Von Dübbekold bis Beseland
Die Göhrde ist eine gute Gegend, sich einzulaufen. Nationalparkverdächtig, es gibt viele seltene Pflanzen und Tiere und wenig Monokultur. Multikulti auf 75 Quadratkilometern. Das hat auch zu tun mit dem Dreißigjährigen Krieg. Als Deutschland Brachland war und die Apokalypse verbrannte Erde hinterließ. Ein weitsichtiger Herrscher, August der Jüngere, ein Welfe, verfügte damals eine »Verordnung gegen die Waldverwüstung«, auch um zum Jagen einen schönen Wald zu haben.
Jahrhundertelang war die Göhrde eine Schießbude der Mächtigen. Die Jäger zäunten sie ein und ließen sich Geweihe vor die Flinte jagen. Das war schlecht für die Tiere und gut für die Bäume: Während die einen fielen, blieben die anderen stehen. Hier halten sich Eichen seit 340 Jahren senkrecht, und Fichten sind 140 Jahre ungeschlagen. So ein Mischwald ist selten geworden.
Ich hatte mich noch kurz mit Kennys Frau Barbara unterhalten, die keinen Tag mehr ohne das Gefühl leben möchte, jederzeit aus der Tür gehen und über Stunden im Wald verschwinden zu können. Keinen halben Tag hielte es sie mehr in der Stadt aus, sagte sie, das Gedränge, das Schnelle, das Laute. Überall Buchstaben, die nach Aufmerksamkeit verlangen, der Lärm und die Leute. Menschen, die Handys spazieren führen und dich nicht anschauen, wenn du sie grüßt.
Und keine Bäume, die man umarmen kann. Keine Bäume? Ich schaute Barbara fragend an. Ja, sagte sie, je länger ich hier wohne, umso wichtiger wird mir ihre Gesellschaft. Vor Jahren noch habe sie sich nicht getraut, das zu sagen, weil man sie womöglich für eine Spinnerin gehalten hätte. Aber mir gibt das Kraft, mich anzulehnen, sagte Barbara. Ich nickte nur, ich war noch nicht so weit. Im Büro umarmen wir nicht gleich jeden, den wir sehen.
Ich hatte gut geschlafen, ich hatte mich gut unterhalten. Heiter gestimmt verließ ich das gastliche Haus im schönen Dübbekold. Von hier führte ein Weg nach Osten durch den Wald und über Sand an die Elbe, ich aber wollte in die andere Richtung, nach Süden. Hinterm Haus entdeckte ich ein kleines Schild, es war an eine Eiche genagelt. Eine kleine Wegweisung aus Messing, mit gezackten schwarzen Pfeilen: Europäischer Weitwanderweg stand darauf, Ostsee-Wachau-Adria. Ans Mittelmeer, bitte hier entlang. Diesen Pfeilen würde ich folgen können wie ein Kind früher den Holzstückchen bei der Schnitzeljagd. Zwei Monde später könnte ich in Italien sein, vielleicht würden 25 Kilometer am Tag reichen.
Was für eine Verheißung: die Adria. Mir wurde warm, ich sah mich am Strand, Sand zwischen meinen Fingern. Heiß war die Luft und hell, Wolken zogen hoch und weiß über mir dahin. Aber noch waren es über tausend Kilometer.
Ich hatte mir so ungefähr eine Route zurechtgedacht. Die norddeutsche Tiefebene wollte ich schnell hinter mir lassen, und ein wenig mehr Zeit in der Mitte Deutschlands verbringen. Um dann, Anfang August, grob über den Daumen gepeilt, vielleicht in München zu sein. Und danach Richtung Südosten über die Alpen nach Triest laufen, in die frühere Hafenstadt der Habsburger, als Österreich sich noch in die Länge streckte und keinen Kanzler hatte, der Kurz hieß. Für die Überquerung der Alpen hatte ich vorgesorgt; der Alpenverein hatte mir einen Pass geschickt für die Benutzung von Hütten, und ein kleiner Wanderführer hatte noch Platz gefunden in meinem Rucksack.
