Kapitel 1
Die Angstspirale
Wie wir unsere Kinder lehren, sich zu fürchten
Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Englisches Sprichwort
Ein Dienstagnachmittag im Sommer. Ich unterrichte im Computerraum einen Oberstufenkurs in Informatik. Die Schüler sind mit einer Programmieraufgabe beschäftigt, und ich gehe von Tisch zu Tisch und schaue, wer vielleicht meine Hilfe benötigt. Plötzlich dringen durch das geöffnete Fenster laute Hilferufe zu uns herein. Es sind Kinderstimmen. Ich trete ans Fenster, ein paar Schüler folgen mir. Wir schauen gemeinsam, was draußen vor sich geht.
Unsere Schule teilt sich den Pausenhof mit der benachbarten Grundschule. Das Schauspiel, das sich uns dort unten bietet, ist reichlich merkwürdig. Ein roter VW-Kombi mit getönten Scheiben steht auf der Mitte des Platzes. Ein dunkel gekleideter Mann – selbst aus der Ferne vom Körperbau her ein ziemlicher Schrank – macht sich am geöffneten Kofferraum des Wagens zu schaffen.
Etwa zehn Meter von ihm entfernt stehen rund zwanzig Grundschüler in einer Reihe. Jedes Kind tritt einzeln vor und geht an dem roten Kombi vorbei. Wenn es auf gleicher Höhe mit dem dunkel gekleideten Mann ist, dreht sich dieser um und kommt mit bedrohlicher Körperhaltung auf das Kind zu. Manchmal gibt er sich zur Abwechslung auch zahm und versucht, das Kind mit einer Tafel Schokolade zu sich zu locken.
Die Reaktion der Grundschüler läuft immer gleich ab, was ich als Zeichen werte, dass sie diese zuvor mit einem Trainer, bestimmt dem jetzt »bösen« Mann, einstudiert haben müssen. Die Dreikäsehochs halten abwehrend eine Hand in die Höhe und rufen: »Stopp! Lass mich!« Dann rennen sie weg, so schnell sie ihre kurzen Beine tragen, und schreien dabei laut: »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Ich staune nicht schlecht. Und meine Schüler machen ebenfalls verdutzte Gesichter, manche finden es »voll krass« oder schütteln den Kopf.
Von Kollegen und Bekannten habe ich bereits gehört, dass diese Art von »Selbstsicherheitstraining« oder »Präventionskurs« bei Kindern, beziehungsweise ihren Eltern, gerade en vogue sein soll. Externe Dienstleister bieten Kurse dieser Art in Kindergärten und Schulen an. Es ist allerdings das erste Mal, dass ich eine solche Übung live mitverfolge.
Und ich habe selten etwas Blödsinnigeres gesehen.
Denn: Ist ein solches Training wirklich realistisch? Rüstet es die Kinder tatsächlich für den »Ernstfall«? Und macht es ihnen Mut für den Alltag?
Wohl kaum.
Die überwiegende Zahl der Kinder wird zum Glück nie in eine solche Lage geraten. Das Training ist also reine Panikmache. »Viele Anbieter werben mit angsteinflößenden Videos, Werbetexten oder Statistiken für Kurse und andere Trainings, die Kinder gegen Übergriffe von Fremden schützen sollen. Tatsache ist aber, dass Anbieter mit der Angst der Eltern Geld verdienen wollen«, sagt auch Andreas Mayer, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes in einem Interview mit der Webseite urbia.de.
Prominente Fälle wie der von Natascha Kampusch oder Jakob von Metzler machen zwar Schlagzeilen, doch solche Entführungen sind ausgesprochen selten und haben meist etwas damit zu tun, dass die Eltern des Kindes reich sind und ein üppiges Lösegeld zahlen können. Die rund 750 Kinder, die in Deutschland jährlich als entführt gemeldet werden, sind aber in den allermeisten Fällen nach der Trennung von einem Elternteil entführt worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind von einem x-beliebigen Fremden entführt wird, ist verschwindend gering – Schätzungen zufolge ist die jährliche Zahl einstellig. Das Risiko, dass Ihr Nachwuchs von einem Blitz erschlagen wird, kommt dem in etwa gleich.
Was die Kinder dort unten auf dem Schulhof bei dem Training lernen, bereitet sie weder auf eine real existierende Gefahrensituation vor, noch gibt es ihnen Selbstbewusstsein.
Sie lernen eher das Gegenteil.
Sie lernen, Angst zu haben.
Angst vor dunkel gekleideten Kombi-Fahrern. Angst vor Erwachsenen im Allgemeinen. Angst, alleine irgendwohin zu gehen.
Wenn solche Angst geschürt wird, kommt es selbst in alltäglichen Situationen zu Überreaktionen: Eine Grundschülerin einer hiesigen Schule wurde neulich auf dem Heimweg von einem Mann angesprochen und am Arm festgehalten. Das Kind rannte zur Mutter nach Hause. Was genau der Grund für die Situation war, konnte nicht ermittelt werden. Die Mutter rief jedoch sofort in der Schule an, dass ein Entführer es auf ihr Kind abgesehen hätte. Die Schule verpflichtete daraufhin alle Eltern, ihre Kinder an diesem Tag abzuholen, selbst diejenigen, die das nicht wollten. Angst und Panik verbreiteten sich sichtlich unter den Schülern. Auch das Kind einer befreundeten Mutter, das sonst sehr selbstständig ist, war am Abend fix und fertig, es wollte die Nacht bei seinen Eltern im Bett verbringen und weinte sich in den Schlaf. Die heftige Reaktion der Mutter und der Schule förderte nur Angst und den Hang zum Klammern bei Eltern wie Kindern.
