1 Einleitung
Galilei ist nicht nur ein bedeutender Name aus der Geschichte der Wissenschaften, er ist vor allem ein Symbol – ein Symbol für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Philosophie und politischer Ideologie. Der Name »Galilei« steht für die Befreiung des wissenschaftlichen Denkens aus der Klammer jedweder Bevormundung, woher sie auch kommen möge. Dass Galilei dabei mit der Inquisition in Konflikt kam und zum Schweigen – verbunden mit lebenslangem Hausarrest – verurteilt wurde, gibt seinem Fall eine dramatische Note.
Diese Symbolfunktion des italienischen Denkers ist heute noch ebenso lebendig wie vor 300 Jahren. Dies macht nicht die gesamte, aber immerhin einen großen Teil der Bedeutung Galileis für das moderne Denken aus. Nicht für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung, aber für Galileis Funktion im sogenannten Diskurs der Moderne.
Innerhalb dieses Diskurses gibt es eine wichtige Verzweigung, in der die Beweislage umgekehrt erscheint. In ihr gilt Galilei zwar ebenfalls als ein Vorkämpfer für die Emanzipation der Wissenschaft von Religion, Ideologie, ethischem und politischem Fundamentalismus und sozialen Interessen. Aber dieser Umstand wird hier nicht mehr positiv, sondern negativ gewertet. In dieser Sicht sind die globalen Probleme der heutigen Welt vor allem der ungehemmten Entwicklung der Wissenschaft und ihrer technischen Anwendungen zuzuschreiben. Galilei gilt dann als einer derjenigen, die Wissenschaft und Technik auf diesen Pfad gebracht haben.1
Galilei hat in den Händen seiner Interpreten ein wechselvolles Schicksal gehabt. Sahen die einen2 in ihm den wahren Begründer der empiristischen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft, so betonte eine zweite Gruppe eher den kontinuierlichen Fortschritt.3 Für sie war Galilei die Krönung einer Entwicklung, die bereits in der Spätscholastik eingesetzt hatte. In einer dritten Deutung sieht man in Galilei vor allem den rationalen Denker, der zwar eine Revolution ausgelöst hatte; aber diese Revolution war ein Ergebnis der Vernunft, nicht der Erfahrung oder des Experiments.4 Zwischen diesen Extremen gibt es auch vermittelnde Positionen.5
Die hier skizzierten Deutungstypen, die man als die »empiristische«, die »kumulative« und die »rationalistische« Auffassung bezeichnen könnte, erschöpfen nicht das Spektrum der möglichen und historisch vorfindbaren Interpretationen. Es handelt sich dabei allerdings um die vorherrschenden Muster, die auch heute noch die Diskussion bestimmen. Die Debatte hat noch keinen Konsens, sondern nur einen neuen Zyklus erreicht, in dem mit geschärftem Instrumentarium und neuem Material gearbeitet wird. Neues Material fand man beispielsweise in den teilweise erhaltenen Arbeitsunterlagen Galileis, anhand derer man erkennen kann, wie Galilei das Problem des Falls und andere Probleme mit den Mitteln des Experiments und der Mathematik lösen wollte.6
Warum beschäftigen wir uns heute noch mit Galilei. Gibt es überhaupt einen Aspekt des Lebens oder der Wissenschaft dieses großen Naturphilosophen, der in den Tausenden von Artikeln und Büchern, die bisher zu Galilei verfasst worden sind, nicht viele Male hin und her gewendet, von allen Seiten beleuchtet, gelobt, kritisiert und je nach Standpunkt mit der gleichen Entschiedenheit gutgeheißen wie verdammt worden ist?
Ja, es gibt solche Aspekte! Selbst die umfassendsten Arbeiten erzählen nicht die ganze Geschichte – »wie sie wirklich gewesen ist«. Dies gilt selbst für die Edizione Nazionale, die Antonio Favaro in 20 Bänden herausgegeben hat. Favaro hat vieles, was an handschriftlichen Notizen, Skizzen, Berechnungen erhalten ist, beiseite gelassen. Viele der unzähligen Briefe, die Galilei schrieb, sind vernichtet, verloren oder in diversen Archiven und Sammlungen unerkannt vergraben. Es ist also durchaus möglich, dass neue Quellen auftauchen. Aber dies ist nicht der einzige Grund, warum unser Bild Galileis nicht als vollständig bezeichnet werden kann.
