Klein, aber oho: das Organ der Superlative
Unser Gehirn ist vergleichbar mit einem Dirigenten, der ein riesiges Orchester mit vielen unterschiedlichen Instrumenten lenkt und dafür sorgt, dass sie im Einklang miteinander zusammenspielen. Es ist die Steuerzentrale für alle physischen, psychischen und emotionalen Prozesse, die in uns ablaufen.
Anatomisch betrachtet ist unser Gehirn eine grau schimmernde, kokosnussgroße Masse. Es wiegt circa eineinhalb Kilogramm. Bezogen auf unseren ganzen Körper ist es verschwindend klein. Es macht nur 2 bis 3 % unserer Körpermasse aus. Dabei verbraucht es jedoch 20 % unserer Gesamtenergie und im Schnitt 70 Liter pro Tag an Sauerstoff. Kein Wunder, dass es so viel Energie benötigt – es muss auch eine Menge leisten.
Rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt, sind miteinander durch Synapsen verschaltet. Summiert man die Länge all dieser so entstehenden Nervenbahnen im menschlichen Gehirn, ergibt dies eine Länge von 5,8 Millionen Kilometern, was dem 145-fachen Erdumfang entspricht. Synapsen funktionieren ähnlich wie elektrische Lötstellen. Sie leiten Impulse mithilfe von Nervenbotenstoffen, den Neurotransmittern, und damit Informationen weiter – und das mit einer Geschwindigkeit von bis zu 400 Kilometern pro Stunde. Jede Nervenzelle kann Synapsen bilden oder trennen, mit der Folge, dass wir entweder lernen oder vergessen. In den ersten Lebensjahren bilden sich die meisten Synapsen. Kommen diese länger nicht zum Einsatz, lockern sich die Kontakte zwischen den Nervenzellen wieder. Werden sie dagegen stark beansprucht, bildet sich allmählich eine immer stärkere Verbindung.
Aus links und rechts mach eins: besser denken mit Gehirnintegration
Das Gehirn besteht aus einer linken und einer rechten Hälfte, die in der Mitte durch ein Nervenfaserbündel, den sogenannten Balken oder lateinisch „Corpus callosum“, verbunden sind.
Corpus Callosum (Grafik: Alexander Pokusay / 123RF.com)
Jede Gehirnhälfte sammelt und verarbeitet Informationen auf ihre ganz besondere Weise:
In der linken Hemisphäre werden Faktenwissen, Details, Reihenfolgen, exaktes Rechnen, wortgetreue Sprache, Grammatik, Vokabeln und lineares, geradliniges, zielorientiertes Denken verarbeitet.
Die rechte Hemisphäre ist für die ganzheitliche Verarbeitung von Informationen, für die räumliche Wahrnehmung und kontextabhängige Spracherkennung zuständig. Sie arbeitet mit Bildern, Rhythmen, Melodien, Farben, Vorstellungen, Emotionen und Intuition.
Rechte und linke Gehirnhälfte (Grafik: Christos Georghiou / 123RF.com)
Der neurologische Überkreuzfluss
Beide Gehirnhälften steuern über den sogenannten neurologischen Überkreuzfluss das jeweils gegenüberliegende Auge sowie die gegenüberliegende Hand und Gesichts- und Körperhälfte. Der Balken ermöglicht einen raschen Austausch zwischen linker und rechter Gehirnhälfte. Je öfter beide Hälften eingesetzt und aktiviert werden, desto mehr Verbindungen entstehen im Balken, was wiederum zu integriertem Denken und einer schnelleren Verarbeitung von Informationen zwischen beiden Hälften führt. Experten nennen dies auch Bahnung.
Ein gut funktionierender Überkreuzfluss ist wichtig, denn Überkreuzbewegungen kommen im Alltag häufig vor. Wir benötigen für viele Handlungen, wie z. B. beim Lesen, Schreiben und Malen, Flechten, Knoten- und Schleifenbinden, ein gutes Zusammenspiel beider Gehirnhälften. Untersuchungen ergaben jedoch, dass bei 80 % aller Menschen dieser neurologische Überkreuzfluss nicht ausreichend gebahnt ist.
Geschieht das Überkreuzen nicht automatisch, wird das oft durch zusätzliche andere Bewegungen kompensiert. Menschen begeben sich dann häufig in eine andere Position oder bringen Gegenstände umständlich an einen anderen Ort. Das bedeutet wiederum Zeit-, Aufmerksamkeits- und Energieverlust. Mithilfe von Gehirnintegrationsübungen kann die Bahnung verstärkt werden. Führen wir beispielsweise im schnellen Wechsel die linke Hand zum rechten Knie und umgekehrt, so sind beide Gehirnhälften zur Zusammenarbeit gezwungen. Das ständige Hin und Her zwischen beiden Hirnhälften und somit der Informationsaustausch über den Balken lässt die Kooperation zwischen links und rechts immer besser funktionieren. Wir können dann Abläufe sicherer und schneller ausführen. Je harmonischer solche Bewegungsabläufe stattfinden können, desto besser wird insgesamt die körperliche Koordination. Dadurch werden Balance, schnelleres Denken und leichteres Lernen gefördert.
