Die alte Zeit: eine Kindheit in Kathiawar
Das Leben von Mohandas Karamchand Gandhi begann in einem winzigen Fürstenstaat im äußersten Westen Indiens. Kaum mehr als 70000 Untertanen zählte das Reich des Raja von Porbandar, in das Mohandas am 2. Oktober 1869 hineingeboren wurde. Er war das sechste und letzte Kind von Karamchand Gandhi, dem obersten Minister des Fürsten. Der Vater war ein loyaler Mann, der sich durch seine reiche Erfahrung für das Amt qualifiziert hatte, wenngleich er wenig formale Bildung besaß. Seine Mutter Putlibai schildert Gandhi in seiner Autobiographie rückblickend als eine warmherzige, fromme Frau, deren Selbstdisziplin ihn tief beeindruckte. Täglich besuchte sie den Tempel, sprach vor jeder Mahlzeit ein Gebet und übte sich durch striktes Fastengelübde in Askese. Einmal gelobte sie sogar, während der viermonatigen Regenzeit nur eine Mahlzeit am Tag zu sich zu nehmen und nichts zu essen, ehe sie die Sonne gesehen habe: Wir Kinder standen in jenen Tagen und blickten zum Himmel empor, darauf wartend, unserer Mutter das Erscheinen der Sonne zu melden. Jeder weiß, dass in der Mitte der Regenzeit die Sonne oft ihr Antlitz nicht zu zeigen geruht. Und ich erinnere mich an Tage, wo wir, wenn sie plötzlich erschien, zur Mutter hineinstürzten, um ihr das anzuzeigen. Sie eilte dann hinaus, um mit eigenen Augen nachzusehen, aber inzwischen war die flüchtige Sonne schon wieder verschwunden, sie so ihrer Mahlzeit beraubend. «Das macht nichts», sagte sie heiter, «Gott will nicht, dass ich heute esse.» Und dann kehrte sie zu ihren Pflichten zurück.[5]
Mohandas’ Eltern verehrten den hinduistischen Gott Vishnu. Sie waren strikte Vegetarier und achteten die Regeln der rituellen Reinheit, was auch bedeutete, jeglichen Kontakt mit Menschen zu meiden, die als «Unberührbare» galten. Gleichzeitig herrschte in ihrem Haus eine große religiöse Toleranz. Der Hindu Karamchand Gandhi empfing regelmäßig Muslime, Parsen oder jainistische Mönche und debattierte mit ihnen über weltliche und religiöse Fragen. Besonders einflussreich im westindischen Gujarat war der Jainismus, der radikaler als alle anderen Religionen die indische Lehre von der Nichtverletzung allen Lebens (ahimsa) predigt. Die Religion der Jainas, die seine Heimat so sehr prägte, hat deutliche Spuren im Denken Gandhis hinterlassen. In seiner Autobiographie ist allerdings nur wenig über die religiösen Erfahrungen seiner Kindheit zu lesen. Der Pomp des hinduistischen Tempels, in den er seine Mutter begleitete, stieß ihn ab, wie er berichtet. Eher sprachen ihn volkstümliche Traditionen wie das Ramanama an, das ihn seine Amme lehrte: Ein Leben lang bewahrte sich Gandhi die Gewohnheit, in Momenten seelischer Not ununterbrochen den Namen des Gottes Rama zu rezitieren.
Der Jainismus
Als Vollender der jainistischen Lehre gilt Mahavira, der um 500 v. Chr. lebte und ein älterer Zeitgenosse des Buddha war. Der rigorose Gewaltverzicht, der den Jainismus kennzeichnet, versperrt den Laien zahlreiche Berufe, etwa in der Landwirtschaft. Oftmals werden sie daher Händler. Jainistische Mönche tragen Mundtücher und fegen bisweilen den Weg vor sich, da sie fürchten, versehentlich kleinste Lebewesen einzuatmen oder zu zertreten. Sie üben strenge Askese, und das Gebot der Bedürfnislosigkeit reicht so weit, dass die Mönchsgemeinschaft sich einst über die Frage entzweite, ob das Tragen von Kleidung unerlaubter Luxus sei.
Die Helden in Gandhis Kindheit waren Heilige und mythische Figuren wie der tugendhafte König Harishcandra. Die Legende erzählt, dass einst ein weiser Magier zu Harishcandra kam und ihn um Almosen bat. Der König versprach, dass er ihm alles geben werde, was er begehre. Als der Fremde schließlich das ganze Reich verlangt und den König als Sklaven dazu, steht Harishcandra klaglos zu seinem Wort und erfüllt die neuen Pflichten als Diener derart gewissenhaft, dass die Götter am Ende beeindruckt seine Königswürde wiederherstellen. Mohandas wurde nicht müde, den fahrenden Schauspieltruppen zuzusehen, die Harishcandras Geschichte aufführten. Er war ein schüchternes, zurückgezogenes Kind, wie er sich später erinnert. Er fürchtete sich vor Geistern und Schlangen, und nachdem er einmal mit anderen einige kleine Münzen gestohlen hatte, durchlebte er schreckliche Gewissensqualen. Nichts deutete in jenen Jahren darauf hin, dass Mohandas eines Tages den mächtigen britischen Vizekönig herausfordern könnte, der im 2000 Kilometer entfernten Kalkutta residierte.
