Kapitel 1 X ist ein Gen für Y
Mehr als 2000 Männer haben sich vor einiger Zeit in Schweden zusammengetan, weil sie wissen wollten, warum es ausgerechnet sie getroffen hat. Sie waren an Krebs erkrankt; die Vorsteherdrüse eines jeden der Männer war bösartig entartet und damit zu einer tickenden Zeitbombe geworden. Mal bricht die Erkrankung gar nicht oder erst in vielen Jahren aus, mal kommen die Metastasen in wenigen Wochen. Keiner der Männer wollte die Ungewissheit hinnehmen. Sie wollten etwas tun, sie meldeten sich als Testpersonen und ließen sich von ihren Ärzten Blut abnehmen.
Niemals zuvor haben Mediziner das Erbgut so vieler Patienten mit Prostatakrebs so gründlich untersucht: Aus den weißen Blutkörperchen isolierten sie das genetische Material, die DNA, fahndeten nach auffälligen Erbfaktoren, entwarfen die genetischen Profile von insgesamt 2149 Männern und verglichen sie mit Profilen von 1781 gesunden Männern gleichen Alters. Das angesehene New England Journal of Medicine vermeldet das Ergebnis auf zehn Seiten, weil es von einer bis dahin nicht vorstellbar großen Erblast kündet: Wer vier verschiedene Risikogene von seinen Eltern geerbt hat, der hat eine fast fünffach erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorsteherdrüse zu einem Krebsherd mutieren wird.
Die erkrankten Männer macht der Befund zwar nicht mehr gesund, jedoch können die Väter unter ihnen erfahren, ob sie das bedrohliche Erbe an ihre Kinder gegeben haben. Einen Test auf die Krebsgene haben die Ärzte bereits zum Patent angemeldet und wollen ihn mit einer privaten Firma vermarkten. Da Frauen keine Vorsteherdrüse haben, erkranken sie selbst nicht an dem Leiden. Gleichwohl dürfte der Test sie ebenfalls interessieren, weil auch sie die vermeintlichen Risikogene für Prostatakrebs tragen und an Söhne vererben können.
Es vergeht kaum eine Woche, in der Forscher nicht die Entdeckung neuer Krankheitsgene verkünden. Mehr als 300 Forschungsinstitute auf fünf Kontinenten haben, in der bisher weltweit größten Studie dieser Art, das Erbgut von mehr als 100 000 Menschen analysiert – und fünf veränderte Gene als Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes mellitus identifiziert.[3] Mediziner von der Technischen Universität München wiederum haben mit Kollegen von 48 Forschungszentren das Erbgut von mehr als 28 000 Menschen europäischer Abstammung gemustert – und wollen auf neun Gene gestoßen sein, die uns anfällig für Vorhofflimmern machen. Wer die Erkrankung hat, dem drohen Herzrasen und Schlaganfall.
Die Suche nach Genen erobert die Medizin. Die treibende Kraft sind die enormen Fortschritte der Labortechnik, fraglos eine Revolution: Das Erbmaterial DNA können Genetiker heutzutage schneller und preisgünstiger entziffern als jemals zuvor. Nach dem Humangenomprojekt, der Entzifferung des menschlichen Erbguts, zu Beginn des neuen Jahrtausends haben Wissenschaftler die Ära der personalisierten Medizin eingeläutet. In Vergleichsstudien wollen sie die Gene für alle erdenklichen Volksleiden finden. Der Ansatz beruht darauf, dass es im Genom Millionen Stellen gibt, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden können. Diese »SNPS« (sprich Snips, für single nucleotide polymorphisms) sind wie Wegmarken in den Weiten des Genoms.
Forscher suchen nun in riesigen Reihenuntersuchungen systematisch nach SNPS, die gehäuft bei bestimmten Erkrankungen auftreten. Findet sich ein auffälliges SNP, so die Überlegung der Molekularbiologen, dann müsste in der Nähe dieser Wegmarke ein Gen liegen, das mit der jeweiligen Erkrankung zusammenhängt. Diese mathematischen Häufungen nennen sie »Assoziationen«. Die Erwartung ist, dass auf assoziierten DNA-Abschnitten Gene liegen, die für Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Alzheimer, Krebs und krankhaftes Übergewicht verantwortlich sind. Am Ende könnte man das Erbgut eines beliebigen Menschen testen und ihm mitteilen, welche Assoziationen er hat und inwiefern sie sein persönliches Krankheitsrisiko beeinflussen. Das ist die Vision der personalisierten Medizin: Wenn ein Mensch seine persönliche Erblast erst einmal kennt, dann können Ärzte mit maßgeschneiderter Vorsorge und zielgerichteter Therapie dagegen angehen.
