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Gegenwelten

Aspekte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918-1938

AutorAleksandr Vatlin, Hannes Leidinger, Julia Köstenberger, Karin Moser, Verena Moritz
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl579 Seiten
ISBN9783701744480
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Österreichs Schicksal in der Zwischenkriegszeit: Aspekte der österreichisch-sowjetischen Beziehungen 1918-1938. Jahrzehntelang blieb der Geschichtsschreibung der Zugang zu den Archiven der UdSSR verwehrt. Der vorliegende Band untersucht mithilfe sowohl österreichischer als erstmals auch russischer Quellen nicht nur die außenpolitischen Konzepte sowie die diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte der beiden ungleichen Staaten Österreich und Sowjetunion. Es wird auch versucht, ihr Verhältnis im Kontext der internationalen Politik - unter anderem mit britischen, deutschen und französischen Aktenbeständen - zu positionieren. Dabei wird sichtbar, dass die Frage von Österreichs Schicksal in der Zwischenkriegszeit das kleine Land in den Blickpunkt übergeordneter Interessen rückte.

Verena Moritz Jahrgang 1969. Studierte Geschichte und Russisch in Wien. Mehrjährige Forschungsaufenthalte in Russland. Neben Ausstellungstätigkeiten, zahlreiche Vorträge unter anderem in der Ukraine und in Russland. Mitarbeiterin an div. Forschungsprojekten unter anderem über die Kriegsgefangenenproblematik im Ersten Weltkrieg, den Parlamentarismus in Russland und Österreich zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Zahlreiche Preise: z. B. 2004 Werner Hahlweg-Förderpreis der Deutschen Bundeswehr, Böhlaupreis der Österreich. Akademie der Wissenschafte, 2006 Preis der Theodor Kery-Stiftung und des Theodor Körner-Fonds, 'Das beste Wissenschaftsbuch 2013' (Kategorie Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaft) - Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung/Verlag Buchkultur (2013) Neben zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln Autorin folgender Bücher gemeinsam mit Hannes Leidinger: Gefangenschaft Revolution Heimkehr, Das Schwarzbuch der Habsburger, Russisches Wien, Zwischen Nutzen und Bedrohung, Die Nacht des Kirpitschnikow.

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Leseprobe

Teil 1:


Skizzen einer »Diplomatiegeschichte« 1918–1933/34


 

Von Brest-Litovsk bis Kopenhagen – Die Anfänge der bilateralen Beziehungen 1918–1920


Von der »alten« zur »neuen« Diplomatie

Die Mitglieder des diplomatischen Korps hielten sich für eine kosmopolitische, kulturell »homogene europäische Familie«. Sie pflegten eine gemeinsame Form der Konversation, lasen ähnliche Bücher, verteidigten vergleichbare Gesellschaftsmodelle und stimmten in Grundsätzen über die Prinzipien der internationalen Beziehungen überein. 1925, als der englische Publizist James A. Spender solcherart das Selbstverständnis früherer Diplomatengenerationen charakterisierte, die sich für gewöhnlich streng von der Außenwelt abgegrenzt und Demokratisierungstendenzen skeptisch betrachtet hatten, war die »alte Welt« dieser »Auserwählten« bereits untergegangen.7 Schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sah sich die Diplomatie mehr und mehr mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Politik vor der Öffentlichkeit, wenn nicht zu rechtfertigen, dann wenigstens zu kommentieren. Nach 1914 war vor dem Hintergrund verschiedener Bemühungen um den Frieden der Wunsch nach Transparenz politischer Entscheidungen noch schneller gewachsen und die Kritik an der »Geheimdiplomatie«, die viele gar als hauptverantwortlich für die Entwicklungen ab dem Sommer 1914 ansahen, stetig größer geworden. In seinen »Vierzehn Punkten« griff Woodrow Wilson Anfang 1918 diese Problematik auf und wandte sich gegen jede »Heimlichkeit« in den zwischenstaatlichen Unterredungen.8 Spätestens ab 1919 ergab sich die Gelegenheit zu zeigen, ob solche Ansagen auch umgesetzt würden. In Frankreich kamen die Vertreter der ehemals Krieg führenden Länder zusammen, um ein neues Europa aus der Taufe zu heben. Eine »neue Diplomatie« vermögen indessen Analysen der Pariser Friedensverhandlungen in nur sehr eingeschränktem Maße zu Tage zu fördern. Die Handlungslogik der »alten Diplomatie« habe sich, lauten heutige Befunde, nicht verändert, das Versprechen von Offenheit und Transparenz sei nur vordergründig eingelöst worden. Der Unmut der »Verliererstaaten«, der sich unter anderem in der bewussten Verletzung von Etikette und Förmlichkeiten geäußert hatte, und die Haltung der Siegerstaaten, die nicht auf Augenhöhe verhandelt und sich gegen eine Kommunikation mit den ehemaligen Kriegsgegnern gesperrt hatten, habe vielmehr einer für den Verlauf des Krieges typischen Eskalation entsprochen. Die Rede ist schließlich vom »Verlust gemeinsamer Handlungsformen diplomatischer Interaktion«.9

