Nur in New York!
Erwarten Sie, dass Ihr Leben sich verändert, wenn Sie diese Stadt betreten. Erwarten Sie nicht, dass das wie im Traum geschieht. New York ist keine Stadt für Träumer. Andere Qualitäten hat sie zuhauf. Mit dem Central Park liegt mitten in New York eine der schönsten großstädtischen Parklandschaften der Welt, und über alle Veränderungen hinweg bleibt die Skyline traumhaft. In den Museen finden Sie die erhabenste Kunst, in den Konzertsälen die Virtuosen der Welt, und auf den Straßen wird Ihnen die größtmögliche Vielfalt an Menschen begegnen. Die Stadt ist aufregend, überwältigend, geschichtsträchtig, sie ist sicherer als die meisten anderen Metropolen der Welt, und sie ist sehr schnell. Sie inspiriert immer noch Künstler und Schriftsteller, die seit jeher hierherströmen, um sich mit den Besten ihres Fachs zu messen, sie ist grell, schlaflos und unverschämt. Nur herzlich und freundlich, das ist sie nur bedingt. Ja, New York wird Sie willkommen heißen – vorausgesetzt, dass Sie riskant und in ständiger Konkurrenz zu leben bereit sind, dass Sie die Masse brauchen, weil Sie die Einsamkeit lieben, vorausgesetzt vor allem, dass Sie bereit sind, innerlich zuzugeben, wie hart das Leben ist. Und Spaß daran haben, sich zu beklagen, nicht über die Härte, das könnte Ihr erster Fauxpas werden, aber über die Schlaglöcher, über das Wetter, über den Verkehr und über alles andere, das sich nicht ändern lässt. Wer es lieber gemütlich hat, wird in New York nicht glücklich werden. Und wer zum Träumen kommt, wird schnell untergehen. Der Traum ist, hier anzukommen. Dann heißt es wachsam sein.
New York sieht sich als Hauptstadt der Welt, weil sie verspricht, dass jeder hier finden kann, wonach er sucht. Dass die Suche einfach sei, ist damit nicht gemeint. In New York zu leben ist schwierig, weil der Alltag Kampf bedeutet: Kampf um einen Job, eine Wohnung, ein Taxi bei Regen und einen Platz im Restaurant; Kampf um Anerkennung, eine gute Figur und ein Ticket für Shakespeare im Park. Nur in New York nennen es die Banker klaglos »Frühstück«, wenn sie in einer windigen Straßenschlucht im Nieselregen Schlange stehen, um für einen Phantasiepreis an einem fahrbaren Büdchen am Straßenrand dünnen Kaffee und einen schlappen Bagel zu erstehen. Nur in New York akzeptieren Angestellte über 30 mit gutem Einkommen ein Zimmer mit Gemeinschaftsbad in Handtuchgröße zum Preis eines Einfamilienhauses irgendwo außerhalb der Stadt. Und nur in New York bringen Menschen ganz selbstverständlich ihre Sommer- oder Wintergarderobe in eines der zahlreichen Lagerhäuser, weil in ihrer Wohnung kein Platz ist für einen zusätzlichen Schrank.
Nicht nur die Wohnungskosten sind höher als überall sonst in den Vereinigten Staaten (und fast überall sonst auf der Welt), sondern auch die Steuern, die sich die Stadt auf alles zu erheben erlaubt. New York war die erste amerikanische Stadt, in der auf den Theaterkarten dreistellige Preise standen, inzwischen längst eine Selbstverständlichkeit für alles, was live dargeboten wird. New York war auch die Stadt, in der sich zum ersten Mal vierstellige Summen auf den Theater- und Konzerttickets fanden – nicht etwa auf dem Schwarzmarkt, der hier verschämt »secondary market« heißt, sondern ganz regulär.
Der Brückenzoll auf dem Weg zum Flughafen oder sonst wohin hinaus aus der Stadt ist teurer als andernorts, und teurer sind auch die Garagen, die Kaufhäuser, Zigaretten und frische Blumen. Der Verkehr ist nervenaufreibend, einen Taxifahrer zu finden, der Englisch spricht und weiß, wie er zum Bahnhof Penn Station kommt, immer noch ein glücklicher Zufall. Seit die verschiedenen Carsharing-Dienste aktiv geworden sind, ist die Sache nicht besser geworden. Nur deutlich billiger.
Jeder kleine Sieg in diesem Alltag ist ein Triumph. Das mag erklären, warum die Stadt sich durch Katastrophen im Wesen nicht verändert. Als New Yorker wird man abgehärtet und stolz. An guten Tagen, wenn die Stadt im Licht der untergehenden Sonne glüht, ein kühler Windhauch durch die Straßen streift und die Passanten einen Augenblick lang das Gesicht zum Himmel strecken und die Augen schließen, kann man in dieser Härte eine Grazie sehen wie nirgendwo sonst.
Die europäischen Einwanderer, die Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in die Stadt strömten, um in den Nähereien oder im Hoch- und Tiefbau, im Hafen oder in den kleinen Manufakturbetrieben im Süden von Manhattan ihre wenigen Dollar zu verdienen, rechneten ebenso wenig mit einem bequemen Start ins neue Leben wie die Einwanderer heute, die vor allem aus Lateinamerika, aus Osteuropa und Asien stammen. Sie rechneten nur damit, dass man sie machen ließ. Das allein ist der große Traum von dieser Stadt: die Freiheit, zu werden, wer man sein will. Auch wenn Sie als Reisender kommen und nicht die Absicht haben zu bleiben, werden Sie diesen Sog in die Unabhängigkeit und die Erregung und die Lust aufs Unerwartete spüren, das hier geschehen könnte. Ob die Stadt gerade arm ist oder reich, ob die Zahl der Verbrechen steigt oder sinkt, ob eine Krise sie schüttelt oder gebaut wird, was das Zeug hält: Das Gefühl dieser Freiheit steht immer wieder am Anfang jedes Besuchs in New York.
