Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sind charakterisiert durch Auflösung privatsozialer Systeme, die Zunahme des Bedürfnisses nach Individualität und Abnahme der Solidarität. Bestimmte Wohnsituationen nehmen den Kindern Beziehungen und Bezugspersonen. Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft nehmen ab, die Reizüberflutung durch neue Medien lässt die Menschen vermehrt in die Zuschauermentalität verfallen. Der kindliche Drang nach Abenteuern, Selbsterfahrung und Entdecken wird durch „zweckmäßige“ Architektur wie z.B. Hochhäuser oder Straßen gebremst und unterdrückt. Dieses nicht erleben können wird oft mit einer Reizüberflutung durch die immer besser entwickelten Medien kompensiert. Erlebt wird nicht hautnah, sondern über Personen, die stellvertretend Abenteuer durchleben[14].
Alle westlichen Industriegesellschaften sind gekennzeichnet einen Veränderungsprozess, der in der Soziologie als „gesellschaftlicher Pluralisierungs- und Individualisierungsprozess“ bezeichnet wird. Dies hat unter anderem zu einer Vielfalt von Wertorientierungen und Lebensstilen geführt („Pluralismus“) und damit auch zu einer Vielgestaltigkeit und Offenheit der Eltern - Kind - Beziehungen und der Kindheit als Lebensphase und eines biographischen Abschnitts.
Mit „Individualisierung ist die mit dem Pluralisierungsprozess einhergehende soziale „Freisetzung“ gemeint, die das einzelne Gesellschaftsmitglied aus seinen traditionellen Bindungen, Versorgungsbezügen und verinnerlichten (Geschlechts-) Rollen herauslöst, aber gleichzeitig den Zwängen des Bildungs-, Arbeits- und Konsummarktes aussetzt. Jeder hat – und das ist historisch neu – die Chance (und gleichzeitig den Zwang/die Aufgabe), zwischen all den Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft ihm bietet, frei wählen zu können, aber jeder trägt gleichzeitig das Risiko sich falsch zu entscheiden[15].
Die Rolle des Kindes in der Gesellschaft hat sich verändert und wird besonders durch folgende Faktoren beeinflusst:
die Auflösung sozialer Bindungen im Familienleben
die wachsende Bedeutung der Freizeit
der wachsende Einfluss der Medien mit ihren Informationsmöglichkeiten, ihrem Informationsüberschuss und ihrer Förderung von passiven Verhaltensweisen die Intensivierung und Verdichtung der Leistungsanforderungen
Unsicherheit und Zukunftsangst bezüglich des späteren Berufs oder eventueller Arbeitslosigkeit
die Zunahme von sozialen und kulturellen Spannungen
der beschleunigte Umgang mit der Zeit
Auf einige Aspekte der genannten und, für diese Arbeit relevanten, gesellschaftlichen Bedingungen soll im Folgenden eingegangen werden.
Heute, so schreibt DeGrandpre in seinem schon mehrfach genannten Buch, ist das Leben „ein nicht endender Strom von Tagen, erfüllt mit Hast und Unruhe und Jetlag – Nächten... Entweder sind wir in Hetze oder erholen uns davon oder hetzen zu neuer Hetze.“[16]
Die beschleunigte Gesellschaft ist nicht selbstbestimmt, sondern wie er sagt „eine seltsame und scheinbar chronische kulturelle Erkrankung.“[17] Wir sind zu einer Gesellschaft geworden, die süchtig nach Abwechslung und Erregung ist. Die >Freuden der Langsamkeit< sind verschwunden. Muße, Langsamkeit, Faulheit, Entspannung, Einfachheit... vieles davon gehört in der westlichen Kultur der Vergangenheit an und wurde ersetzt durch eine >Geschwindigkeitsmanie<.
DeGrandpre bringt ADHS und die >Ritalin - Lösung< ganz klar mit unserer Sucht nach Geschwindigkeit und unserer Beschleunigungsgesellschaft in Verbindung.
Das Tempo unseres Lebens nimmt fortlaufend zu, die Schnelllebigkeit übertrifft bei weitem die jeder anderen Gesellschaft. Eine Untersuchung kam 1971 zu dem Ergebnis, dass jeder fünfte befragte Erwachsene sich „immer“ unter Druck fühlt. 1992 hatte sich der Anteil auf einen von dreien erhöht. Selbst die „fortschrittlichste“ Technologie wird so schnell wie nie ein alter Hut. Mit dem technologischen Fortschritt wurde unser Leben vereinfacht aber zugleich auch beschleunigt.
