Einleitung
Weimar, 9. Oktober 1828. Eckermann, Goethes Vertrauter, notiert: »Diesen Mittag bei Tisch war ich mit Goethe und Frau von Goethe (Goethes Schwiegertochter Ottilie, geb. von Pogwisch) allein.« Man spricht über Musik und Italien. Ein Stichwort, das Goethe überraschend verbindet mit einem Glücks-Geständnis. Dass er nur »in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen.«
Kann man zur Höhe einer Glücksempfindung nur in Rom gelangen? Und war dies nur möglich am Vorabend jener Revolution in Frankreich, die Goethe als das »schrecklichste aller Ereignisse« empfunden hat? Ein Ereignis, das für ihn außerdem zeitlich sinnfällig wurde mit der industriellen Revolution: 1790 war er ihr zum ersten Mal im preußischen Bergbau in Schlesien begegnet in Gestalt der »Feuermaschine von Tarnowitz«.
Hat Goethe Glück nicht doch verstanden als eine Empfindung, die auch den Nachgeborenen bis in die Gegenwart offensteht? Allerdings als Glück im gleichzeitigen Bewusstsein des »Schrecklichsten«. Nämlich im Bewusstsein, dass beide Revolutionen der Moderne verstanden werden müssen als Prozess einer unaufhaltsamen Entgrenzung der Ungeduld und der Beschleunigung. Dass es also unmöglich sei, die »Dampfwagen zu dämpfen«. Und dass somit das Ziel der Aufklärung, das Glück der Autonomie des Menschen, durch den Prozess der Aufklärung, die permanente Beschleunigung, unter die Räder dieser »Dampfwagen« gerät. Mit dem Ergebnis der Selbstentfremdung des Menschen und einer Umwertung aller Werte. Die »Verzweiflung« über dieses Ergebnis hat Goethe in einem Brief vom 6. Juni 1825 seinem Freund, dem Komponisten Zelter in Berlin, offenbart mit den Worten: »Alles aber […] ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element worin er schwebt und wirkt.«
Goethe ist der erste, der das »ultra« illusionslos erkennt als das zivilisations-dynamische Zentralproblem der Moderne: die Entfesselung der Ungeduld im Namen jener extremistischen Vernunft, die Mephisto meint mit dem Hinweis auf den Menschen: er brauche sie allein, um »nur tierischer als jedes Tier zu sein.« Es ist für Goethe das Zentralproblem der Moderne, weil es für ihn verbunden ist mit dem anthropologischen Unglück der Überforderung. »Es ist immer sein [des Menschen] Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.« (Lehrjahre VI, Bekenntnisse einer schönen Seele)
Gleichwohl blieb Goethe offenbar bis zuletzt ein zum Glück entschlossener Reservist der Verzweiflung. Einer Verzweiflung, der er stoisch widerstanden hat mit einer abgründigen Einsicht. Er hat sie festgehalten im »Beiwerk«, den Paralipomena, zum Faust II: »Jeder Trost ist niederträchtig / Und Verzweiflung nur ist Pflicht.« (Faust II, Paralipomenon 83)
Gezeigt werden soll, dass Goethe dieser Verzweiflungs-Pflicht immer wieder ein »Gedenke zu leben« entgegengehalten hat (Lehrjahre VIII, 5). Und Wilhelm Meister selbst wird aufgefordert: »Wagen Sie es glücklich zu sein« (Lehrjahre VII, 9). Interessanterweise hat sich aus diesen beiden Stellen die – vorgeblich – Goethe’sche Maxime »Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein!« gebildet, die diesem Buch den Titel gibt. Nun findet sich dieser Sinnspruch zwar so auch in verschiedenen Zitatsammlungen, auf Tassen und Schmuckkarten – in genau diesem Wortlaut allerdings taucht er nirgends in Goethes Werken auf. Dennoch, oder auch gerade weil diese beiden Aufforderungen eine solche Eigendynamik entwickelt haben und homunkulusartig zu einem gemeinsamen Leben als Maxime Goethes gelangt sind, dienen sie dem vorliegenden Buch als titelgebende Quintessenz seines Denkens. Zeigt sie doch Goethes geheim-offenbare Strategie des »Überlebens«. Und zwar mit Hilfe einer bewussten Wahrung und Förderung physischer und geistiger Kräfte gegenüber allen Heimsuchungen der Miserabilität und der Verdüsterung. Etwa so, wie Goethe es als Beispiel zur Nachahmung im Sommer 1828 praktiziert, indem er das Glück eines Bildes mobilisiert: den »Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde«. Und dies in Dornburg »bei dem schmerzlichsten Zustand des Innern« (Brief an Zelter vom 10.7.1828) nach dem Tod seines Großherzogs und Freundes Carl August.