Tatsächlich waren wesentliche Entscheidungen weiterhin hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden. Manche Zeitgenossen negierten »diesen Frieden« als einen, »dessen Kulissengeschichten sich von der Öffentlichkeit viel sorgsamer« verbargen, »als die unmittelbare Vorgeschichte des Weltkriegs«.10 An der mangelnden Transparenz hatte auch die umfassende Presseberichterstattung, welche die unmittelbare Beteiligung der Öffentlichkeit am Prozess politischer Entscheidungsfindung unter anderem in Form zahlreicher Fotoreportagen suggerierte, wenig geändert. Das eigentlich »Neue« war so gesehen die überwältigende Präsenz der Medien als Transporteure der Illusion vom Anbruch einer Ära der »neuen Diplomatie« bei gleichzeitiger Anpassung der Entscheidungsträger an die Anforderungen der medialen Performanz: Man gab Interviews, ließ sich fotografieren, lächelte in die Kameras. Als »neu«, wenngleich nicht als Errungenschaft zu bezeichnen, ist des Weiteren das Ende einer »gemeinsamen Sprache« der Diplomaten als Voraussetzung für jedwedes Gelingen von Verhandlungen.11 Was in Versailles, Saint Germain und in anderen Pariser Vororten vonstatten ging, trug den Keim kommender Auseinandersetzungen in sich.

Was immer man unter einer »neuen Diplomatie« verstehen mochte, eines trat unverkennbar zu Tage: Das Bedürfnis nach einschneidenden Veränderungen, die der Selbstherrlichkeit einer elitären Gruppe von Männern, die in der Vergangenheit unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Schicksal ganzer Länder entschieden hatten, ein Ende bereiten sollten, war allerorts vorhanden. An dieser Vorstellung und der Hoffnung nach einem »gerechten Frieden« hielten die Verlierer des Krieges auch dann noch fest, als sich bereits klar abzeichnete, dass sich ihre Erwartungen nicht erfüllen würden. So versprach sich etwa noch im Juli 1919 der österreichische Staatskanzler Karl Renner von der »neuen Diplomatie« Friedensbedingungen, die, anders als die bereits vorgelegten, den »sichere[n] Untergang« seiner Heimat abwenden würden. Der »auswärtige Dienst«, betonte er außerdem, werde »nicht auf äußeren Glanz und auf Repräsentation« und »nicht auf gute Beziehungen zu den obersten Schichten der Nachbarländer« aufbauen, sondern auf »Offenheit und Geradheit gegenüber den Nachbarn«. Er müsse sich »stützen auf den Willen des Volkes selbst, auf die Demokratie, denn er hat keinen anderen Rechtstitel als diese«.12