Unbestreitbar ist es der Detailforschung im Laufe der letzten 50 Jahre gelungen, viele Fragen zu beantworten und neue Quellen zu erschließen. Unbestreitbar ist aber auch, dass sie im gleichen Zuge neue Fragen gestellt hat, die vielleicht sogar die gelösten zahlenmäßig übertreffen. Die verschiedenen Deutungen Galileis auf der Basis spezifischer Selektionen aus den vorliegenden Quellen zeigen, dass ein Verständnis dieses Forschers keineswegs eine lineare Funktion der Menge an bekannten Tatsachen über sein Leben und sein Umfeld ist. Ebenso wichtig wie neue Quellen sind neue Perspektiven und neue theoretische Gesichtspunkte. Der »laufende Diskurs« erzeugt ein Bedürfnis nach neuen Interpretationen, das in der Regel auch bedient wird. In der Wissenschaftsgeschichte wie in anderen Bereichen der Forschung äußern sich diese Gesichtspunkte der Betrachtung als Moden, Stile, Weltbilder, Paradigmen, Perspektiven, allgemein: kognitive Filter, die den Forscher davor bewahren, sich in einer Welt ungeordneter Tatsachen zu verlieren. Diese Filter wählen die für ihn bedeutsamen Tatsachen aus und sie stellen ihm Ordnungskriterien zur Verfügung, mit denen Hilfe er die Tatsachen miteinander verbindet. Ein neueres Beispiel hierfür ist die Studie von Mario Biagioli,7 der die These vertritt, dass sich Galileis Konflikte mit seinen akademischen und klerikalen Gegnern nur auf dem Hintergrund der höfischen Normen dieser Zeit begreifen lassen. Ein anderes Beispiel ist die Studie von Pietro Redondi über »Galilei den Ketzer«, in der der angebliche geheime Atomismus Galileis zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kontroversen mit Kirche und Inquisition gemacht wird.
Um keine falschen Prioritäten zu setzen, muss aber betont werden, dass die Suche nach neuen Quellen ebenso wichtig wie die Suche nach neuen Perspektiven bleibt. Kaum ein anderes Ereignis hat die Sicht der Galileischen Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten so sehr verändert wie Stillman Drakes Entdeckung der sogenannten »Arbeitsblätter« Galileis. Hierbei geht es in der Regel um undatierte und unzusammenhängende Notizblätter, auf denen Galilei über viele Jahre hinweg die Ergebnisse seiner Experimente aufgezeichnet hat. Bei einem Hochwasser wären sie um ein Haar in dem Archiv, in dem sie unausgewertet lagerten, vernichtet worden. Dies verweist auf einen Faktor, den man nicht kalkulieren kann, der aber stets bereit ist zu intervenieren: den Zufall.
Uns geht in diesem Buch nicht um einen Beitrag zur Quellenforschung, sondern um eine Zusammenfassung und Bewertung der bisherigen Forschungsergebnisse zur intellektuellen Biographie Galileis. Episoden und Ereignisse im Leben Galileis interessieren uns nur, wenn sie in die Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens eingegriffen haben. Für die Persönlichkeit oder die Lebensumstände des Forschers gilt das gleiche: Wenn sie geeignet sind, Licht auf den Ablauf oder das Ergebnis bestimmter intellektueller Entwicklungen zu werfen, so finden sie Berücksichtigung, andernfalls nicht.
Entsprechend der skizzierten Auffassung von intellektueller Biographie beginnt die Darstellung nicht mit der Geburt Galileis, sondern mit der Beschreibung der mittelalterlichen »Wirklichkeit«, deren Transformation in die neuzeitliche sich mit dem Leben des Galilei schneidet und in deren Ablauf er in sehr wirksamer Weise eingreifen konnte. Gefragt wird nach den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, nach dem Weltbild der Zeit, in die er hineingeboren wurde, aber auch nach den Quellen für neue Ideen, die ihm im Prinzip zur Verfügung standen. Wir fragen weiter, wie Galilei zu seinen Ideen kam, welche Wege und Umwege sein Denken ging, was die zentralen Beweggründe und Interessen seines wissenschaftlichen Handelns waren und natürlich auch, wo er sich irrte und wo er erfolgreich war.
Im ersten Teil wird ein kurzer Abriss des wissenschaftlichen und weltanschaulichen Wandlungsprozesses vom späten Mittelalter bis zur Zeit Galileis gegeben. Ziel dieser Überlegungen ist es, möglichst klar herauszustellen, wo die sichtbaren oder verborgenen Schwachpunkte des alten Weltbildes lagen, in welcher Weise man es kritisierte und verbesserte und welche Strategien die Verteidiger der alten Ordnung verfolgten.
Der zweite Teil befasst sich mit der Rolle, die Galilei in diesem Wandlungsprozess spielte. Im Mittelpunkt stehen seine spezifischen Lösungen der astronomischen, physikalischen, methodologischen und philosophischen Probleme seiner Zeit, und zwar in der Reihenfolge, wie sie sich ihm stellten. Wir untersuchen seine wissenschaftliche Entwicklung vom Aristotelismus der frühesten Schriften über die archimedische Periode und die Impetusphysik der darauffolgenden Phase bis zu seiner spezifischen Form des Trägheitsprinzips in der Spätzeit. Dazwischen liegen die beiden Konflikte Galileis mit der Kirche, die zwar kaum einen Einfluss auf seine fachwissenschaftlichen Ideen hatten, aber für das Verhältnis von Wissenschaft und Religion...