All dies ist Ausdruck eines generellen Trends, den ich in der Schule und im Alltag beobachte: Wir lehren unsere Kinder, sich zu fürchten. Ich kenne 13- oder 14-jährige Schüler und Schülerinnen, die noch nie allein in der Stadt waren, weil ihre Eltern befürchten, sie könnten sich dort nicht zurechtfinden, mit der Situation Stadt überfordert sein, entführt werden oder in die falschen Kreise geraten. Vor Kurzem habe ich mit einer Mutter gesprochen, die nicht wollte, dass sich ihre halbwüchsige Tochter bei Amnesty International engagiert. Sie hatte Bedenken, ihr Kind könne auf Demos gehen und sich dort radikalisieren. Und ich kenne Eltern, die schicken ihre Kinder nicht mal auf Klassenfahrten. Sie geben vor, dass ihr Sprössling unter Heimweh leidet. Dabei haben sie selbst einfach Angst, nicht bei ihrem Kind zu sein, nicht zu wissen, was gerade in dessen Leben geschieht. Diese Eltern leiden unter Kindweh, was inzwischen fast weiterverbreitet ist als Heimweh. Und es ist deutlich schädlicher: denn Furcht ist ein schlechter Ratgeber.
Zum einen haben unsere Ängste oft nichts mit der Realität zu tun: Wir mögen zum Beispiel Bilder von Krawallen im Fernsehen sehen, aber in der Mehrzahl verlaufen Demonstrationen friedlich. Wenn Eltern Angst haben, ihr Teenager könne von fliegenden Flaschen getroffen werden, wenn er oder sie zu einer harmlosen Tierschutzdemo in der nächstgelegenen Kreisstadt geht, machen sie ihrem Nachwuchs eher Angst und bremsen ein soziales Engagement später möglicherweise aus.
Zum anderen verunsichert es die Kinder, wenn wir unsere Ängste nicht im Zaum halten, wie es bei Kindweh der Fall ist. Tun Sie mir daher einen Gefallen, und lassen Sie Ihre Kinder allein zur Klassenfahrt, ins Ferienlager oder auf den Vereinsausflug fahren. Das packen die schon, glauben Sie mir! Das Kindweh der Eltern mitzuerleben, ist viel schlimmer für das Kind, als Heimweh zu haben. Indem Eltern ihre – meist unbegründete – Angst ausleben, stellen sie ihre eigenen Bedürfnisse über die Entwicklung des Kindes.
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Mutter, die Probleme hatte, ihre Tochter alleine wegfahren zu lassen. Die 6. Klasse, die das Kind besuchte, reiste für eine Übernachtung in ein Landschulheim.
»Ich bin eine Glucke«, sagte sie im Gespräch mit mir, und lachte unsicher. »Ich weiß, dass das vollkommen übertrieben ist, aber ich kann nicht anders.«
»Es wäre super, wenn Sie Ihre Angst Ihrer Tochter zuliebe ein wenig zurückstellen«, riet ich ihr.
Sie nickte und schwieg einen Moment. »Wird die Tür nachts abgeschlossen?«, fragte sie dann. »Sonst könnten die Kinder doch entführt werden … Und liegt das Haus in der Nähe des Waldes?«
»Die Stadt ist doch viel gefährlicher als der Wald«, antwortete ich.
»Ja, aber im Wald sind die ganzen Mörder.«
Erstaunt fragte ich sie, wie sie darauf käme.
»Das weiß ich aus dem Fernsehen.«
Mit dieser Urangst fertigzuwerden, war für sie nicht leicht, auch wenn sie selbst ein bisschen über ihre Furcht schmunzeln musste. Sie fragte dann ernsthaft, ob sie nicht auf die Klassenfahrt ihrer elfjährigen Tochter mitfahren könne. »Ich würde mich auch draußen vor die Haustür legen, nur damit ich weiß, dass es meinem Kind gut geht.«
Sie erklärte mir noch, dass sie zwar wüsste, dass der Übernachtungsausflug mit Gleichaltrigen ihrem Kind guttun würde, dass ihre Tochter aber besonders empfindsam sei und sich sonst sicher ängstigte. Das höre ich sehr oft von Eltern. Doch was Kindern in vielerlei Hinsicht wirklich schadet, sind Eltern, die nicht loslassen können.
Wie schief dies gehen kann, zeigt das Beispiel des 13-jährigen Florian, der auf einer Ferienfreizeit mitfahren sollte. Die Mutter wollte ihn nicht mit im Landheim übernachten lassen, buchte also für sich und ihn ein Zimmer in einer nahe gelegenen Pension. Tagsüber sollte er am Programm der Ferienfreizeit teilnehmen, abends nach der Gutenachtgeschichte wurde er dann abgeholt und übernachtete bei seiner Mutter in der Pension. Für Florian und auch für uns als Gruppe war dies nachteilig: Er hatte ohnehin Anschlussprobleme, die sich dadurch verstärkten, und die Mutter brachte ihn nicht immer zuverlässig, wir mussten also oft auf ihn warten. Eines Morgens wurde er überhaupt nicht gebracht, ich ging also mit dem Leiter der Ferienfreizeit zur Pension, um zu fragen, was los sei.
»Das muss ich Sie fragen«, rief die Mutter aufgebracht. »Florian ist gestern total verstört heimgekommen!« Ihr Junge würde jetzt gar nicht mehr zum Programm kommen.
Wir erfuhren schließlich den Grund für ihre Verärgerung: Am Abend...