1 Einführung in die Verhaltenslehre bei Hund und Katze
Angela Bartels
1.1 Normalverhalten
Ethologische Kenntnisse sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Beratung in der Verhaltenstherapie. Ausreichendes Wissen über das Normalverhalten hilft bei der Diagnosefindung und letztendlich bei der Entscheidung, ob es sich bei einem Verhalten um Normalverhalten oder um eine Verhaltensstörung handelt. Als Referenzsystem für die Definition des „Normalen“ dienen, wo immer möglich, die freilebenden Vorfahren einer Art. Nur wer über die normale Verhaltensentwicklung von Hund und Katze Bescheid weiß, kann mögliche Fehlentwicklungen erkennen, diesen vorbeugen und Fehler im täglichen Umgang mit den Vierbeinern vermeiden.
Das Ethogramm ist eine detaillierte Bestandsaufnahme aller Verhaltensweisen, die eine Tierart unter bestimmten Umweltbedingungen zeigt, beim Haushund z.B. das Pfoteheben oder Lefzenhochziehen. Das Verhalten wird zunächst unabhängig von der Situation und der Bedeutung erfasst. So kann das Lefzenhochziehen beispielsweise im Rahmen einer spielerischen Interaktion oder in einer aggressiven Auseinandersetzung gezeigt werden. Alle Verhaltensweisen, die ein gemeinsames übergeordnetes Ziel verfolgen, werden in einer Kategorie zusammengefasst. Diese wird als Funktionskreis bezeichnet. Experten unterscheiden die folgenden Funktionskreise: Orientierungs-, Komfort-, Sozial-, Fortpflanzungs- und stoffwechselbedingtes Verhalten. Die einzelnen Funktionskreise werden ihrerseits aufgeteilt in die sogenannten Verhaltenskategorien. Damit wird eine noch genauere Kategorisierung möglich. So zerfällt etwa der Funktionskreis Sozial- und Sexualverhalten in die Kategorien Verhalten für soziale Annäherung, Imponierverhalten, passive Submission, agonistisches Verhalten, Verhalten, um Stress oder Erregung auszudrücken, sowie Spielverhalten, Aufmerksamkeit und Unsicherheit.
1.1.1 Normalverhalten Hund
Der Haushund, Canis lupus familiaris, stammt vom Grauwolf, Canis lupus lupus, ab. Dies wurde durch DNA-Analysen eindeutig nachgewiesen. Das Normalverhalten eines Hundes allerdings ist nicht mehr eindeutig vom Normalverhalten eines Wolfes abzuleiten, denn aufgrund der großen Rassenvielfalt mit jeweils sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen ist es schwer, von „normal“ zu sprechen. So unterscheidet sich das Verhalten eines Border Collies stark von dem eines Vertreters der Jagdhund- oder Terrierrassen. Insbesondere im Ausdrucksverhalten wird sichtbar, wie groß die Unterschiede zwischen den Rassen sind, z.B. bei Schäferhund und Mops. So können einige Verhaltensweisen unter anderem wegen des Auftretens von Hängeohren, veränderter Fellstruktur und züchterischer Veränderung an der Rute gar nicht oder nur noch eingeschränkt ausgeführt werden.
1.1.1.1 Kommunikationsformen
Hunde kommunizieren durch ihr optisches Ausdrucksverhalten (Gestik und Mimik), ferner über Geruch (olfaktorisch), Berührungen (taktil) und Geräusche (akustisch).
Der Begriff Gestik bezeichnet den Körperausdruck, z.B. die Körperhaltung, die Haltung und Bewegung der Rute sowie die Kopfhaltung. Mimik ist der Ausdruck des Gesichts, hierzu zählen unter anderem das Hochziehen der Lefzen und das Zurücklegen der Ohren. Alle diese Informationen geben Auskunft über den emotionalen Zustand eines Hundes, über Motivation und Handlungsbereitschaft. Die Beobachtung und Interpretation des Ausdrucksverhaltens ist Voraussetzung für die Diagnosestellung in der Verhaltenstherapie.
