WARUM SIND KINDER TROTZIG?
ZWISCHEN ACHTZEHN MONATEN UND SECHS JAHREN BEFINDET SICH IHR KIND MITTEN IM TROTZALTER. WAS LERNT ES, WAS FÜHLT ES UND WAS BRAUCHT ES IN DIESER ZEIT?
MEILENSTEINE DER ENTWICKLUNG
Mit 18 Monaten ist die Babyzeit vorbei. Das Alter von eineinhalb bis sechs Jahren nennt man frühe Kindheit. Es ist bemerkenswert, was ein Kind in diesen wenigen Jahren alles lernt und in welchem Tempo es sich entwickelt. Viele Meilensteine liegen bis dahin auf seinem Weg – da wäre es das reinste Wunder, wenn es nicht ab und zu ins Stolpern geraten würde. Es ist gut, wenn Sie als Eltern die Meilen- und die Stolpersteine genau kennen, damit Sie Ihrem Kind immer hilfreich zur Seite stehen können.
MITTEN IM TROTZALTER
Lena-Marie ist 18 Monate alt. Seit drei Monaten kann sie alleine laufen, aber sie ist noch etwas wackelig auf den Beinen. Natürlich trägt sie noch eine Windel. Außer »Mama« und »Papa« sagt Lena-Marie erst wenige Worte, und sie weicht ihrer Mutter nicht von der Seite. Gerade fängt sie an, selbstständig mit dem Löffel zu essen. Sich freuen und strahlen kann sie, dass jeder dahinschmilzt, weil sie dann so unglaublich süß ist. Aber schreien und toben kann sie auch, ausdauernd und ohrenbetäubend laut. Lena-Marie ist schon mitten im Trotzalter.
Auch Lena-Marie soll in ein paar Jahren selbstständig in die Schule gehen, mehrere Stunden am Tag konzentriert arbeiten, sich mit den anderen Kindern vertragen, Lesen, Schreiben, Rechnen lernen – und sich auch zu Hause an alle Regeln halten, die dort gelten. Welch eine Leistung, in so kurzer Zeit so viele Dinge zu lernen!
Sich verständlich machen: Sprechen lernen
Ein ganz wichtiger Meilenstein in der kognitiven Entwicklung ist das Sprechenlernen. Es beginnt mit einzelnen Wörtern, nach und nach kommen Zweiwortsätze, Mehrwortsätze und Sätze mit richtigem Satzbau dazu. Mit sechs Jahren können die meisten Kinder Haupt- und Nebensätze bilden und fast alle Laute richtig aussprechen. Bis dahin haben sie bereits mehrere tausend Wörter gelernt!
Das Tempo der Sprachentwicklung ist individuell sehr unterschiedlich. Die ersten Wörter sagen einige Kinder schon kurz vor ihrem ersten Geburtstag, einige erst nach dem zweiten. Mädchen sind den Jungen im Durchschnitt ein wenig voraus. Zu verstehen, was andere Menschen sagen, ist für alle Kinder leichter, als selbst zu sprechen. Hier sind die Unterschiede zwischen den Kindern nicht so groß.
Die Sprache ermöglicht es Ihrem Kind, eigene Wünsche und Gefühle auszudrücken und zu verstehen, was andere von ihm wollen. Solange ein Kind noch nicht gut sprechen kann, sind seine Kommunikationsmöglichkeiten begrenzt: Wenn ihm etwas nicht passt oder es frustriert ist, kann es nicht diskutieren oder schimpfen. Es kann nicht sagen, wie es sich fühlt und was es sich wünscht. Was bleibt ihm übrig, wenn es Wut, Ärger oder Enttäuschung ausdrücken möchte?
INFO
DIE WUT MUSS RAUS!
