Nachrichten vom Pressesprecher
Warum wir erst eine Meinung haben und sie dann nachträglich begründen
Manchmal, aber nur manchmal entpuppen sich zunächst großartige Ideen als granatenmäßig grober Unfug. Besonders häufig geschieht das während der Kindheit, der Pubertät und natürlich im Kontext einer Partnerschaft. Auf einmal blitzt da dieser Gedanke im eigenen Schädel auf, dass es doch jetzt eine ziemlich gute Sache wäre, zum Beispiel noch ein paar Bier zu trinken und weiter durch die Nacht zu ziehen. So jung kommen wir nie wieder zusammen! Lass uns den Moment gemeinsam feiern, meine Güte, jetzt hauen wir zusammen ordentlich aufs Brett! So vergehen die Stunden, aus ein paar Bieren werden doch ein paar zu viele, und schließlich wanken die Feiernden mit schwerer Schlagseite nach Hause. Der Kater am Morgen danach wütet im Kopf und lässt den Schädel schier zerplatzen. Mist, Mist, Mist.
Dummerweise ist es auch noch unmöglich, sich den ganzen Tag im Bett zu verkriechen, dann am Abend vielleicht doch langsam wieder etwas zu essen und vor dem Fernseher den Restkater auszusitzen. Stattdessen muss man funktionieren. Es ist ein normaler Wochentag, bei der Arbeit ist eine wichtige Präsentation angesetzt, die noch nicht einmal fertig ausgearbeitet ist. Oder es steht eine gemeinsame Unternehmung mit dem Partner an, die lange geplant und vorbereitet ist, dummerweise beinhaltet sie auch den Fluch des Frühaufstehens. Noch eine Variante des maximal möglichen Katerunglücks: Am Tag nach der Zechtour ist man alleine mit den Kindern zu Hause, die in einem Alter sind, in dem sie erstens viel Aufmerksamkeit brauchen und zweitens am Wochenende hässlich früh aufstehen. Willkommen im Fegefeuer des Alltags und der eigenen Doofheit.
Egal, wer in solchen Fällen die Rolle des strengen Richters übernimmt – man selbst, der Partner, im Falle pubertärer Untaten: die Eltern –, die erste und alles entscheidende Frage im folgenden Kreuzverhör lautet jedes Mal: »Was hast du dir nur dabei gedacht?« Die ehrliche Antwort darauf lautet im Fall der beschriebenen Zechtour: »Nichts.« Erst wenn der Partner, die Eltern oder das eigene schlechte Gewissen explizit nach einer Erklärung verlangen, beginnen wir, nach Antworten und Erklärungen zu suchen.
Im Reich der eigenen Meinungen verhalten wir uns genauso: Am Anfang steht das Ergebnis, wir hatten Lust, uns zu betrinken, erst dann folgt die Begründung und die Antwort auf die Frage »Was hast du dir nur dabei gedacht?«. Die Affekte fällen ein automatisches Urteil über eine Angelegenheit und heben oder senken den inneren Daumen. In diesem Moment steht ein Urteil fest: Zustimmung oder Ablehnung. Aber die Begründung des Richterspruchs steht noch aus. Es fehlt die Antwort auf die Frage, warum ein Urteil so ausfällt, wie es ausfällt: Warum sollten Flüchtlinge aus fernen Kriegsgebieten aufgenommen werden – oder nicht? Warum sollten Geschlechterquoten für Führungspositionen in Betrieben eingeführt werden – oder nicht? Warum sollte die Organspende künftig so organisiert werden, dass jeder Bürger automatisch als Spender gilt, außer er entscheidet sich explizit dagegen – oder nicht?
Erst wenn Menschen explizit nach einer Begründung ihrer Meinungen gefragt werden oder ihre Ansicht dazu formulieren sollen, überlegen sie selbst, welche Gedanken eigentlich hinter ihrer Haltung stecken. Wenn wir unsere Meinungen und Ansichten formulieren, handelt es sich im Wesentlichen um sogenannte Post-hoc-Erklärungen, also um nachträgliche Rechtfertigungen. Erst steht die Meinung, dann beginnt die bewusste Suche nach Gründen, um diese Intuitionen auch abzusichern.
Erst das Gefühl, dann die Vernunft – nach diesem Muster denken wir in vielen Situationen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Das haben die Psychologen Richard Nisbett und Timothy Wilson einmal in einer mittlerweile klassischen Studie aus der Sozialpsychologie demonstriert. Immer wieder werden wir im Alltag mit Fragen nach unseren Beweggründen für viele verschiedene Angelegenheiten konfrontiert. »Warum hast du den Job angenommen?« oder »Warum magst du die Kollegin?« oder »Wie hast du das hinbekommen, dieses Problem zu lösen?« Sehr vielen fällt darauf nicht automatisch eine schlüssige Antwort ein, weil uns in den meistens Situationen der unmittelbare, beobachtende Blick auf unsere kognitiven Prozesse fehlt, argumentieren Nisbett und Wilson. Es kostet enorme Mühe, das eigene Denken zu durchschauen und genau den Finger darauf zu legen, welche Fakten eigentlich die Grundlage der eigenen Überzeugungen sein könnten, zumal auch noch die Emotionen ständig dazwischen funken. Nur selten offenbaren sich die Wege des bewussten Denkens so klar und deutlich, dass diese auch formulierbar sind.
