2. Deutschland: Ein Paradies für Syndikate
»Neue Welt« und »Alte Welt« unterschieden sich im 19. Jahrhundert dadurch, dass in Amerika ein schrankenloser Kapitalismus pure Realität war. In Europa blieb er ein ideologisches Projekt radikaler Wirtschaftsliberaler. Dort fanden Gewerbefreiheit und Freihandel indessen stets Traditionen vor, gegen deren Fortbestehen anzukämpfen war: Institutionen wie die Zünfte, deren oberster Zweck die Ausschaltung von Wettbewerbsmechanismen durch Preis- und Mengenquoten war – nichts anderes als klassische Kartelle also. Im Geiste der liberalen Doktrin beseitigten staatliche Reformen diese Relikte im 19. Jahrhundert. Doch das Pendel schlug in ernsten ökonomischen Krisen zurück. Karl Polanyi arbeitete in seiner 1944 erschienenen Analyse »The Great Transformation« das gesamteuropäische Moment dieser Entwicklung heraus: »Das viktorianische England und Bismarcks Preußen waren durch Welten getrennt, und beide waren wiederum ganz anders als das Frankreich der Dritten Republik oder das Habsburger-Reich. Dennoch durchlief jeder einzelne dieser Staaten eine Periode des Freihandels und des Laissez-faire, gefolgt von einer Periode der antiliberalen Gesetzgebung […].« (Polanyi, S. 203) Als Beispiele für Eingriffe in den Markt nannte er Transportsubventionen und die Einführung von Sozialversicherungen durch den Staat. Die Vorstellung, Märkte würden sich selbst regulieren, hielt er für eine Ideologie.
Kartelle: »Kinder der Not«
Als die Verelendung der Arbeiterschaft ebenso wie eine Renaissance konservativer Ordnungsvorstellungen das liberale Credo diskreditierte, schlug die Geburtsstunde der deutschen Kartelle in ihrer modernen Form. Einige regionale Vorläufer bestanden als meist lockere Verbindungen von Industriellen bereits seit einem halben Jahrhundert.
Eine neue Phase der Kartellierung setzte ein, als dem Rausch der Reichsgründung 1871 ein genauso heftiger Kater folgte. In der durch die Krise von 1873 ausgelösten und bis 1879 andauernden Rezession suchten immer mehr Unternehmen, einen Konkurs durch die Gründung von Kartellen abzuwehren. Die Bezeichnung »Kartell« für wettbewerbsbeschränkende Absprachen führte der österreichische Jurist und Nationalökonom Friedrich Kleinwächter ein. Er eröffnete 1883 mit seinem Buch »Die Kartelle. Eine Frage der Organisation der Volkswirtschaft« die fachwissenschaftliche Debatte über diese Gebilde. Und er lieferte mit seinem Diktum, Kartelle seien »Kinder der Not«, zugleich die ideale Rechtfertigung für ihre Errichtung. Diese Deutung trifft bedingt auf einen Teil der frühen Kartelle zu und zeitlich höchstens noch für die erneute Krise Ende der 1880er-Jahre. In dieser Phase ging die Initiative nicht zwingend von den Unternehmern selbst aus: Im Kalisektor setzen 1876 preußische Administratoren die Kartellierung durch, in anderen Fällen spielten Banken die entscheidende Rolle. Die Kartellbildung nahm auch während der von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg anhaltenden Hochkonjunktur weiter Fahrt auf. Offensichtlich wollten die Unternehmer zur Stabilisierung ihrer Märkte darauf nicht mehr verzichten, ein Zuwachs an Berechenbarkeit in den Kalkulationen war ihnen höchst willkommen. Sie erkannten Kartelle als strategisches Instrument der Unternehmensführung und nutzten es. Eines der prominentesten Beispiele organisierte seit 1893 Emil Kirdorf, Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG): Bis 1945 übernahm das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat (RWKS) zeitweise zu 90 Prozent den Absatz der Ruhrgebietszechen. Als Pendant aufseiten der Abnehmer bildete sich 1904 der Stahlwerksverband. Neben diesen bekannten Beispielen stieg die Zahl der industriellen Kartelle auch in der Breite. Bestanden 1875 in Deutschland geschätzt acht Kartelle, waren es 1890 bereits 117. Bis 1910 stieg diese Zahl auf 673 an.
Abbildung 1: Geschätzte Anzahl der Industriekartelle in Deutschland, 1875-1938.