Bevor kleine Kinder sprechen können, brauchen sie andere Möglichkeiten, um bei Enttäuschungen ihren Ärger äußern zu können: schreien, toben, trampeln, mit Sachen werfen, um sich schlagen – mit diesen Mitteln versuchen sie, sich verständlich zu machen. Erst die Sprache ermöglicht nach und nach einen anderen Umgang mit so starken Gefühlen.
WARUM VERSTEHT MICH KEINER?
Malte ist ein kleiner Junge von zweieinhalb Jahren. Motorisch ist er sehr gut entwickelt: Er kann rennen, klettern und Fußball spielen, Puzzles mit vielen Teilen zusammensetzen, geschickt mit Stift und Schere hantieren. Er liebt Bilderbücher und Geschichten und scheint alles zu verstehen, was man zu ihm sagt. Aber er spricht erst wenige Wörter. Gerade ist ihm in den Sinn gekommen, dass er gern das Buch haben möchte, das auf dem Schrank liegt. Er versucht, am Schrank hochzuklettern, aber es gelingt ihm nicht. Sein Vater kommt dazu, holt ihn vom Schrank weg und gibt ihm das Auto, das ebenfalls auf dem Schrank steht. Malte wirft es auf den Boden. Nun fragt der Vater: »Was willst du denn?« Diese Frage kann Malte zwar schon verstehen, aber er kann noch nicht darauf antworten. Das macht ihn so wütend, dass er sich schreiend auf den Boden wirft und dabei so fest er kann mit den Füßen trampelt.
Malte begreift einfach nicht, warum ihn sein Vater nicht versteht. Seine Wut ist wirklich nachvollziehbar.
Selbstwahrnehmung: »Ich bin ich«
Bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres haben Kinder noch keinen Schimmer davon, dass sie eigenständige Persönlichkeiten sind. Sie haben zwar schon die Erfahrung gemacht, dass sie selbst etwas bewirken können: Wenn man den Löffel vom Hochstuhl aus auf den Boden wirft, gibt das ein interessantes Geräusch; wenn man kräftig an der Schnur zieht, gibt die Spieluhr immer die gleichen Töne von sich … Aber sich selbst erkennen können sie noch nicht.
SPIEGELSPIELE
Lucas, 18 Monate, sitzt auf Mamas Schoß vorm Spiegel. Lucas ist begeistert, klopft an den Spiegel, lacht, dreht sich zu seiner Mutter um und zeigt auf ihr Spiegelbild. Er erkennt sie offenbar genau. Nun tupft seine Mama ihm beim Spiel unbemerkt mit Lippenstift einen roten Fleck auf die Stirn. Lucas lacht und klopft weiter, aber der Fleck scheint ihn nicht zu interessieren.
Lucas hat zwar seine Mama im Spiegel erkannt, aber ihm ist nicht klar, dass es sein eigenes Gesicht ist, das jetzt so einen lustigen Fleck hat. Deshalb wundert er sich nicht darüber. Er hat noch nicht verstanden, dass der kleine Kerl im Spiegel er selbst ist.
DAS BIN JA ICH!
Zwei Monate später wiederholt Lucas’ Mutter das Spiel. Lucas hat wieder Spaß vorm Spiegel, wieder tupft sie ihm unbemerkt mit dem Lippenstift Farbe auf die Stirn. Diesmal reagiert Lucas anders. Er bleibt ganz still auf dem Schoß seiner Mutter sitzen und schaut mit großen Augen sein Spiegelbild an. Mit der Hand greift er nach dem roten Fleck auf der Stirn seines Spiegelbilds. Dann fasst er an seine eigene Stirn. Verwirrt dreht er sich um zu seiner Mutter.
Diesmal hat Lucas sich selbst erkannt. Er hat bemerkt, dass der Fleck in seinem Gesicht ist, und er ist verblüfft. Lucas denkt über sich selbst nach: »Das bin doch ich! Aber wie kommt der Fleck in mein Gesicht? Gerade war er doch noch nicht da!«
Dieses Spiel wird in der Fachliteratur übrigens als »Rouge-Test« oder »Spiegel-Test« bezeichnet. Verschiedene Forscher haben es eingesetzt, um mehr über die Selbstwahrnehmung von kleinen Kindern zu erfahren. Sie können es selbst ausprobieren, wenn Ihr Kind im passenden Alter ist.
