Nachtfahrt ins Grauen
»Du kannst kommen. Sie werden mit dir sprechen.« Lange habe ich auf diesen Anruf gewartet. »Den genauen Treffpunkt wirst du im Auto erfahren«, teilen mir meine Ansprechpartner am Telefon mit. Die beiden Männer sind Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche Deutschlands. Einer von ihnen ist Simon Jacob. Wir kennen uns seit Jahren. Gemeinsam sind wir seit 2012 immer wieder an den Terrorfronten im Nahen Osten unterwegs. Wir haben viel Leid und Gewalt gesehen.
Auch diesmal geht es um brisante Aussagen. Die Rede ist von körperlicher Gewalt, Drohungen und ständigem Mobbing. Der Ort des Geschehens liegt nicht in Syrien oder im Irak, sondern mitten in Deutschland: Die Opfer sind ausnahmslos Flüchtlinge, die Täter auch. Ich kann dies zunächst nur schwer glauben. Warum sollten Flüchtlinge anderen Leidensgenossen so etwas antun?
Es dämmert bereits, als wir nach drei Stunden Fahrt am Rand eines kleinen Ortes im Osten der Universitätsstadt Bayreuth den Motor abstellen. Unser Auto mit dem Münchner Kennzeichen steht unauffällig unter hohen Fichten am Rande eines Waldpfades. Ein Weg führt zu einer Ansammlung einfacher Holzbungalows. Es nieselt. Wir sind erleichtert: Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Wir beeilen uns. Niemand soll von unserem Besuch erfahren.
Ich ahne noch nicht, dass dieser Juniabend im verregneten Sommer 2014 meinen Blick auf den Umgang der Bundesrepublik mit Flüchtlingen für immer verändern wird. Bald werden sich für mich Türen öffnen und Menschen werden mir vertrauensvoll Einblicke in geheime Dokumente und Informationen verschaffen. Die vielen Gespräche, die ich führe, und tausende Seiten an Unterlagen, die ich sehe, zeigen ein mitunter verstörendes Bild der deutschen Asyl- und Sicherheitspolitik.
Mir wird immer mehr klar: Alles hängt mit allem zusammen. Die Flüchtlingspolitik mit der Integration von Migranten, die Integration mit der Sicherheit. Die Stabilität der bundesdeutschen Demokratie hängt wiederum von der öffentlichen Sicherheit dieses Landes ab. Die Flüchtlingspolitik kann nicht losgelöst betrachtet werden von Herausforderungen, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährden und die dazu führen, dass sich so viele Menschen von der ersten funktionierenden Demokratie in Deutschland abwenden oder sich nur mehr voller Hass auf öffentlichen Plätzen wie in Kandel, Chemnitz, Freiburg und anderswo gegenüberstehen.
Ausgangspunkt dieser Recherchen, die mich kreuz und quer durch Europa und den Nahen Osten führten, war jene in die Jahre gekommene Ferienanlage in Nordbayern. Früher verbrachten hier vor allem West-Berliner Familien ihren Sommerurlaub. Doch das ist lange her. Im Juni 2014 sind einige Dutzend Asylbewerber notdürftig in den Holzhäusern untergebracht.
Wir werden bereits erwartet. Ein Flüchtling aus dem umkämpften Aleppo in Syrien steht am Eingang der Anlage. Der Mann ist Christ. Er floh mit seiner Familie nach Deutschland. Hier hoffen sie, endlich in Frieden leben zu können. Wir schütteln uns kurz die Hand. Dann bringt er uns schnell und ohne viel zu sagen in ein Holzhaus. Auswärtige Gäste müssen sich eigentlich beim Hausmeister anmelden. Wir schleichen uns unbemerkt an seinem Büro vorbei.
Unser Gastgeber erwartet höchste Verschwiegenheit. Auf keinen Fall möchte er, dass irgendjemand hier erfährt, wer ihn besucht. Der Mann hat keine Angst, gegen die Hausordnung zu verstoßen. Er macht sich aber große Sorgen um seine Familie und seine Nachbarn.
Zwei Stunden lang berichten er und andere christliche Flüchtlinge aus Syrien in ihrem Bungalow mit den billigen, abgewetzten Holzmöbeln aus den 1970er-Jahren über ihre Probleme mit muslimischen Asylbewerbern. Sie sollen aus Tschetschenien stammen. Nie haben die Christen damit gerechnet, dass sie wie in Syrien von radikalen Muslimen bedroht und beleidigt werden. Sie sind bereit, ihre Aussagen vor einer Kamera zu wiederholen.
Ihre einzige Bedingung lautet: Keine Namen, keine Gesichter, nicht einmal die Region dürfen wir nennen, geschweige denn die Anschrift der einstigen Ferienanlage. »Es begann mit den Kindern. Ihnen wird gesagt: ›Ihr seid Christen, ihr seid ungläubig, ihr esst Schwein, mit euch spielen wir nicht‹«, sagt ein Vater. Er spricht Russisch und versteht die Tschetschenen. Ein anderer ergänzt: »Wir passen von morgens bis abends auf die Kinder auf. Mehrmals ist es geschehen, dass sie die Kinder geschlagen haben, wenn sie alleine sind.« Zunächst versuchen die christlichen Flüchtlingsfamilien, die ständigen Attacken zu ignorieren. Lange können sie den Druck nicht mehr aushalten: »Wir haben Angst, irgendwann die Fassung zu verlieren und dann auf ihre Provokationen zu reagieren. Und dann habe ich Angst, dass noch mehr Probleme entstehen.«
Spät in der Nacht verlassen wir das einstige Feriendorf. Überprüfen kann ich die Aussagen vor Ort nicht. Denn ich muss die Identität der Zeugen schützen. Doch die Angaben passen zu anderen kleinen, bereits recherchierten Mosaiksteinchen, die sich allmählich zu einem erschreckenden, aber stimmigen Gesamtbild in meinem Notizbuch zusammensetzen.