Die Kartellurteile des Reichsgerichtes
Ob die in den Kartellen getroffenen Absprachen rechtlich bindend waren oder nicht, war zunächst ungeklärt. Da im Kaiserreich gesetzliche Sonderregelungen ausblieben, entschied diese Frage in Deutschland das Reichsgericht. Die Rechtsprechung definierte somit allein die institutionellen Rahmenbedingungen der Kartellbewegung. Die Richtung gaben die Juristen bereits in einer Entscheidung aus dem Juli 1890 vor, die die Gültigkeit eines Rabattkartells bestätigte: Die drei Jahre zuvor vom Börsenverein deutscher Buchhändler eingeführte Buchpreisbindung war rechtens. Den Buchhändlern war es auch künftig nicht erlaubt, ihre Ware unter den von den Verlegern festgesetzten Preisen zu verkaufen. In der Begründung des höchsten Gerichts im Lande hieß es: »Aus dem Prinzip der Gewerbefreiheit folgt keine Unantastbarkeit des freien Spiels wirtschaftlicher Kräfte in dem Sinne, daß den Gewerbetreibenden der Versuch untersagt wäre, im Wege genossenschaftlicher Selbsthilfe die Betätigung dieser Kräfte zu regeln und von Ausschreitungen, die für schädlich erachtet werden, abzuhalten.«
Das letztlich Epoche machende Urteil datiert aus dem Februar 1897. Für die im Vergleich mit den USA völlig anders gelagerte Wertung des Kartellwesens hierzulande ist schon die Vorgeschichte höchst aufschlussreich. Ein Kartell sächsischer Holzstofffabrikanten klagte gegen ein unfolgsames Mitglied, das entgegen gemeinsamer Vereinbarungen wiederholt Direktverkäufe tätigte. Das Reichsgericht erklärte Kartellverträge für grundsätzlich rechtswirksam und verurteilte den beklagten Unternehmer zur Zahlung der im Kartell vereinbarten Konventionalstrafe. Für nichtig erklärte das Gericht Kartellverträge, wenn sie als »sittenwidrig« anzusehen waren. Konkret sei dies der Fall, wenn sie »auf die Herbeiführung eines tatsächlichen Monopols und die wucherische Ausbeutung der Konsumenten« zielten oder diese in Kauf nahmen.
Kartelldebatten der Politik
Die Entscheidungen des Reichsgerichts spiegelten einen wirtschaftspolitischen Konsens im Kaiserreich wider. In den Worten Wengenroths:
»Die Gründerkrise hatte das Vertrauen in die Wohlfahrt stiftende Wirkung der ›unsichtbaren Hand‹ tief erschüttert und den so genannten ›Manchesterliberalismus‹ in weiten Kreisen des Bürgertums desavouiert. Der Abbau der wirtschaftsliberalen Bastionen in der preußischen Bürokratie und die konservative Wende des Reiches mit der Schutzzoll-gesetzgebung von 1879 gaben diesem Stimmungswandel politischen Ausdruck.«
Versagten die Selbstheilungskräfte des Marktes, galt eine gemeinschaftliche Selbsthilfe als legitim. Dass die »Koalitionen« von Unternehmen gelegentlich in den Fokus politischer Debatten gerieten, änderte daran nichts. 1879 diskutierte der Reichstag erstmals über das Problem am Beispiel von Kartellen der Lokomotiven- und Schienenhersteller. Im Laufe der Jahre stieg zwar die Zahl der Kritiker über die Parteigrenzen hinweg, ein größeres Echo rief die Kritik jedoch erst hervor, als sich 1891 die ostelbischen Agrarier als Großabnehmer an der Preispolitik des Kalikartells stießen. Im Dezember 1900 folgte eine generelle Kartelldebatte im Reichstag, in der das Zentrum »eine Enquete über die Wirkungen der gewerblichen Kartelle, Syndikate und Ringe« forderte. Diese wurde 1902 eingeleitet, drei Jahre später aber ohne Ergebnis abgebrochen. Die zurückhaltende Natur dieser Maßnahme zeigt, dass es immer noch darum ging, über die Wirkungsweise der Kartelle erste Klarheit zu gewinnen. 1908 schlug abermals das Zentrum vor, eine staatliche Aufsicht auf Dauer zu stellen und ein »Reichskartellamt« einzurichten, das ein Kartellregister führen sollte. Nachdem sich 1912 eine Reichstagsmehrheit aus Zentrum, Liberalen und Sozialdemokraten dafür gefunden hatte, kündigte Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg ein Kartellregister an. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges versandete dieses Projekt.
In der politischen Auseinandersetzung ging es lediglich um Vorschläge einer Aufsicht, nicht um ein Kartellverbot wie in den USA. Wenn sich der nationalliberale Gustav Stresemann als einer der »lautesten Rufer im Streit gegen die Kartelle« hervortat, so geschah dies vor seinem eigenen Erfahrungshorizont: Er kannte als Rechtsbeistand des »Verbandes sächsischer Industrieller« und Lobbyist des »Verbandes Deutscher Schokoladenfabrikanten« die negativen Wirkungen von Rohstoffkartellen für die verarbeitenden Industrien. Das Zentrum sah in Kartellen letztlich einen begrüßenswerten Ordnungsfaktor im Wirtschaftsleben. Die weitgehend positive Haltung der Sozialdemokratie beruhte auf marxistischer Dialektik: Der Frankfurter Parteitag 1894 bezeichnete Kartelle als »natürliche Folge der Entwicklung unserer kapitalistischen Produktionsweise«. Sie waren demnach als ein rationaler Schritt zur Vervollkommnung der kapitalistischen Wirtschaft anzusehen, die Voraussetzung für den Übergang zum Sozialismus war. Aus der konservativen, staatstragenden Ecke war fundamentale Kritik...