Der Moralpsychologe Jonathan Haidt hat daraus ein überzeugendes Modell entwickelt, die sogenannte Theorie der moralischen Fundamente – die Moral Foundations Theory. Um sie zu erläutern, stützt sich der Wissenschaftler auf die Metapher von einem Reiter auf einem Elefanten. Der Mensch im Sattel repräsentiert dabei das rationale Denken, die Vernunft, und er existiert in der Illusion, er habe das Sagen und führe das Kommando. Tatsächlich aber ist der Elefant der Chef. Das riesige Tier symbolisiert das intuitive Denken, die von Affekten und Emotionen angetriebenen mentalen Prozesse. Im Sinne der Affektheuristik reagiert der Elefant unmittelbar auf Reize, auf Fragen der Moral und auf weitere Angelegenheiten, die automatische Gut-Schlecht-Urteile provozieren. Das Reittier bewegt sich, bildlich gesprochen, also auf jene Reize zu, die in ihm eine positive Reaktion hervorrufen und scheut vor jenen zurück, die es zu sehr fordern.
Was macht der Reiter, der sich selbst für den Chef hält? Er fungiert als Pressesprecher, PR-Berater oder Anwalt des Elefanten. Seine Aufgabe besteht darin, die affektiven Reaktionen seines Reittieres mit Inhalt zu füllen. Der Mensch im Sattel rationalisiert das Urteil des Elefanten, er liefert nachträgliche Begründungen für seine emotional gefärbten Kognitionen. Um die Wahrheit geht es dabei nicht, es geht darum zu begründen, um das Gefühl, recht zu haben. Die Aufgabe des Reiters besteht nicht darin, nach Fakten zu recherchieren und dann gegebenenfalls dem dusseligen Elefanten mitzuteilen, dass dieser sich aber mächtig getäuscht habe, weil die Suche nach Daten ein ganz anderes Bild zutage gefördert habe und man deswegen noch mal über das Urteil diskutieren müsse. Im Gegenteil, der Reiter sucht brav nach Inhalten, mit denen sich die Schlussfolgerungen seines inneren Dickhäuters begründen lassen. Er fahndet nach Bestätigung, um Gefühle abzusichern.
Worauf der Elefant vorrangig reagiert, bildet auch die Basis dessen, was als politisch links oder rechts bezeichnet wird. Jonathan Haidt postuliert fünf moralische Fundamente, die das politische Empfinden der meisten Menschen bestimmen. Fürsorge mit dem Gegenpol Leid ist eines dieser Fundamente. Der Elefant reagiert darauf mit Mitgefühl oder gar Empathie, wenn er leidende Menschen in Not sieht. Fairness mit der Antipode Betrug ist eine weitere Säule des moralischen Empfindens. Getriggert wird diese, wenn Menschen andere ausnutzen, jemanden hintergehen oder täuschen. Loyalität (Gegenpol Verrat) wühlt die Gefühle des dickhäutigen Reittieres auf, wenn der Zusammenhalt einer Gruppe oder einer Mannschaft gefährdet ist, weil zum Beispiel einige Mitglieder zu desertieren drohen. Säule Nummer Vier hat Haidt als Autorität (Gegenpol Subversion) bezeichnet. Darunter subsummiert der Forscher das Bedürfnis, Hierarchien zu schützen beziehungsweise in Frage zu stellen. Schließlich bildet das Gegensatzpaar Reinheit/Verschmutzung die fünfte tragende Wand des menschlichen moralischen Empfindens. Diese wird von Verschmutzung ausgelöst, von Krankheit oder auch Tabubrüchen.
Offenbar wirken diese fünf Säulen quer durch die meisten Kulturen, zumindest hat der Wissenschaftler sie in Experimenten mit vielen tausend Teilnehmern in Ländern wie Brasilien, Indien, den USA und anderswo abgesichert. Das bedeutet keinesfalls, dass sich die moralischen Vorstellungen zwischen Kulturen nicht unterscheiden – das zu glauben wäre auch absurd. Die Differenzen liegen darin, welche Reize die moralischen Basisempfindungen der Elefanten dieser Welt auslösen und mit welchen Inhalten diese verknüpft werden. Kulturelle Unterschiede könnten im Wesentlichen dadurch erklärt werden, dass Auslöser moralischer Intuitionen abgemildert oder verschärft werden können, schreibt Haidt. Zum Beispiel sei in westlichen Kulturen das menschliche Mitgefühl immer weiter auf Tiere ausgeweitet worden. Die Leiden unserer Mitgeschöpfe berühren uns heute stärker als noch vor wenigen Jahrzehnten, wahrscheinlich, weil wachsender Wohlstand die schiere Notwendigkeit reduziert hat, Tiere auszubeuten und dies für den Reiter dadurch schwerer zu rechtfertigen wird. Auch der Ekel gegenüber sexuellen Vorlieben, die der Norm widersprechen, hat sich in westlichen Kreisen reduziert. Die Reaktionen des Elefanten fallen demnach in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich heftig aus – und der Reiter erzählt kulturspezifische Geschichten.
Die Position einer Person im politischen Koordinatensystem verortet sich demnach vor allem danach, welche der fünf moralischen Module besonders sensibel reagieren. Menschen mit eher linken Ansichten sprechen hauptsächlich auf die Fundamente Fürsorge sowie Fairness an. Wer seine politische Heimat hingegen im rechten oder konservativen Lager hat, verfügt auf allen fünf Säulen über Sensibilität – natürlich in unterschiedlichem Ausmaß. Im Gegensatz zum linken Lager spielen also zum Beispiel Gruppenloyalität oder...