Bis zu einem gewissen Grad dominiert bei allen Menschen eine bestimmte Gehirnhälfte. Sie wird dann in Stresssituationen oder wenn etwas Neues gelernt wird, bevorzugt eingesetzt. Um jedoch unsere Fähigkeiten und Potenziale maximal ausnutzen zu können, sollten beide Gehirnhälften zum Einsatz kommen. Denn entscheidend in Stresssituationen bzw. beim Lösen von Aufgaben sind ein funktionierender Austausch und ein Zusammenspiel beider Gehirnhälften. Und genau dabei können Sie Bewegung und hier vor allem spezielle Brainmoves® unterstützen, die in diesem Buch beschrieben werden.
Dass sich Bewegung günstig auf das Gehirn auswirkt, bestätigt auch die Wissenschaft. Eine Untersuchung der Neurowissenschaftlerin Henriette von Praag mit Ratten ergab, dass alleine das Trainieren in einem Laufrad die Anzahl sich teilender Zellen im Hippocampus, der für das Lernen und das Gedächtnis zuständig ist, nahezu auf das Doppelte anstiegen ließ. Ebenso nahm die Zahl junger Neuronen deutlich zu. Auch beim Menschen wird durch regelmäßige körperliche Bewegung, wie z. B. Laufen, die Bildung neuer Gehirnzellen im Hippocampus angeregt.
In einer Studie an der Klinik für Neurologie der Universität Regensburg aus dem Jahr 2004 stellten die Forscher fest, dass Erwachsenenhirne durch Jonglieren einen wesentlichen Zuwachs an grauen Zellen erhalten. Nach drei Monaten Jonglieren war bei den Testpersonen eine deutliche beidseitige Vergrößerung der grauen Substanz in der linken hinteren Furche zwischen oberem und unterem Seitenlappen des Gehirns feststellbar, die für das Erfassen von räumlichen Bewegungsabläufen verantwortlich ist. Dagegen führt langanhaltender Stress nachweislich zu einer Verringerung der Neuronen.
Lernen – jeden Tag, ein Leben lang
Das Gehirn, über das Sie jetzt verfügen, haben Sie durch Erfahrungen, Gedanken und Lebensweisen selbst geformt. Sie beeinflussen, welche Nervenverbindungen sich ausbilden, indem Sie entscheiden, wie Sie Ihr Leben gestalten. „What fires together, wires together“ – was der kanadische Psychologe Donald Hebb bereits 1949 formulierte, gilt heute immer noch: Nervenzellen, die gleichzeitig aktiv sind, also gemeinsam „feuern“, stärken ihre Verbindung. Werden Neuronen verschiedener Hirnareale regelmäßig gemeinsam erregt, bilden sich zwischen ihnen immer stärkere Vernetzungen aus, bis sie zu einem eigenständigen Verschaltungsmuster werden.
Synapsen lernen zwar langsam, sind diese jedoch einmal angefeuert, können sie durch Trainieren leicht gefestigt werden. Aus einzelnen Bewegungen werden so verknüpfte Bewegungsabläufe. Die neu erlernte Bewegung kann mit zunehmender Übung immer rascher abgerufen und immer schneller ausgeführt werden. Das ist vergleichbar mit einem Pfad, der häufig frequentiert wird: Zuerst ist er kaum sichtbar. Das ändert sich jedoch, wenn er häufig benutzt wird. Er wandelt sich dann allmählich zu einem breiten Weg und irgendwann zu einer richtigen Autobahn. Alle Daten, Erinnerungen und Handlungsmuster, die auf dieser Autobahn gespeichert sind, werden abgerufen, wenn es gilt, bestimmte Situationen zu bewältigen.
Die aktuelle Gehirnforschung belegt, dass das Hirn lebenslang neue Nervenzellen und Verknüpfungen bilden kann. Die Experten fassen dies unter dem Fachbegriff der adulten Neurogenese zusammen. Die neuen Nervenbahnen, die sich im Erwachsenenalter bilden, haben so einige Vorteile: Sie lassen sich leichter erregen als alte Neuronen und bilden schneller Synapsen. Sie nehmen somit zügiger Kontakt mit anderen Zellen auf.
Das Nervennetzwerk in Ihrem Gehirn ändert sich ständig; es ist nicht stabil. Werden zwei Nervenzellen, die ursprünglich eine gute Verbindung aufgebaut haben, eine Zeit lang nicht mehr miteinander aktiviert, so wird diese Verknüpfung in unserem Gehirn wieder abgebaut.
Beispiel
Fremdwörter oder Begriffe, die wir in unserer Sprache nicht regelmäßig anwenden, verlernen wir allmählich wieder.
Jede einzelne Ihrer Erfahrungen und Aktivitäten führt dazu, dass Verbindungen gefestigt und andere Verbindungen gleichzeitig abgebaut werden, wenn sie zu wenig aktiviert werden, egal in welchem Alter. So verändert sich und lernt unser Gehirn ein Leben lang.