Der Gesichtspunkt der Quantität schiebt sich vor den der Qualität. So wird immer mehr das Gute und Solide durch Kurzlebiges und Billiges ersetzt. Die Dinge nutzen sich schneller ab und werden eher weggeworfen als repariert – was leider auch oft unsere persönlichen Beziehungen mit einschließt. Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. „Die Härte des täglichen Lebens formt und verformt die zwischenmenschlichen Beziehungen, von der sozialen über die romantischen bis zu den Beziehungen von Eltern und Kindern.“[18]
Wir leben in ständiger Bewegung. Entweder sind wir selbst in Bewegung oder etwas in unserer Nähe. Dies und die vollständige Überflutung mit Reizen bewirkt, dass wir ständig mit der so entstehenden Unruhe ausgefüllt und von ihr angetrieben sind. Wo auch immer wir uns befinden, umgeben uns eine Vielzahl unterschiedlichster Sinneseindrücke[19]. „Selbst wenn wir die ständige Geräuschkulisse aus Summen, Piepsen, Pfeifen etc. nicht als störend empfinden, werden wir ihr gegenüber wahrscheinlich eine psychische Toleranz entwickeln.“[20]
Viele Eltern haben in der heutigen Gesellschaft augrund der Anforderungen von Arbeitsplatz und Wohlstand immer weniger Zeit, sind in ständiger Eile und stehen unter Stress. Daraus resultiert, dass es ihnen nicht mehr gelingt, die Entwicklungs- und Erlebniswelt ihrer Kinder zu erhalten und zu schützen. Die beschleunigte Gesellschaft bringt also eine Menge von kulturellen Bedingungen und Konsequenzen mit, die für die Entwicklung von Kindern nicht förderlich sind. So z.B. das gehetzte, unstrukturierte Leben der Kinder und deren ständige Überflutung mit Sinnesreizen. Das Fehlen eines berechenbaren, gleichbleibenden (und langsamen!) Tagesablaufs zu Hause führt dazu, dass das Kind keine Strukturen der Selbstorganisation und Selbstkontrolle entwickeln kann. Struktur heißt jedoch nicht nur Routine und Ritual, sondern auch geduldig da zu sein, wenn das Kind Aufmerksamkeit braucht, denn wir wissen, dass die gesunde Kindesentwicklung von der emotionalen Bindung des Kindes an seine Eltern abhängt.
Der Tagesablauf ist immer weniger durch Zeit für wohltuende Stille und Ruhe sondern durch den Konsum leichter Unterhaltung gekennzeichnet. Für Kinder beinhaltet ein Tag auch den ständigen Transport von einem Betreuer und Termin zum nächsten, was eine turbulente Lebensweise bedeutet. Diese vielfältigen Aktivitäten lösen häufig eine Abscheu gegen Strukturiertheit aus und ein größeres Bedürfnis nach Stimulation, die beide dazu führen können, dass das Kind in langsamen Lebensbezügen völlig überfordert ist – in der Schule, beim Essen, zur Bettgehzeit, bei der Hausarbeit, den Schulaufgaben oder wenn dem Kind etwas verboten wird.
In der frühen Kindheit ließ die Qualität der Zuwendung sehr viel deutlichere Voraussagen auf Ablenkbarkeit, einen frühen Vorläufer von Hyperaktivität, zu als frühe biologische Faktoren oder solche des Temperaments. Zuwendung und kontextuelle Faktoren lassen eine Vorhersage auf Hyperaktivität in der mittleren Kindheit zu. All diese Faktoren sind direkt oder indirekt von der Beschleunigungskultur oder der Kultur der Vernachlässigung beeinflusst.
Alleinerziehende und Eltern, die nur geringe Unterstützung von außen erhalten, geraten schnell in eine Überforderungssituation, die von den Prioritäten, die eine Beschleunigungskultur setzt, noch verschärft wird. Diese Faktoren schaffen auch die Bedingungen für eine ruhelose und reizüberflutete Lebensweise der Kinder. Die Eltern geben unbewusst ihr eigenes hektisches, gehetztes (Zeiter-) Leben an ihre Kinder weiter, was zu einer weiteren Überstimulierung führt und sich zerstörerisch auf die kindliche Welterfahrung auswirkt. Wird eine solche Art der Betreuung chronisch, lässt sich das Kind immer leichter ablenken und befindet sich in einem Vorstadium späterer Hyperaktivität. Ablenkungsquellen aus der Umwelt wie das Tempo der Aktivitäten im Tagesverlauf und der Umgang mit elektronischen Medien addieren sich zu den genannten Faktoren. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizite hängen also mit Merkmale zusammen, die sich in vielen Familien von heute identifizieren lassen[21].
Auch Geissler setzt sich in seinem Artikel „Haben sie Zeit!“[22] mit dem Thema der Beschleunigung und Schnelllebigkeit der heutigen Zeit auseinander. „Wir leben beschleunigt – Fortschritt ist vor allem Schnelligkeit. Der Preis für diese >Schnellebigkeit< steigt, die psychischen und ökologischen Kosten werden immer deutlicher sichtbar. Streß und Hektik sind die Kehrseite des Zeitsparens. Wie lässt sich die Langsamkeit entdecken, und wann lernen wir endlich, wie produktiv sie sein kann?“[23]
Bis zum 14./15. Jahrhundert war Zeit kein Thema, denn Zeit war Natur und man lebte mit der Natur. Die regelmäßig...