Ende des 19. Jahrhunderts herrschten die Briten über rund zwei Drittel des Subkontinents. Im übrigen Teil Indiens regierten unter britischer Oberhoheit weiter einheimische Fürsten über rund 500 große und kleine Reiche. Nachdem sich 1857 eine Meuterei indischer Söldner zu einem Aufstand unter Führung der alten Grundherren ausgeweitet hatte, übernahm der britische Staat selbst die Herrschaft; bis dahin war die Kolonie von der East India Company, einer ehemaligen Handelsgesellschaft, regiert worden. Königin Viktoria entsandte jeweils für fünf Jahre einen Vizekönig nach Kalkutta und ließ sich 1876 zur «Kaiserin von Indien» ausrufen. In den Jahrzehnten nach der Machtübernahme durch die Krone wurde die Verwaltung Britisch-Indiens ausgebaut, es wurden Gesetze erlassen und Eisenbahnlinien errichtet. Immer mehr junge Inder besuchten nun westliche Colleges, um an die begehrten Posten in dem neuen System zu gelangen.
Unterdessen führten die meisten Fürstentümer weiter das verschlafene Dasein vergangener Zeiten. Als Gandhi etwa sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Rajkot um, wo der Vater Premierminister eines anderen Zwergstaates wurde. Rajkot lag 200 Kilometer von Porbandar entfernt, was damals einer Distanz von fünf Tagesreisen entsprach. Immerhin gab es hier bereits eine Schule, an der auch auf Englisch unterrichtet wurde. Die neue Sprache fiel Mohandas schwer, insgesamt scheint er jedoch kein schlechter Schüler gewesen zu sein. Im zweiten Jahr an der höheren Schule, im Alter von 13 Jahren, verheiratete man ihn mit der gleichaltrigen Kasturba. Eine Hochzeit war ein großes soziales Ereignis und verursachte immense Kosten. Daher war es durchaus üblich, dass die Familie gleichzeitig die Heirat eines älteren Bruders und eines Vetters abhielt. Keineswegs unüblich war auch, dass Mohandas und die anderen Kinder erst durch die Vorbereitungen von ihrer Hochzeit erfuhren. Viele Jahre später sollte Gandhi seinen Vater für diese Kinderheirat kritisieren. Doch noch war keine Rede davon, und die Kinder hatten Freude an der bunten Prozession und dem üppigen Festmahl. Schon bald nach der Heirat versuchte Mohandas sich in der Rolle des hinduistischen Ehemanns. Er wollte kontrollieren, wie oft Kasturba zu ihren Freundinnen oder in den Tempel ging, was sie sich nicht gefallen ließ. Auch sträubte sie sich gegen seine Versuche, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Offen berichtet Gandhi in seiner Autobiographie auch über die sexuelle Beziehung zu seiner Kindfrau, die ihm im Rückblick als jugendlicher Exzess, ja geradezu als bedrohliche Besessenheit erscheint. Ständig habe er in der Schule an sie gedacht, und es sei ein Segen gewesen, dass die junge Braut der Tradition gemäß mindestens die Hälfte des Jahres weiter bei ihren Eltern verbrachte.
In der Schulzeit lernte Mohandas einen älteren Jungen namens Sheikh Mehtab kennen, dessen körperliche Stärke und Furchtlosigkeit ihm sehr imponierten. Der Freund überzeugte ihn, dass das Geheimnis seiner Stärke in der Diät liege. Wieder und wieder redete er auf Mohandas ein, auch er solle Fleisch essen. Viele in der Stadt würden dies heimlich tun, denn sie hätten erkannt, dass die Engländer nur deshalb die Inder beherrschten, weil sie Fleischesser sind. Es sei also geradezu eine nationale Pflicht, die vegetarische Lebensweise aufzugeben. Eines Tages trafen sich die Jungen tatsächlich an einem geheimen Ort am Fluss, und Mohandas aß zum ersten Mal in seinem Leben Fleisch. Es war gekochtes Ziegenfleisch, zäh wie Leder. Mohandas wurde sofort übel, und es kam noch schlimmer: Nachher hatte ich eine sehr schlechte Nacht. Ein schrecklicher Albdruck quälte mich. Jedes Mal, wenn ich gerade eingeschlafen war, kam es mir vor, als meckere eine lebende Ziege in mir, und ich fuhr reuevoll auf. Aber dann besann ich mich wieder darauf, dass Fleischessen eine Pflicht war, und das ließ mich wieder fröhlich werden.[6] Die Experimente wurden fortgesetzt, und es scheint, dass der junge Gandhi nach einer Weile sogar Geschmack an Fleischgerichten fand. Immer unerträglicher wurde ihm jedoch der Umstand, dass er seine Eltern belog. Nach etwa einem Jahr beschloss er daher, die «Nahrungsreform» zu verschieben und erst wieder mit dem Fleischverzehr zu beginnen, wenn seine Eltern nicht mehr lebten.
Während in Gujarat langsam erste westliche Einflüsse spürbar waren und die Jugendlichen sich durch Diätexperimente gegen einen fernen Feind rüsteten, hatten ihre Landsleute in Bombay, Kalkutta oder Madras längst sehr enge Begegnungen mit den Kolonialherren: In den niederen Rängen der britischen Verwaltung waren viele Inder beschäftigt, andere wurden College-Dozenten oder Anwälte an britischen Gerichten. Die kleine, aber schnell wachsende Gruppe von Englisch sprechenden Indern bildete eine neue Elite. Sie stützte die britische Herrschaft – doch gleichzeitig zogen sich die Kolonialherren mit ihnen ihre eigenen Kritiker heran. Mehr als Politik beschäftigten die Inder allerdings zunächst religiöse und soziale Reformen. Die Begegnung mit westlichen Ideen und die Kritik der Europäer an der Vielgötterei, an erotischen Tempelskulpturen, Kinderheirat, Kastenwesen und der aus...