Vor allem in Russland zeigte man sich entschlossen, der »alten Diplomatie« abzuschwören. Noch bevor Woodrow Wilson seine »Vierzehn Punkte« präsentierte, vollzogen sich dort auf allen Ebenen grundlegende Umwälzungen. Als sich die Bolschewiki unmittelbar nach der Machtergreifung im Oktober beziehungsweise November 1917 mit neuen Perspektiven auf internationale Fragen beschäftigten, subsumierten sie gewissermaßen das bereits allgegenwärtige Unbehagen mit der scheinbaren Allmacht der Diplomaten. Die Radikalität ihres Programms trat dabei von Anfang an anhand der schließlich auch außerhalb des ehemaligen Zarenreichs artikulierten Forderungen nach Frieden zu Tage. Der an alle am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten und vor allem an die Arbeiterschaft in England, Frankreich und Deutschland gerichtete Aufruf, »ohne Annexionen und Entschädigungen« zu einem Ende der Kampfhandlungen zu gelangen, entsprach zwar einer schon früher ausgegebenen Losung der Rätebewegung.13 Allerdings wurde er nun mit größerem Pathos vorgetragen und unter frenetischem Jubel der Anhängerschaft Lenins gleich dazu benutzt, die »bourgeois-imperialistischen Methoden« der Krieg führenden Mächte anzuprangern. Um von der »alten Geheimdiplomatie« abzurücken, entschlossen sich die Bolschewiki überdies zur Freigabe beziehungsweise Edition von Geheimdokumenten aus den zarischen Archiven. Diese Vorgehensweise, die als eindrucksvolle Diskreditierung des »Imperialismus« zu deuten war, erregte augenblicklich das Interesse des Auslands14: Schon im April 1918 erschien die englischsprachige Übersetzung einiger russischer Akten. Bald kam es speziell in Deutschland und Frankreich unter anderem auch aufgrund der publizierten Materialien aus dem früheren Romanowimperium zu lebhaften Debatten über die außenpolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre.15 Nach Kriegsende diente die Publikation geheimer diplomatischer Schriftstücke nicht zuletzt dem Bemühen nach Abgrenzung von den Entscheidungsträgern früherer Regime.

»Neue Diplomatie« zwischen Tradition und Revolution

Dass es den Bolschewiki um einen radikalen Bruch mit der als bürgerlich und imperialistisch geächteten Diplomatie ging, machte Lev Trockij als Leiter des neuen »Volkskommissariats« für Auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel, NKID) klar. Er betrat das frühere zarische Außenministerium mit dem Vorsatz, »ein paar revolutionäre Proklamationen an die Völker« zu erlassen und dann »den Laden« gleich wieder zu schließen.16 In Erwartung der kommenden Weltrevolution, welche die bestehenden Machtsysteme hinwegfegen würde, erschien die »alte Diplomatie« obsolet. Unter solchen Vorzeichen gab es auch wenig Interesse daran, ein Mindestmaß an personeller Kontinuität zuzulassen, um den laufenden Amtsbetrieb wenigstens in Grundzügen aufrecht zu erhalten. Auf den Verbleib von Vertretern des »alten Regimes« im Amt legte man folgrichtig keinen Wert. Trockij hatte die Beamten des Außenministeriums antreten lassen und klar gemacht, dass all jene, die nicht für die Bolschewiki waren, hier nichts mehr verloren hätten.17 Für die meisten dieser Männer war es freilich ohnehin denkunmöglich, einen »Juden mit dünnen Beinen«, der sich an die Macht geputscht hatte, als neuen Mann an der Spitze des auswärtigen Dienstes zu akzeptieren. In diesem Bereich allerdings bekam der »revolutionäre Furor« der neuen Machthaber spätestens zu jenem Zeitpunkt einen Dämpfer versetzt, als auch Trockij einsehen musste, dass bei allem Eifer, das Außenministerium beziehungsweise...

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