genaues Bild von der Landschaft und den Gebäuden machen. Die Anlage wirkte aber nicht schwieriger als Hunderte andere, die sie im Verlauf zahlreicher Kommandoaktionen eingenommen hatten. Die Feindaufklärung hatte das Ergebnis gebracht, dass sich in dem Tal Kämpfer aufhielten, die mit Kalaschnikows sowie leichten Maschinengewehren und Panzerbüchsen bewaffnet waren. Die Männer, die auf den Fotos zu sehen waren, waren im kampftauglichen Alter. In der Vergangenheit hatte man viele bärtige Männer gesehen, aber in jüngster Zeit waren Aufständische und Dschihadisten dazu übergegangen, sich zu rasieren, um jünger zu wirken, und manchmal schlüpften sie sogar in Burkas, um als Frauen verkleidet leichter entweichen zu können. Daher war kaum festzustellen, mit wie vielen Feinden es die SEALs tatsächlich zu tun bekommen würden.
Im anzugreifenden Gehöft waren zu verschiedenen Tageszeiten etwa sechs Männer, sechs Frauen und sechs Kinder zu beobachten. Es war damit zu rechnen, dass sich »James« und seine Leute nicht ergeben würden. Sie würden kämpfen, was den Einsatz erschwerte, da Zivilisten ins Kreuzfeuer geraten konnten. Bei vergangenen Einsätzen hatte sich gezeigt, dass dieser Feind nicht zögerte, Frauen und Kinder als menschliche Schutzschilde einzusetzen. Aber auf solche Situationen waren die SEALs vorbereitet. Man hatte sie dafür ausgebildet, solche Situationen zu meistern.
Es waren zwei Umstände, die »Objective Lake James« zu einer der drei schwierigsten Missionen machten, die den SEALs bis dahin in diesem Krieg aufgetragen worden waren. (Das Kommando bezeichnete die Mission als »wagemutig«.) Umgeben von einem engen Tal inmitten dicht bewaldeter Berge, wurde das Ziel von feindlichen Kämpfern verteidigt, die ihre Häuser in steile Berghänge und Felsen gemeißelt hatten. Daher konnte man die Eliteeinheit nicht wie gewohnt aus der Luft zum Einsatzort bringen und anschließend sofort wieder ausfliegen. Vielmehr würden die SEALs zu Fuß einen weiten Weg durch extrem schwieriges, vom Feind kontrolliertes Gebiet zurücklegen müssen, um überraschend zuzuschlagen und sich anschließend zu Fuß zum vorgesehenen Hubschrauberlandeplatz zurückzuziehen.
Adam und sein Team würden alles tun, um zu vermeiden, dass die Dorfbewohner oder die übrigen Einwohner des Tals ihre Anwesenheit bemerkten. Sie mussten so leise wie möglich vorgehen und schallgedämpfte Waffen oder Messer einsetzen, um die Zielperson zu töten oder gefangen zu nehmen. Anschließend würden sie die Anlage nach nützlichen Informationen durchsuchen, die Zivilisten im Haus festnehmen und zum Hubschrauberlandeplatz zurückkehren.
Wenn Türen gesprengt werden mussten oder wenn die feindlichen Kämpfer Widerstand leisteten, würde das gesamte Tal wach werden. Aus allen Richtungen würden Kämpfer herbeieilen, und die amerikanische Einheit würde sich den Weg zum Landeplatz, der zu Fuß 30 bis 60 Minuten entfernt war, freikämpfen müssen. Die SEALs wussten, dass sich eine so lange Zeit unter feindlichem Beschuss wie eine Ewigkeit anfühlen würde.
Am einfachsten hätte man »James« und seine Männer natürlich mit einer ferngesteuerten Bombe ausschalten können, aber das kam nicht infrage, weil sich in der Anlage auch Frauen und Kinder aufhielten und ein Drohnenangriff auch die Familien in den Nachbarhäusern in Gefahr gebracht hätte. Die SEALs mussten mit chirurgischer Präzision zuschlagen, um einen bestimmten Feind und seine Gefolgsleute auszuschalten. Gelang es Adams Team nicht, »James« unschädlich zu machen, würde er weiterhin amerikanische oder Koalitionstruppen angreifen.
So viel stand fest.
Adam bereitete seine Ausrüstung für den Einsatz vor und faltete die Flagge von Arkansas zusammen, die ihm sein Bruder Shawn mitgegeben hatte. Zwischen Panzerweste und Uniform gesteckt, trug er sie im Kampf immer bei sich.
Jeder SEAL, der Adam Brown kennenlernte, wusste nach kürzester Zeit, woher er kam. Adam liebte einfach alles an seinem Heimatstaat. »Es ist der einzige amerikanische Bundesstaat, der sich selbst erhalten...