2 Zur Gefährlichkeit von Gewalttätern
Angesichts begangener schwerer Straftaten und der anstehenden Entlassung von Delinquenten aus der Haft oder Unterbringung führen Ängste und Sorgen in der Bevölkerung immer wieder zu einer auch im politischen Raum wenig hilfreichen Diskussion über den Umgang mit gefährlichen (persönlichkeitsgestörten) Straftätern. Hierzu hatte zweifellos auch die 2004 eingeführte, von Anfang an umstrittene sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung beigetragen. So äußerte sich der Kriminologe Arthur Kreuzer (2008) in einem Interview zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auch für jugendliche Straftäter kritisch: „ ... entgegen der öffentlichen Wahrnehmung gibt es gar nicht so viele derart schwere Straftaten und gefährliche Täter“. Kreuzer spricht vom „Sicherheitswahn“ und der „Symbolpolitik des Gesetzgebers“. Man reagiere auf „spektakuläre Einzelfälle“.
Vielfach wird die Gefährlichkeit eines Delinquenten (z. B. eines Sexualstraftäters) über die Manifestation von Gewalthandeln definiert, was am ehesten auf Gewalttäter zutrifft. Das Gewalttatrisiko eines Menschen wird wesentlich durch eine in der Persönlichkeit liegende Tendenz zu aggressivem Handeln bestimmt. Weitere Faktoren wie z. B. Suchtmittelgebrauch erhöhen dieses Risiko. Gemeinhin ergibt sich die Gefährlichkeit von Gewalttätern aufgrund der Erwartung weiterer Gewaltdelikte der Täter sowie des Ausmaßes der dabei festzustellenden Gewaltanwendung.
Der Gesetzgeber spricht zwar verschiedentlich die „Gefährlichkeit“ von Delinquenten an, ohne diese aber verbindlich zu definieren. Äußerst problematisch wäre es, aus einer bloßen Gefährlichkeits- oder Ungefährlichkeitsvermutung in Bezug auf einen Delinquenten Entscheidungen über seine Freilassung oder einen Freiheitsentzug abzuleiten. Die „Gefährlichkeit“ eines Straftäters wird nach deutschem Strafrecht angenommen, wenn von ihm auch zukünftig gravierende Normverletzungen zu erwarten sind.28 Hierzu ist eine prognostische Einschätzung erforderlich, die gegebenenfalls die Verhängung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung zur Folge haben kann. Auch im Hinblick auf Entscheidungen über die Aussetzung des Restes von (lebenslangen oder über zwei Jahre andauernden, befristeten) Freiheitsstrafen zur Bewährung ist bei Gewalt- oder Sexualstraftätern eine prognostische Einschätzung gefordert. Der hiermit beauftragte Sachverständige hat sich „namentlich zur Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht“ (§ 454 StPO). Endres (2004, S. 178) betont, dass damit vom Sachverständigen „keine absolute Aussage“ erwartet wird, vielmehr eine individuelle Risikoanalyse: „Es geht darum festzustellen, worin die spezifische, in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit bestanden hat, also welches die Voraussetzungen der Straftat in der Person des Täters waren, und ob die in der Haft oder Unterbringung erfolgte Behandlung oder andere Effekte im Laufe der Zeit diese Voraussetzungen ausreichend modifiziert haben.“
Die häufigsten Prognosebegutachtungen betreffen den Umstand beabsichtigter Vollzugslockerungen oder Urlaub aus der Haft. Nach dem Strafvollzugsgesetz dürfen Vollzugslockerungen (§ 11 StVollzG: Ausführung, Ausgang, Außenbeschäftigung, Freigang) oder Urlaub aus der Haft (§ 13 StVollzG) nur dann gewährt werden, „wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerung en des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde“. Die Frage der Verantwortbarkeit von Lockerungen ist besonders gründlich zu prüfen, wenn sich der Gefangene wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder wegen einer „groben Gewalttätigkeit“ gegen Personen in Haft befindet. Die Begutachtung der Eignung eines Inhaftierten für Vollzugslockerungen hat zunächst eine allgemeine prognostische Beurteilung zu leisten und schließlich dazu Stellung zu nehmen, ob eine Gefährlichkeit „bereits unter den relativ strukturierten Bedingungen“ beabsichtigter Vollzugslockerungen eintreten kann. „Zur Einschätzung der Fluchtgefahr kommt es insbesondere auf eine Prüfung der sozialen Bindungen an und der Fähigkeit des Gefangenen zum Bedürfnisaufschub bzw. seiner Impulsivität“ (Endres, 2004, S. 178).