Europa ist durchzogen von Fernwanderwegen, dieser hier trug die Nummer sechs. Er startet in Finnland und geht über die Göhrde weiter in die Türkei. Aber ich musste erst einmal artig nach links und nach rechts schauen, mein Fernpfad querte die Bundesstraße 216, die von Lüneburg nach Dannenberg, über die Elbe nach Dömitz und von dort nach Ludwigslust führt.
Ich wechselte die Seite. In sanftem Schwung ging es durch den Wald. Auf dem Boden lagen tote Stämme, in Büschen und Bäumen hüpften Vögel. Ameisen häuften sich zu Hügeln, ich ließ sie links liegen. Entlang des Weges waren große Löcher, da sitzt jetzt der Fuchs drin und wartet, bis ich weg bin, dachte ich. Die Sonne hatte sich auch zurückgezogen. Von Sommer keine Spur, und so sollte es in den nächsten Monaten im Norden auch bleiben. Doch entfernte ich mich mit jedem Schritt weiter von der Wahrscheinlichkeit, die schönste Zeit des Jahres bei schlechtem Wetter zu verbringen.
Ich kam mir vor wie Forrest Gump, der aus dem Film. Dieser hatte mich wirklich beeindruckt. Er war auch einfach so losgelaufen. Ich erinnerte mich, wie ich einmal in Amerika in die Gegend kam, wo ein paar Szenen gedreht worden waren. Ich stoppte, holte Sportschuhe aus dem Auto und rannte. Nun raschelte ich durch den Wald, ich war ein Laub-Bube. Mir gefiel dieser Einfall.
Um mich herum waren bucklige Stämme und Äste mit Stacheln, rissige Rinden und zarte Triebe. Die Farbe der Blätter änderte sich mit dem Dach über ihrem Kopf; je weniger Licht auf sie fiel, umso kräftiger schien das Grün. Manchmal sah ich durch die Kronen Wolken ziehen, aber der Wald hier war schon sehr dicht. Bisweilen war da ein Schlag, er hallte durch die Stille. Es war der Specht, mit scharlachroter Feder, der mit kräftig kantigem Schnabel gegen den Stamm hämmerte. Er ist ein geduldiger Jäger und wartet, bis die Jungen anderer Vögel so groß geworden sind, dass sie eben noch in sein Maul passen. Dann verschluckt er sie.
Im Wald herrscht ein Kommen und Gehen. Ich war einer von vielen. Hier ist keiner ohne Migrationshintergrund. Die Buche hat sich aus den Karpaten vorgearbeitet, der schlanke und doch kräftige Rothirsch mit breiter Brust ist ein Steppentier. Dem Kaiser zu Ehren, der in der Göhrde gern jagte, wurde vor über hundert Jahren sogar Muffelwild importiert, aus Sardinien. Es vermehrte sich munter, die Jäger hielten sich zurück. Dann kam der Wolf. Das Mufflon wurde zu einem gefundenen Fressen. Gehegt und gepflegt hatte es keine Ahnung, wie es mit so einem Wolf umgehen soll. Wildschweine werden wütend, Rehe rennen weg. Ein Mufflon flüchtet erst und bleibt dann stehen und stellt sich. Es kennt es nicht anders, zu Hause funktioniert das auch. Im norddeutschen Flachland aber brauchst du andere Qualitäten. Da musst du schnell sein.
Kenny hatte mir gesagt, ich solle unbedingt durch den Breeser Grund gehen. Ein Stück Heide, spärlich mit Bäumen bestanden, der Rest eines alten Hutewaldes, in den Hirten einst Schweine und Großvieh führten. Auf der Waldweide fanden sie genug Eicheln und Bucheckern, sich satt zu fressen.