Eine sensationelle Entdeckung
Fast alle Kinder bewältigen den Meilenstein, sich selbst als »ich« zu erkennen, zwischen 18 und 24 Monaten. Erst danach kann ein Kind seinen eigenen Namen verwenden. Erst danach kann es sagen »Das ist meins!« und seinen Besitz nach Kräften verteidigen.
Der nächste Schritt ist die Entdeckung des eigenen Willens: »Ich bin ich! Ich kann etwas bewirken! Ich kann alles ausprobieren! Ich kann machen, was ich will!« Und genau das tut Ihr kleiner Entdecker. Er oder sie will ganz gezielt etwas haben: das blaue Auto, nicht das rote. Von jetzt an alles ganz allein machen: die Socke anziehen. Auf die Straße laufen. Nicht mehr an Mamas Hand gehen. Dass das alles nicht immer klappen kann, hat Ihr Kind dabei gar nicht eingeplant. Dass es Grenzen und Regeln gibt und dass manche Dinge erst nach vielen Versuchen und langem Üben gelingen – welch eine Zumutung das ist! Da kommen natürlich immer wieder Wut und Enttäuschung auf, und die müssen raus. Ein Wutanfall ist folglich eine völlig normale Reaktion.
INFO
MITTELPUNKT DER WELT
»Ich bin ich« – diese Entdeckung eröffnet Ihrem Kind eine ganz neue Welt, in deren Mittelpunkt niemand anderes steht als es selbst. Da ist es nur natürlich, dass es seine Welt auch selbst regieren will. Nichts und niemand darf sich ihm in den Weg stellen. Und wenn es doch jemand wagen sollte, ist dies für Ihr Kind ein kleiner Weltuntergang. Erst nach und nach lernt es die Grenzen seiner Möglichkeiten kennen.
Sicherheit gewinnen: Selbstständigkeit
Es ist ganz normal, wenn ein kleines Kind neben seiner Neugier auf die Welt immer noch sehr stark die Nähe seiner Eltern sucht. Es bekommt Angst, wenn Mutter oder Vater oder eine vertraute Betreuungsperson sich entfernen. Wenn sich eine fremde Person nähert oder das Kind auf den Arm nehmen will, fängt es an zu weinen: Es »fremdelt«. Diese Angst hat Ihr Kind erst, wenn es vertraute und fremde Personen unterscheiden kann, also frühestens ab dem sechsten Monat. Trennungsangst und Angst vor Fremden steigern sich zunächst und sind am stärksten im zweiten und dritten Lebensjahr. Erst danach wird Ihr Kind selbstständiger und lässt allmählich Ihren »Rockzipfel« los.
Wie stark die Trennungsangst ist, unterscheidet sich von Kind zu Kind. Sie gehört in diesem Alter zur Entwicklung dazu, auch wenn Ihr Kind seiner Angst in Form von Trotzanfällen Luft macht.
Angst schützt vor Gefahren
Die Trennungsangst hat eine wichtige Funktion: Sie schützt Kleinkinder, die mittlerweile laufen können und die Welt erkunden wollen, vor Gefahren. In diesem Alter können sie noch nicht einschätzen, welche Situationen ihnen gefährlich werden können, welche Menschen ihnen wohlgesonnen sind. Da ist es nur klug, lieber in der Nähe der Eltern zu bleiben, statt voller Neugier draufloszulaufen. Es ist also normal, wenn Ihr Kind seine Angst mit Weinen oder Schreien ausdrückt. Aber es braucht Gelegenheit und Ihre Ermutigung, sich nach und nach weiter hinaus in die Welt zu wagen.
Sich in die Welt hinaus...