Schon am 5. April 1824 hatte Goethe gegenüber Friedrich von Müller diese Strategie eines der Verzweiflung abgerungenen Glücks skizziert: »Wer nicht verzweifeln könne, müsse nicht leben; nur christlich sich ergeben, sei ihm [Goethe] das Verhaßteste.« Selten hat jemand so schonungslos die Verzweiflung zur Bedingung des (Weiter-)Lebens gemacht. Wobei mit Verzweiflung nichts anderes gemeint ist als Mut zu einer Illusionslosigkeit, vor der jeder Optimismus als Mangel an Information erscheinen muss. Selbst während seiner Italien-Reise (von September 1786 bis Juni 1788) hatte Goethe auf dem Gipfel des Glücks die Verzweiflung im Auge: »An unmöglichen Dingen soll man selten verzweifeln, an schweren nie.« (Italienische Reise II, Paralipomena)
Verbindet uns dies mit Goethe als unzeitgemäßem Zeitgenossen auch im 21. Jahrhundert? Gibt es bei ihm Hinweise, die auch heute noch verstanden werden können als Ermutigung zum (Weiter-)Leben durch Freisetzung von Glücksenergien gegenüber den Verzweiflungsanlässen der Gegenwart? Kant hat statuiert, in prekären Situationen gebe es eine Pflicht zur Zuversicht. Für Goethe gibt es die vorrangige Pflicht zu leben – als Voraussetzung für das Wagnis, glücklich zu sein. Vor dem Hintergrund dieser vorrangigen Pflicht hat Peter Sloterdijk Goethe gegenüber dessen Kritiker Ortega y Gasset in Schutz genommen mit dem Argument: »Was Ortega nicht recht erfasst, ist Goethes intimes Dramen-Schema: da er als tot geborenes Etwas zur Welt gekommen war, erstickt und ›schwarz‹, konnte es für ihn Leben nur in der Form wiederhergestellten Lebens geben, eines Lebens, das sich immer wieder gegen die eigene schützende Erstarrung behaupten musste […]. Seine [Goethes] sämtlichen Werke sind selbstgeburtliche Aufführungen über einer Urszene initialer Vernichtungen.« (Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage)
Goethes Aufforderung »Wage es, glücklich zu sein!« ist daher neu zu lesen. Nämlich als Goethes Glücks-Wagnis im Kontext eines »intimen Dramen-Schemas«, mit dem Titel: »Gedenke zu leben.« Ein Titel von hoher Aktualität: Ortega hat in seinem Essay von 1932 (Um einen Goethe von Innen bittend) rückblickend auf die Goethezeit behauptet: »Der Mensch war ein Tier mit Klassikern.« Wenn heute der Mensch ein »Tier« ohne Klassiker ist, so gilt doch unverändert, dass er bis auf weiteres das Leben offenbar immer noch als das höchste Gut empfindet. Und dies in der Regel verbunden mit dem Wunsch, »glücklich zu sein«, um es zu erhalten und zu genießen.
Weshalb denn Goethe immer noch ein »Klassiker« ist. Denn Klassiker sind, wie es Martin Walser formuliert hat, diejenigen, die »beleben«. Was umso dringlicher erscheint, als schon Nietzsche (in der Genealogie der Moral) auf die gegenläufigen Tendenzen aufmerksam macht: »Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr vom Mittelpunkt weg – wohin? Ins Nichts?« Weshalb denn Nietzsche betont, dass vor diesem Hintergrund Goethe »in der Geschichte der Deutschen« als »ein Zwischenfall ohne Folgen« betrachtet werden darf (Menschliches, Allzumenschliches II, 1886), der die belebende Ausnahme statuiert (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1886):
Über Goethe hat uns neuerdings jemand belehren wollen, dass er mit seinen 82 Jahren sich ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des ›ausgelebten‹ Goethe gegen ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln, um noch einen Anteil an solchen Gesprächen zu haben, wie sie Goethe mit Eckermann führte, um auf diese Weise vor allen zeitgemäßen Belehrungen durch die Legionäre des Augenblicks bewahrt zu bleiben.
Und dies verbunden mit der glücklichen Empfindung, dass ihm (Nietzsche) Goethe erschien »wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit den Zweifeln, ob es nicht eine Göttin sei.« (Menschliches, Allzumenschliches II, 1879)
Wobei Goethe sicherlich nicht die Göttin des Fortunatus im Auge hatte. Denn der glückliche Titelheld dieses 1509 in Augsburg erschienenen Volksbuchs, dem bereits alles nach dem Wohlfahrtsprinzip des »sofort« und »gratis« bewilligt wird, ist zwar inzwischen zum Leitbild eines »leichten Lebens« mit bedingungslosem Grundeinkommen geworden. Doch Goethe verstand unter »leicht« etwas anderes: Mephisto deutet es an im Saal des Thrones (Faust II, 1. Akt ): »Zwar ist es leicht, doch ist das leichte schwer; / Es liegt schon da, doch um es zu erlangen / Das ist die Kunst, wer weiß es anzufangen?« Denn zumindest nachhaltig »erlangen« lässt sich das Glück offenbar nur mithilfe jenes »Fitnessprogramms«, das Goethe im Buch des Parsen (im West-östlichen Divan) andeutet: »Schwerer Dienste tägliche Bewahrung, / Sonst bedarf es keiner Offenbarung.« Gemeint sind damit vor allem die »schweren Dienste« eines Übungsglücks der Selbstverbesserung durch Mäßigung.
...