Das folgende Beispiel soll das unterschiedliche Ausdrucksverhalten eines sicheren und eines unsicheren Hundes veranschaulichen. Ein sicherer Hund geht aufrecht. Die Ohren werden nach vorn getragen, das Körpergewicht wird mehr auf die Vorderhand verlagert. Die Rute ist erhoben. Die Haut des Gesichts ist leicht gespannt, die Maulspalte etwas verkürzt (▶ Abb. 1.1). Bei unsicheren Hunden sind die Ausdruckselemente zunehmend von dem abgewendet, was „verunsichert“. Das Gewicht verlagert sich auf die Hinterhand und die Hinterbeine sind eingeknickt. Die Rute wird tief getragen. Einige Hunde stellen bei Unsicherheit die Haare auf dem gesamten Rücken auf. Die Gesichtshaut ist glatt, die Ohren sind zurückgezogen. Der Hund zeigt ein sogenanntes Welpengesicht, das maskenhaft starr wirkt. Die Maulwinkel sind zurückgezogen. Der Blick ist nicht fokussiert, er wirkt flackernd (▶ Abb. 1.2).
Abb. 1.1 Ausdrucksverhalten eines sicheren Hundes.
Abb. 1.2 Ausdrucksverhalten eines unsicheren Hundes.
1.1.1.2 Ontogenese
Als Ontogenese wird die individuelle Entwicklungsgeschichte bezeichnet, d.h. die Entwicklung des einzelnen Lebewesens von der befruchteten Eizelle zum erwachsenen Lebewesen. Die Ontogenese der Hundewelpen gliedert sich in mehrere Abschnitte. Nachfolgend sind die für die Verhaltensentwicklung relevanten Aspekte aufgeführt.
Pränatale Phase
Einen möglichen Einfluss auf die Verhaltensentwicklung schon vor der Geburt hat die Lage der Feten zueinander. So kann es zu einer sogenannten Androgenisierung bei einem weiblichen Fötus kommen, wenn er im Mutterleib zwischen 2 männlichen Föten liegt. Diese Hündinnen wirken dann als erwachsene Hunde männlich. Des Weiteren gibt es Untersuchungen, die belegen, dass stark stressbelastete oder mangelernährte Muttertiere ängstliche Nachkommen hervorbringen. Einen positiven Einfluss auf die Verhaltensentwicklung hat vermutlich das Streicheln der Feten durch die Bauchdecke der Mutter. Hierbei entsteht der positive Effekt aber möglicherweise auch dadurch, dass sich das Muttertier aufgrund der Zuwendung wohlfühlt.
Neonatale Phase
Das Leben der Neugeborenen besteht in dieser Zeit (1.–14. Lebenstag) aus Fressen und Schlafen. Sie sind in der Lage, im Kreis zu kriechen und dabei Pendelbewegungen mit dem Kopf auszuführen. Die Ohrkanäle und die Augen sind verschlossen. Der Geruchssinn ist bereits ausgebildet. In dieser Phase beginnen die Welpen bereits zu lernen, mit Frustration umzugehen: Hunger (Bedürfnis) führt zu Kriechen (Anstrengung) und schließlich zum Erfolg (Trinken und Sättigung) oder auch Misserfolg, wenn sie die Zitze nicht finden (Frustration). Daher ist es wichtig, die Welpen nicht dadurch zu sehr zu verwöhnen, dass man sie gleich beim 1. Schrei an die Zitze setzt, da es für das spätere Leben wichtig ist, dass die Welpen lernen, mit Frustration umzugehen. Wer im Paradies aufwächst, kann auch nur dort überleben!
Transitionale Phase
In der 3. Lebenswoche (15.–21. Lebenstag) beginnen sich die Verhaltensformen des erwachsenen Hundes auszubilden. Die Augen öffnen sich. Von nun an reagieren die Welpen sehr sensibel auf Einflüsse von außen. Das Ausscheidungsverhalten verändert sich und ist nicht mehr abhängig von der Stimulation durch die Mutter. Es erfolgt die 1. Verknüpfung auf die Wahl des Untergrunds, auf den Kot und Urin abgesetzt werden. Der Zugang zu natürlichen Untergründen, wie Gras oder Erde, erleichtert das spätere Stubenreinheitstraining.
Sozialisationsphase
Diese Zeit, die abhängig von der Rasse des Hundes die 4.–12./14. Woche umfasst, ist für eine erfolgreiche Sozialisation und Habituation besonders wichtig! Mit Beginn der 4. Lebenswoche erfolgt eine schnelle Entwicklung von sozialen Verhaltensmustern. Jetzt erlernen...