Nicht alle Migranten sind verfolgte Menschen, die einfach nur Ruhe, Frieden und Freiheit suchen. Unter den vielen Männern und Frauen befinden sich auch Personen, die Hass und Gewalt verbreiten. Die Ersten, die diese neue Bedrohung zu spüren bekommen, sind Flüchtlinge, die ethnischen oder religiösen Minderheiten angehören. Für diese Menschen, die manchmal in letzter Minute vor islamistischen Banden flohen, ist klar, dass sich unter den vielen Flüchtlingen auch Terroristen befinden können. Zunächst will ich das nicht glauben.
Doch dann erinnere ich mich an das Treffen im Haus einer ehrenamtlich engagierten Flüchtlingshelferin im Oktober 2013. Hier treffe ich eine junge christliche Flüchtlingsfamilie aus Mossul im Nordirak: Frau, Mann und ein kleines Kind. Wir sitzen zusammen, trinken Tee, essen Kekse und blicken auf den Garten einer Münchner Vorortidylle. Nur nach langem Zuspruch der Asylhelferin, die perfekt Arabisch spricht, sind die jungen Leute bereit, über ihre Probleme zu sprechen. Die Familie ist in einem einfachen Mehrparteienhaus im Hinterland der oberbayerischen Kleinstadt Freising im Norden von München untergebracht. Der Wohnblock liegt weitab von anderen Dörfern inmitten von Feldern. Hier warten sie auf die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, abgekürzt BAMF, ob ihr Asylantrag genehmigt wird.
Auf ihren Glauben nehmen die zuständigen Behörden keine Rücksicht. In dem Wohnblock leben neben der christlichen Familie aus Mossul auch Muslime, die keinerlei Toleranz oder gar Einfühlungsvermögen erkennen lassen. Extremistische Muslime verabscheuen Christen als »Ungläubige« und verfolgen sie in ihren Heimatländern mit Hass und Gewalt. Wochenlang ist die christliche Familie dem Terror und den Anfeindungen ihrer Mitbewohner ausgesetzt. Die zuständigen Stellen reagieren nicht, trotz aller Bitten um Hilfe. Ein Syrer stellt sich als besonders schlimm heraus, berichtet der Familienvater: »Er hat gesagt, eines Tages werde ich dich töten und dein Blut trinken. Er hat meine Frau angeschrien, hat unser Kind geschlagen. Wir sind im Zimmer wie Gefangene geblieben, damit es keinen Ärger gibt.«
Als die deutschen Behörden trotz der inständigen Bitten eines Vertrauten der Familie nicht einschreiten, entscheidet sich die Familie zur Rückkehr in den Irak. Im beschaulichen Umland von Freising haben sie mehr Angst als in ihrer von Islamisten bedrohten Heimatstadt Mossul. Ein letztes Foto zeigt sie auf dem Münchner Flughafen. Dann geht es zurück in den Irak. Auch dort finden sie keinen Frieden. Sie fliehen vor den Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staates. Der Mann, der sie in der Unterkunft bedrohte und das kleine Kind schlug, bleibt in Deutschland. Er musste sich nie rechtfertigen, sagt eine Flüchtlingshelferin.
Bei gemeinsamen Recherchen für das ARD-Politmagazin report München stoßen mein Kollege Yassin Musharbash von der Wochenzeitung Die Zeit und ich schnell auf weitere Fälle von Christen, die in Asylbewerberunterkünften von radikalisierten Muslimen gemobbt, bedroht oder beleidigt werden.
Nach der Veröffentlichung werden Vorwürfe laut: Es handele sich lediglich um Einzelfälle. Es gebe keine strukturellen Probleme in Asylunterkünften. Alle Flüchtlinge sind schutzbedürftige Menschen in Not. Islamistische Gewalttäter gebe es unter den Asylbewerbern nicht. Auch die Aussagen von Vertretern orientalischer Kirchen, die unsere Recherchen bestätigen, will in Deutschland niemand hören. In weiten Teilen von Politik, Gesellschaft und Medien sind Probleme in den Asylunterkünften und mit Flüchtlingen kein Thema. Der damalige Vizepräsident des Bundestags, Johannes Singhammer, wie auch der Integrationsbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Martin Neumeyer, scheitern mit ihrer Forderung, christliche und muslimische Flüchtlinge getrennt unterzubringen.
Stattdessen ist in der Politik und in den Medien ab 2015 immer öfter die Rede vom »Generalverdacht«. Insbesondere Bundesinnenminister Thomas de Maizière benutzt diesen Ausdruck häufig und gerne. Dabei steht jeder Mensch, der in ein fremdes Land einreist oder beispielsweise ein Flugzeug betritt, immer und ausnahmslos unter Generalverdacht. Nur so sind Sicherheitskontrollen überhaupt zu rechtfertigen. Genauso...