Ihr Herz wird also heftig klopfen, wenn Sie New York betreten, beim ersten Mal und jedes Mal von Neuem. Schon nach wenigen Tagen aber werden Sie sich zu Hause fühlen. In den zahllosen ethnischen Vierteln in Manhattan, Brooklyn, der Bronx und Queens geht es zu wie daheim: für die Russen in Brighton Beach, für die Chinesen in Chinatown – dem in Manhattan und dem bald größeren in Flushing in Queens –, für die Polen in Greenpoint, die Kolumbianer in Jackson Heights, für die Guatemalteken in Hillcrest, die Puerto Ricaner in Spanish Harlem, die Griechen in Astoria und für die orthodoxen Juden in Borough Park in Brooklyn. Manhattan ist außerdem klein und mit seinem weitgehend schachbrettartigen Straßenraster so überschaubar, dass Sie sich nach kurzer Zeit auszukennen meinen. Prahlen Sie nicht damit, denn ganz richtig ist Ihr Eindruck nicht, und kein New Yorker wird Ihnen glauben, dass seine Stadt es Ihnen leicht macht. Und für die anderen Stadtteile, für Queens, Brooklyn, Staten Island oder die Bronx, gilt es sowieso nicht.
Zwar hat die Stadtregierung für den Besucher inzwischen einige Hindernisse weggeräumt, die zwischen ihm und seinem Zielort lagen. Zum Beispiel hat sie an den Haltestellen von Bussen und U-Bahnen, die hier »Subway« heißen, Pläne angebracht, die über den Streckenverlauf der verschiedenen Verkehrsmittel Auskunft geben. Früher hingen solche Schaubilder nur in den Waggons; man musste also einsteigen, um festzustellen, dass dies die falsche Linie war. Internationalen Standards folgend zeigen Leuchtschriften in den Stationen inzwischen an, wann welcher Zug demnächst einfährt. In den neueren Stationen stehen wie ein iPhone geformte digitale Anzeigetafeln mit Touchscreens, auf denen Informationen über Verspätungen, Streckenarbeiten oder Zugausfälle abgefragt werden können. In den Zügen der Subway schnarrt eine Computerstimme Auskünfte über die kommenden Haltestellen, und in immer mehr Waggons zeigt eine Leuchtschrift an, wohin Sie unterwegs sind. Eine Fürsorge ist das fast wie in Hongkong! Auch kann es passieren, dass ein Busfahrer Sie darüber aufklärt, es sei die Saison für Erkältungen. »Seien Sie rücksichtsvoll! Niesen oder husten Sie in die Ellenbogenbeuge!« Es ist, als wollte die Stadt, die ihre Besucher so lange ganz allein gelassen hatte, sie jetzt bei der Hand nehmen und dafür Sorge tragen, dass ihnen nichts passiert und sie pünktlich zu dem Ziel kommen, das sie anvisieren.
Doch dieser Eindruck täuscht. Wenn Sie zum ersten Mal auf die Lautsprecherdurchsage eines lebendigen Schaffners auf dem Bahnsteig angewiesen sind und in der knatternden Übertragung durch verrottende Mikrofonkabel kein Wort außer der Nummer Ihres Zugs verstehen, können Sie ahnen, wie es einmal immer und überall hier war. Auch Einheimische spitzen dann die Ohren, geben aber nicht preis, ob sie einen Ton verstanden haben. Manche lachen, andere schauen blasiert den Bahnsteig entlang, wieder andere heben kaum den Blick von Smartphone, Zeitung oder Buch. Fragen Sie lieber niemanden in solchen Augenblicken. Die meisten New Yorker sind der Meinung, wer sich in ihrer Stadt bewege, müsse schon selbst herausfinden, wie er zum Ziel kommt.
Sie können auch zu Fuß gehen. Manhattan ist der einzige Ort in den Vereinigten Staaten, an dem Laufen zum Leben gehört und ein Auto nicht unbedingt. Wie in den besten europäischen Städten begegnen sich die New Yorker auf der Straße, und das Zentrum – es umfasst beinahe ganz Manhattan und die beliebtesten Kreuzungen in Williamsburg oder Park Slope, Jackson Heights und Astoria in Queens –, aus dem die Amerikaner in allen anderen Städten in die Vororte entfliehen, ist ein Anziehungspunkt. Vielleicht fühlen sich deshalb Europäer seit jeher so schnell heimisch hier, während die amerikanischen Touristen sich in Manhattan beinahe schon in Europa wähnen. Aber New York ist einzigartig. Wenn Sie sich dem Rhythmus der Stadt hingeben, werden Sie lernen, sich in ihr zu bewegen. Sie werden lernen, im Dunkeln am Abend oder in der Nacht mit den Fahrradlieferanten aus den Restaurants zu rechnen, die Ihnen ohne Licht in den Seitenstraßen entgegenkommen. Sie werden die Straßenseite zu wechseln lernen, je nachdem, wie die Sonne scheint oder wo die Pfützen an den Übergängen besonders tief sind. Sie werden ein bisschen schneller werden, ein bisschen klüger und glücklich, zu finden, wonach Sie vielleicht nie zu suchen wagten.
Damit Sie nicht suchen, was Sie nicht finden können,...