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E-Book

Geistesblitze

Eine andere Geschichte der Philosophie

AutorManfred Geier
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644034419
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wie entstehen philosophische Gedanken und Einsichten? Woher stammt die Inspiration für die Ideen, mit denen große Denker unsere Welt begreifen und erklären? Die überraschende These von Bestsellerautor Manfred Geier lautet: oft sind es ganz konkrete einzelne Augenblicke, in denen Philosophen auf neue Ideen kommen, um schwierige geistige und existenzielle Probleme lösen zu können. In sieben exemplarischen Fallstudien berichtet Geier über die Genesis wichtiger philosophischer Gedanken. Er beschreibt am Beispiel von Parmenides, René Descartes, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Johann Georg Hamann, Friedrich Nietzsche und Karl Popper, wie eng deren Leben und Werk miteinander verknüpft waren. Sein Buch zeigt auf faszinierende Weise, wie sich jedem dieser Philosophen in einer angespannten Situation plötzlich eine kreative Einsicht offenbarte, die dann zu einem wegweisenden Werk ausgearbeitet wurde. «Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet der Gedanke auf», hat Friedrich Nietzsche festgestellt, als er sich durch Zarathustra inspiriert fühlte. Dieses Buch beschreibt Sternstunden des menschlichen Denkens, die eine epochale Bedeutung erlangt haben.

Manfred Geier, geboren 1943 in Troppau, studierte Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt/Main, Berlin und Marburg. Er lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaften an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt Manfred Geier als freier Publizist in Hamburg.       Buchpublikationen, u.a.: Das Sprachspiel der Philosophen. Reinbek 1989; Der Wiener Kreis. Reinbek 1992; Karl Popper. Reinbek 1994; Das Glück der Gleichgültigen. Reinbek 1997; Orientierung Linguistik. Reinbek 1998; Fake. Leben in künstlichen Welten. Reinbek 1999; Kants Welt. Reinbek 2003; Martin Heidegger. Reinbek 2005; Worüber kluge Menschen lachen. Reinbek 2006; Was konnte Kant, was ich nicht kann? Reinbek 2006; Die Brüder Humboldt. Reinbek 2009; Aufklärung. Das europäische Projekt. Reinbek 2012; Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie. Reinbek 2013; Leibniz oder Die beste der möglichen Welten. Reinbek 2016 (als E-Book); Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen. Reinbek 2017.  

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Leseprobe

Eine Reise, fernab vom Verkehr der Menschen


Er war zwar ein Schüler des viel älteren Xenophanes. Doch für Parmenides waren die Einsichten seines Lehrers keine Dogmen, denen er blind folgte, sondern Probleme im ursprünglichen Sinn dieses griechischen Wortes. Problema, das meinte etwas vor die Füße Geworfenes, ein Hindernis. Durch den weitgereisten Fremden aus Kolophon fühlte Parmenides sich in eine philosophische Problemsituation verstrickt, die es zu lösen galt. Vielleicht war das der Grund, warum er seinen Abschied von der Politik nahm und sich in eine kontemplative Lebensform zurückzog, um frei und selbständig über das nachdenken zu können, was ihm Xenophanes als Rätsel hingeworfen hatte.

Man weiß wenig über das Leben des Parmenides, der um 520 v. Chr. in Elea geboren wurde, einer von Griechen gegründeten Kolonie, die ihre ionische Heimat an der Westküste Kleinasiens wegen der persischen Eroberung verlassen hatten. Noch heute kann man die Fundamente dieser Stadt sehen, unweit von Paestum gelegen, das wegen seiner Tempelanlagen berühmt ist. Parmenides stammte aus einer reichen, vornehmen Familie und soll politisch vor allem als Gesetzgeber für seine Heimatstadt gewirkt haben. Doch bedeutsam als einer der großen anfänglichen Denker, der den nach ihm kommenden Philosophen einen Weg vorauswies, wurde er durch das eine Werk, das er um 480, jedenfalls vor 470 v. Chr. geschrieben hat. Es ist nur in Bruchstücken überliefert, zusammen 153 Verse umfassend.[17] Denn Parmenides schrieb keine Prosa, sondern, wie Xenophanes, als denkender Dichter im Hexameter-Versmaß der homerischen Epen.