Das Erbgut von Abertausenden Menschen haben die Genforscher bereits durchgesehen, und es sind die Früchte dieser Großanstrengung, die gegenwärtig die medizinischen Fachblätter füllen und den Eindruck erwecken, die Genforscher hätten ihr Heilsversprechen einlösen können. Mehr als 850 DNA-Assoziationen haben sie ausgemacht, die angeblich mit mehr als 70 häufigen Krankheiten zusammenhängen.[4] »Eine erfolgversprechende Methode hält weltweit Einzug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen«, sagen Mitarbeiter der Technischen Universität München, die an der Suche nach den Genen für Vorhofflimmern beteiligt sind. »In genomweiten Assoziationsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen« – für die Gelehrten »ein Forschungsansatz mit Erfolgsgarantie«.[5]
Mit Erfolg kann klinischer Nutzen allerdings nicht gemeint sein, sondern wohl eher die Kunst, das Datenmaterial so lange zu bearbeiten, bis ein statistisch relevant erscheinender Zusammenhang herauskommen mag. Es ist nur eine Frage der Mathematik, eine Assoziation herbeizuzaubern, die dann in der Öffentlichkeit das Gen der Woche abgibt. Ein Blick in Tageszeitungen und Nachrichtenportale offenbart, wie lustvoll Journalisten mitmachen, wenn es gilt, die vermeintlichen Fundstücke der Genforscher im Volk bekannt zu machen. So gibt es angeblich das Gen
für Herzinfarkt,
für Übergewicht,
für unruhige Beine,
für Legasthenie,
für ADHS,
für Haarausfall,
für vorzeitiges Altern,
für weiblichen Bauchspeck,
für Schweißgeruch,
für Narkolepsie (Schlummersucht),
für das biologische Altern,
für Gallensteine,
für Verfolgungswahn,
für Transsexualität,
für Treue,
für Langzeitgedächtnis,
für drei Prozent Intelligenz,
für Starrsinn,
für schlechtes Autofahren.
Es ist eine Liste, die sich nach einer einfachen Formel verlängern lässt: »X ist ein Gen für Y.« Für das X setzte man einen Abschnitt aus dem menschlichen Erbgut ein; für das Y greife man sich ein Syndrom aus dem Füllhorn der Erkrankungen und Verhaltensweisen heraus, wie etwa Fettsucht, Depression, Untreue, sexuelle Vorlieben, Stressanfälligkeit, Alkoholsucht oder Schizophrenie.
Im Laienpublikum treffen die simplen Erklärungen aus den Laboratorien der Genetiker einen Nerv. Eine bekannte TV-Moderatorin und erfolgreiche Autorin führt die kreative Neigung in ihrer Familie auch auf biologische Faktoren zurück. Offenbar »werden die Gene irgendwie doch weitergegeben«, sagt sie in einem Zeitungsinterview und bekräftigt: »Aber ich glaube schon, dass da auch Vererbung dazukommt, dass da bestimmte Talente weitergegeben werden.«[6] In der Sportpsychologie werden Sieg und Niederlage immer häufiger mit angeborenen Eigenschaften erklärt. »Ich habe aber vor dem Spiel gespürt, dass jeder das Sieger-Gen in sich hat«, sagt der Trainer der Fußballnationalmannschaft nach einem wichtigen Sieg.
Gene werden aufgebauscht
Wenn Ihnen bei dem einen oder anderen Beispiel vielleicht doch Zweifel gekommen sein sollten, dann stehen Sie nicht alleine da. Wissenschaftlern ergeht es mittlerweile ähnlich, und sie haben sich die Mühe gemacht, die ein oder andere Behauptung der Genforscher gründlich zu prüfen. Einer von ihnen arbeitet an der Harvard School of Public Health. Der Mann heißt Peter Kraft. Er verdankt seinen Namen Vorfahren aus Deutschland und hat an der University of Michigan in Ann Arbor Deutsch und Mathematik studiert. An seine Tür hat er das Brecht-Gedicht Der Zweifler gehängt. Das passt ausgezeichnet zu der Art und Weise, wie Kraft seinen Beruf als Biostatistiker ausübt. Er weiß nur zu gut, wie man mit Statistik lügen kann – das hat den jungenhaft wirkenden Forscher zum Skeptiker gemacht.
Als er auf der ersten Seite der New York Times einen Artikel über die Studie zu den 2149 schwedischen Männern mit Prostatakrebs entdeckte, war das Misstrauen des Peter Kraft geweckt, und er las sich die Originalarbeit im New England Journal of Medicine durch.
Dass die Daten redlich erhoben wurden und so weit stimmen, daran mag Kraft gar nicht zweifeln. Aber aufgefallen ist ihm, wie geschickt die Autoren ihre Zahlen präsentieren – damit die von ihnen gefundenen Gene für Prostatakrebs als besonders bedeutsam und bedrohlich erscheinen. Dazu haben sie diejenigen schwedischen Männer, die gar keine der angeblichen Risikogene tragen, ganz bewusst mit jenen Männern...