Auf dem Weg dorthin vernahm ich plötzlich ein Grunzen. Schnell suchte ich mir einen Stock, ich wollte vorbereitet sein, was immer da kam. Ich schaute auf den Weg vor mir. Und sah, einen Steinwurf entfernt, eine Bache die Seite wechseln, gefolgt von vielleicht sieben Frischlingen. Die Mutter drehte ihren Kopf zur Seite und warf mir einen Blick zu. Ich verstand und blieb stehen, ich wollte keinen Streit. Ich hüte mich vor Wildschweinen, zu viele Geschichten kenne ich von wütenden Keilern und überraschten Spaziergängern. Es sollte die einzige Begegnung mit wilden Schweinen sein; irgendwann später sah ich noch einmal einen Schatten im Wald, er bewegte sich im Rückwärtsgang.
Im Breeser Grund machte ich eine Pause. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf, er lag unterhalb eines kleinen Hügels. Noch nie schien mir ein Wald so unberührt, ich dämmerte vor diesem Landschaftsgemälde ein. Und wachte auf, als sich zu viele Ameisen meiner bemächtigten. Sie ließen sich leicht abschütteln; besser am Fuß als am Ohr, dachte ich. Als ich mich wieder sortiert hatte, schaute ich mir die Bäume näher an. Ich wünschte, einen Bogen Papier und ein paar Stifte mit mir zu führen und ein paar Striche zu wagen. Mir gingen Bilder durch den Kopf, wie ich sie in Museen gesehen hatte, Stimmungen, auf Leinwand gebannt. Von Caspar David Friedrich zum Beispiel.
Über harten Wurzeln verwitterte Stämme, die sich noch so eben senkrecht hielten, vielleicht war dies der letzte Sommer ihres Lebens. Und der nächste Windhauch würde sie zu Fall bringen. Ich sah verstorbene Bäume, noch nicht beerdigt, aber voll Leben. Mit Stammgästen, die sich auf dem Friedhof breitmachten. Würmer, Vögel, Siebenschläfer. Heimat für Hirschkäfer und Waldkäuze.
Hier faulte die Welt vor sich hin, so schön kann Sterben sein, dachte ich. Ich blieb ein bisschen und wartete auf einen Wolf. Hier sind sie oft, hatte Kenny gesagt. Aber es kam keiner. In Wahrheit machen sie einen großen Bogen um uns Menschen. Ich dachte an meine Freundin und ihre schönen grünen Augen. Stunden hätte ich bleiben können in diesem Traum von Landschaft.
Aber ich musste mich sputen; ich hatte kein Zelt und wollte nicht unter freiem Himmel schlafen. Ich war erstaunt, wie viel Strecke mit Hochsitzen abgesteckt war. Alle Nase lang war da ein Schießstand. Mal hastig zusammengehämmert, ein anderes Mal mit weichem Kissen gepolstert. Manche dieser Schussanlagen lagerten auf Anhängern, man kann sie von Lichtung zu Lichtung durch den Wald ziehen. Ein Jäger, lästerte einst der Naturschützer Horst Stern, brauche nicht mehr als Geld, gute Beziehungen, Sitzfleisch und einen ruhigen Zeigefinger.
Aus dem Wald heraus organisierte ich mein nächstes Quartier. Es waren wohl noch mehr als zehn Kilometer, und es war schon Nachmittag. Eine Schneise wies mir die Richtung und geleitete mich aufs freie Feld. In der Dämmerung erreichte ich ein Dorf, einen Rundling, dessen Häuser sich um einen Platz in der Mitte gruppierten. Diese jahrtausendalte slawische Siedlungsform hat sich bis heute in dieser Gegend, dem Wendland, gehalten. Aus Zeiten, als Völker wanderten und sich Gebiete suchten, wo sie sich fruchtbar mehren konnten. Ich nahm ein Zimmer, öffnete das Fenster, bettete meine tapferen...