Sein Lehrgedicht hatte den Titel Über die Natur (Peri physeos), wobei mit «physis» nicht allein die Natur in ihrer materiellen Gestalt gemeint war, sondern das eigentliche Wesen einer Sache, sei es eines einzelnen Dinges oder des Seienden überhaupt. Und darum ging es ja diesem Dichter-Philosophen vor allem, der sich nicht mit dem bloßen Vermuten und Meinen der Menschen zufriedengab. Er wollte den wesentlichen Grund alles Seienden erkennen und beanspruchte Wahrheit und Gewissheit für seine Erkenntnisse.

Angesichts dieses reinen Erkenntniswillens mag es überraschen, dass Parmenides seine Schrift mit einem Vorspann (Fragment 1) begann, einem mythopoetischen Proömium (prooimion), in dem er von einem persönlichen Erlebnis berichtete.[18] Anschaulich erzählte er von einer rasanten Wagenfahrt, die ihn aus der Tiefe der menschlichen Welt ins Reich einer Göttin führte, die in der Höhe über allem thronte und ihm die ganze Wahrheit über das Wesen des Seienden offenbarte. Glaubte dieser klare Denker denn noch an die Existenz der Götter, die sein Lehrer doch als anthropomorphe Phantasiegestalten entlarvt hatte? Wollte er nicht die Verantwortung für sein eigenes Denken übernehmen? Jedenfalls kam er mit seiner einleitenden Geschichte den Erwartungen seiner Leser entgegen. Die Bildersprache seiner kleinen Erzählung war allgemein vertraut, sodass sie das Verständnis dessen erleichterte, was er dann mit gedanklicher Schärfe als seine eigenen Einsichten folgen ließ.[19]

Parmenides hatte die Epen von Homer und Hesiod gelesen. Er hatte gehört, wie Rhapsoden die alten mythischen Geschichten vortrugen. Er wusste von den göttlichen Musen, die Homer und Hesiod zu Dichtern werden ließen. Er kannte den Musenwagen, mit dem sein lyrischer Zeitgenosse Pindar die Dichter ihre Fahrt der Lieder anfangen ließ. Daran konnte er anknüpfen. Und so begann er im Stil der frühgriechischen Epen mit den drei Versen (V. 13):

Die Stuten, die mich fahren so weit nur mein Wille dringt,

trugen mich voran, da sie mich auf den Kunde-reichen Weg

der Göttin gebracht hatten, der den wissenden Mann durch alle Städte führt …

Mit Pferdegespann und Wagen starteten viele epische Lieder. Dass der Aufbruch eines neuen Denkens als eine Fahrt geschildert wird, ist eine gängige formelhafte Wendung. Und auch das Bild des Weges ist durch die Werke Homers und Hesiods vorgezeichnet, wo es noch einen direkten gegenständlichen Bezug besaß. Als leibliches Wesen, das durch seine körperliche und geistige Arbeit zum Guten gelangen will, befindet sich der Mensch auf dem richtigen Weg. Er folgt dem Weg, auf dem er das Ziel erreichen kann, das er anstrebt, und das Problem zu lösen weiß, das ihn herausfordert. Für Parmenides ist es ein göttlicher Weg echter und reichhaltiger «Kunde». Er führt nicht in die Irre. Er ist weder Abweg noch der ausgetretene Pfad, auf dem die gewöhnlichen Menschen gehen. Die Stuten scheinen den Weg zu kennen. Sie brauchen keine lenkende Hand. Es müssen göttliche Pferde sein, die den Reisenden zu seinem Ziel bringen.

Dass dieser Weg «durch alle Städte» führt, erinnert an den alten ionischen Weg des Wanderns über die Erde. So ist Xenophanes von Kolophon nach Elea gereist, so zogen die Ionier vom griechischen Festland an die Küste Kleinasiens, von wo sie, von den Persern überwältigt, nach Italien emigrierten. Und so begann auch die Odyssee, in der Homer seinen Helden nach dem Untergang Trojas durch die Welt fahren ließ: «Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat.»[20]

Doch der fahrende Parmenides ist kein Odysseus, der viele Jahre durch die weite Welt irrte, weil er einen Gott herausgefordert hatte. Es ist kein trauriges Schicksal, das ihn auf den Weg der Erkenntnis zwingt, sondern sein eigener Wille (thymòs), der diesen «wissenden Mann» ein Ziel anstreben lässt, wobei der thymòs an den Mut und die leidenschaftliche Energie erinnert, die Homers Helden beflügelt hat. Dieser Mann weiß bereits etwas, und sein Wille zum Wissen wird auch nicht ausgeschaltet werden, wenn er zur Göttin kommt. Denn was sie ihm als Wahrheit offenbaren wird, soll er mit seinem Verstand (nóus) überprüfen: Beurteile selbst, was ich dir sage; ich heiße dich überlegen; schau mit dem Geist, was ich dir zeige. Die göttliche Gabe bleibt auf den Gebrauch des eigenen Verstandes bezogen, ohne den sie nur ein unbegreifliches mystisches Erlebnis sein könnte.