Die Prognose der Gefährlichkeit eines Inhaftierten ist „eine Aussage darüber, ob der als gefährlich Beurteilte in Zukunft durch sein Verhalten eine Gefahr für andere darstellen wird“ (Endres, 2002, S. 3). Die zu erstellende Kriminalprognose ist nach Kröber (2006a, S. 71) die „Einschätzung der Gefährlichkeit eines Menschen und der Möglichkeit, die damit verbundenen Risiken unter Kontrolle zu halten“. Die hierbei zu leistende Begutachtung eines Inhaftierten darf sich nicht allein auf seine aktuelle Situation und die derzeitige Verfassung des Delinquenten richten, sondern muss im Wesentlichen auch die Zukunft des Straftäters, stattgefundene Veränderungsprozesse und mögliche fortbestehende Risiken (Risikopotenziale) sowie Umstände, die für den Probanden Risikosituationen und -konstellationen darstellen, in den Blick nehmen. D. h., die mögliche Gefährlichkeit eines Straftäters wird in den Risikofaktoren des Delinquenten und in den anzunehmenden Risikokonstellationen zum Ausdruck gebracht. Eine überdauernde Gefährlichkeit eines Straftäters kann unmittelbar in den Eigenschaften seiner Person zutage treten und/oder in bestimmten kritischen Situationen des Delinquenten, wobei eine Gefährlichkeit in bestimmten Situationen freilich nicht unabhängig von der Person des Handelnden zu verstehen ist.
Kröber (2006a, S. 82) äußert, der Sachverständige habe den Auftrag der kriminalprognostischen Begutachtung „so zu verstehen, dass mit Gefährlichkeit eine relevant erhöhte individuelle Disposition zur Begehung erheblicher Straftaten gemeint ist“. Durch geeignete Intervention en kann diese individuelle Disposition womöglich im positiven Sinne beeinflusst werden. So ist z. B. bei einem chronisch schizophrenen Mann mit paranoider Symptomatik zwar grundsätzlich von einem erhöhten Risiko der Gewaltdelinquenz auszugehen, das aber unter einem qualifizierten Behandlungsregime – einschließlich der Möglichkeit in einer betreuten Wohngruppe zu leben – gemindert werden könnte. Hinsichtlich der Vorhersage gefährlichen Verhaltens ist der Blick auf die Wechselwirkung von Persönlichkeit und Situation zu richten. Es ist nicht allein die Person, die zu Gewalttaten neigen mag, es sind auch mögliche Situationen, welche die Gewalttätigkeit begünstigen oder gar fördern.29 In einer prognostischen Einschätzung sind demnach die Persönlichkeit wie auch aus dem Lebenskontext sich ergebende mögliche zukünftige Situationen in ihrer Wechselwirkung mit dieser Persönlichkeit und deren Gefährlichkeitspotenzial zu berücksichtigen und zugleich Überlegungen der Veränderbarkeit individuell kritischer Situationen in die Beurteilung einzubeziehen.
Endres (2002, S. 4) betont die Wichtigkeit der Differenzierung zwischen Rückfallprognose und der Gefährlichkeitsbeurteilung, die mehr ist „als nur die Rückfallwahrscheinlichkeit zu beziffern“. „Denn ‚Gefahr‘ oder ‚Gefährlichkeit ‘ darf nicht gleichgesetzt werden mit der Wahrscheinlichkeit, daß ein Proband erneut eine Straftat begehen wird.“ Es sind drei Aspekte zu beachten (siehe Endres, 2002, 2004):
- Die Wahrscheinlichkeit, dass der Proband in Zukunft wieder Straftaten begeht (quantitativer Aspekt).
- Die Art/Schwere der Taten, die jemand begehen wird oder begehen könnte (qualitativer Aspekt).
- Die Geschwindigkeit, mit der ein Rückfall eintritt (zeitlicher Aspekt).
Kröber spricht vom Gefährlichkeitspotenzial einer Person als „einer mehrdimensionalen Kapazität, die nicht ständig aktualisiert und manifestiert wird und die in ihrem Ausmaß von mehreren Faktoren abhängt“ (siehe Kröber, 2006a, S. 82 f.):
- von der Intensität und der Art des zu befürchtenden Verbrechens,
- von der Gegenwärtigkeit, zeitlichen Entfernung und Ausdehnung der Gefahr30,
- von den individuellen Fertigkeiten der gefährlichen Person zur Durchführung gefährlicher Taten (Kraft, Intelligenz, Training, Alter etc.),
- von der sozialen Einbindung und den sozialen Interaktionen und ihrem zukünftigen Verlauf,
- von der Erforderlichkeit bestimmter Rahmenbedingungen für die Durchführung der Tat (hinsichtlich Tatort, Stimmung, vorheriger Berauschung etc.),
- von der Verfügbarkeit von Opfern.
Die Einschätzung einer fraglichen, zukünftigen Gefährlichkeit eines Straftäters – d. h. seiner Kriminalprognose – besteht demnach aus folgenden Teilbeurteilungen:
- der zu der (den) Anlasstat(en) führenden primären Gefährlichkeit des Täters (persönlichkeitseigene oder eher situative Aspekte und Faktoren, vorhandene psychische Störungen, Gewohnheiten, Verhaltensauffälligkeiten etc.?),
- der an die Tat(en) anschließenden Entwicklung, vor allem der Risikofaktoren einer fortbestehenden Gefährlichkeit (Änderungen und Stabilität dieser Änderungen durch Behandlung oder andere Interventionen?),
- dem aktuellen Entwicklungsstand des Probanden hinsichtlich seiner Risikopotenziale,
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