Sicher spielen dabei mythische Vorstellungen eine Rolle, an die Parmenides erinnert, um seine philosophischen Gedanken anschaulich auszumalen. Denn die Wagenfahrt, die ihn «durch alle Städte» führt, bringt ihn auch «über alle Städte» hinaus. Er überblickt nicht nur vieler Menschen Städte, durch die er reist. Er transzendiert die weltlichen Orte und begibt sich auf einen «Kunde-reichen Weg der Göttin», der ihn sowohl räumlich wie zeitlich in eine andere Dimension führt, wobei dieser Weg zugleich die Bahn seines eigenen «daimon» ist, seines persönlichen Geschicks:

Darauf fuhr ich: da nämlich fuhren mich die aufmerksamen Stuten,

die den Wagen zogen; und Mädchen lenkten die Fahrt. (V. 45)

Diese Mädchen, die den Weg kennen, werden bald als die «Sonnenmädchen» (V. 9) identifiziert. Es sind die richtungsweisenden Heliaden, Töchter des Sonnengottes Helios, mythisch oft als Wagenlenker dargestellt, der seinen vierspännigen Wagen täglich von Ost nach West über den Himmel treibt. Es ist also keine Entdeckungsreise, auf der Parmenides neue Länder und Menschen kennenlernt. Es ist eine Himmelfahrt, die seinen philosophischen Beruf als seine schicksalhafte Berufung darstellt. Er will sich nicht in der unbegrenzten und unüberschaubaren Vielfalt der weltlichen Dinge und Tatsachen verlieren, sondern er hat nur ein Ziel: Er will mit seinem Geist das wahre Wesen alles Seienden erkennen. Der Weg (hodós), auf dem er fährt, ist zu einem Weg-Gedanken geworden. Der räumliche Bezug, der einen Ausgangsort mit einem Zielpunkt verbindet, ist zurückgedrängt zugunsten einer geistigen Tätigkeit, die als metá hodós zwar dem Bild des Weges verbunden bleibt, aber es metaphorisch in die rationale «Methode» des richtigen Denkens überführt.

Wie er seinen göttlichen Weg zum wahren Wissen findet, hat Parmenides detailliert ausgemalt, wobei er auch auf technische Einzelheiten großen Wert legte. Zunächst handelt es sich um eine Fahrt aus dem Reich der Dunkelheit und der Nacht hin zum Licht. Die Bilder des Lichts und des Hellen häufen sich, je weiter sie geht. So schlagen die Heliaden ihre Schleier zurück, mit denen sie sich nächtlich bedeckt haben. Es wird zunehmend heller in diesem Proömium. Die Reise vollzieht sich in einem ungeheuren Tempo, und sie wird immer schneller, je näher sie ihrem Ziel kommt. Die Achsen des Wagens beginnen zu glühen, und man glaubt, ihr helles Pfeifen hören zu können. Denn obwohl Parmenides während seiner Fahrt riesige Entfernungen durcheilt, so ist sie doch die rasanteste, die sich denken lässt. Schon Homer hat die Schnelligkeit der Gedanken mit der Geschwindigkeit des Lichts verglichen, und auch Parmenides spielt hier mit dem Bild eines blitzartigen Denkakts, der die sorgfältige, Schritt für Schritt sich vollziehende gedankliche Arbeit weit hinter sich lässt und Raum und Zeit überwindet.

Schließlich gelangen die Stuten, die Sonnenmädchen und Parmenides an ein großes steinernes Tor, dessen Flügel himmelshell leuchten, wie aus «Ätherlicht» (V. 13) bestehend. Es wird von Dike bewacht, der Göttin der Gerechtigkeit, die das Rechte und das Unrechte genau zu unterscheiden weiß. Von den Heliaden mit sanften und klugen Reden überzeugt,...

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