1. Kapitel Der Zusammenbruch
JUNI 2007
Spätestens wenn der eigene Körper zum Feind wird, sollte man sich ein paar grundsätzliche Gedanken über sein Leben machen. In meinem Falle ist das jetzt genau ein Jahr her. Als ich an jenem Morgen in meinem Hamburger Hotel aufwachte, um mich mit meiner alten Freundin Katja zu treffen, wusste ich davon aber noch nichts. Ich war bester Laune, sie nach etlichen Monaten wieder zu sehen.
Katja ist vor ein paar Jahren nach Hamburg gezogen; deshalb sehen wir uns nur noch selten. Außer ich habe mal wieder beruflich in Hamburg zu tun. So wie in diesem Juni.
Es war kurz nach sieben: Ich ging ins Bad, um mich fertig zu machen. Das Handy klingelte, als ich gerade unter der Dusche stand. Ich schnappte mir fluchend das Handtuch und stolperte klatschnass zum Telefon. Katja war dran.
»Morgen, mein Lieber. Schon wach?«, flötete sie in bester Laune. »Es klappt bei mir heute leider nicht. Ich habe um zehn noch einen Marketingtermin reinbekommen. Du musst deinen Kaffee wohl ohne mich trinken.«
»Keine Chance? Ich muss heute wirklich alleine im Hotel frühstücken?«, fragte ich enttäuscht.
»Diesmal sieht’s echt schlecht aus. Aber wenn du jetzt gleich rüberkommst, können wir noch zusammen laufen gehen und dabei quatschen.«
Ich erstarrte.
Laufen?
Ich?
»Hast du keine bessere Idee?«, erwiderte ich zögerlich. Ich musste Zeit gewinnen. Katja hielt mich also immer noch für fit. Das schmeichelte mir zwar, aber tatsächlich hatte ich Sport für mich schon lange abgehakt. Darüber jedoch hatten wir offensichtlich nie geredet.
»Stell dich nicht so an. Wir laufen eine Stunde um die Alster. Das Wetter ist doch super«, sagte sie.
Eine Stunde?
Niemals!
Allein der Gedanke, meinen schwerfälligen Körper durch Hamburg zu schleppen, trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn. Aber ich wollte nicht als Weichei dastehen: Ich musste versuchen, irgendwie unbeschadet aus der Sache rauszukommen.
»45 Minuten laufe ich mit, aber nicht länger. Ich laufe zu Hause immer nur eine halbe Stunde. Ich hab’ dafür einfach keine Zeit, die Kinder, der Job, du weißt«, log ich. In Wahrheit konnte ich mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal überhaupt gelaufen war. Es musste Jahre her sein.
Katja dagegen war seit jeher verdammt sportlich. Früher war sie sogar Leistungssportlerin gewesen: Sie hatte es bis in den Nationalkader gebracht. Jetzt geht sie immer noch jeden Morgen joggen; Sport hat sie nie nach einem besonderen Plan in ihr Leben integrieren müssen, wie das die Fitness-Gurus mir und den Millionen anderen Sportmuffeln immer wieder predigten. Sport gehört für Katja schon immer zu ihrem ganz normalen Tagesablauf: Aufstehen. Anziehen. Eine Stunde laufen. Duschen. Zähne putzen. Fertig. So einfach war das für Katja.
Aber nicht für mich.
»Verstehe, kein Problem. Schaffst du es in einer Viertelstunde, bei mir zu sein?«, fragte sie mich voller Tatendrang.
»Oh Mann, ich habe meine Laufschuhe zu Hause vergessen«, log ich weiter.
Es war gleich eine doppelte Lüge. Ich hatte die Joggingschuhe natürlich nicht vergessen – ich besaß gar keine mehr. Das letzte Paar war schon seit mindestens zwei, drei Jahren durchgelaufen. Ich war danach überhaupt nicht auf die Idee gekommen, mir ein neues zu kaufen. Ein Vegetarier geht ja auch nicht zum Metzger.
»Macht nichts. Ich hab welche für dich; die müssten passen. Klamotten sind auch kein Problem. Also, los«, entgegnete Katja munter.
Ich zuckte zusammen. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich. Aber aus der Nummer kam ich einfach nicht mehr raus.
»Super, bin gleich da.« Ich wusste, dass es nicht sehr überzeugend klang. Egal. Ich atmete tief durch, richtete mich auf und zog mich an.
Der frisch gebrühte Kaffee stand schon dampfend auf dem Küchentisch, als ich Katjas Wohnung betrat. Mehr hätte ja gar nicht sein müssen. Ein Kaffee, ein gutes Gespräch – perfekt. Aber die Sportsachen und Schuhe lagen wie eine Drohung direkt neben dem Tisch auf dem Fußboden.
»Zum Wachwerden«, sagte sie grinsend und deutete auf den Kaffee.
Ich stärkte mich mit einem großen, heißen Schluck, ehe ich mich ins Nebenzimmer verzog, um mich umzuziehen. Katja arbeitete währenddessen schon mal auf ihrem Blackberry die ersten Mails ab.
Um kurz vor acht wohlgemerkt. Katja nutzt jede Minute effektiv. Echt bewundernswert!
Keine Frage, Katja ist das, was man eine Powerfrau nennt. Sie hatte es schon mit Anfang Dreißig in den Vorstand eines bekannten Sportunternehmens gebracht. Ihr Terminkalender ist seitdem immer randvoll, und dieser Blackberry ist schon so etwas wie ihr sechstes Sinnesorgan. Überlebenswichtig. Ohne ihn geht sie gar nicht mehr aus dem Haus. Selbst beim Joggen hat sie das Ding dabei, jeden Morgen.
Ich aber bin kein Powertyp.
Ich habe auch keinen Blackberry.
Nicht einmal Joggingschuhe.
Ich probierte die geliehenen Schuhe an. Der linke passte wie angegossen, aber der rechte drückte vorne ein wenig an den Zehen. Das war meine Chance! Schuhe zu klein – was sollte Katja dagegen noch sagen? Ich könnte dem Joggen noch einmal entkommen!
Aber auf einmal flackerte irgendwo in mir ein letzter Funke längst erloschenen Ehrgeizes auf. Völlig unerwartet. Das packst du doch, du alter, fauler Sack. Wird schon irgendwie gehen, ging doch früher immer, munterte ich mich in Gedanken auf.
»Die Schuhe passen super«, rief ich Katja zu. »Worauf warten wir noch?«
Sie hatte für mich die Touristenstrecke ausgesucht, von Eppendorf einmal rund um die Binnenalster.
»Normalerweise laufe ich schon um halb sieben. Da ist es noch schön leer«, sagte Katja. Das wäre mir auch lieber gewesen – ganz ohne Zeugen.
Los ging’s. Es hätte wirklich herrlich sein können. Die Sonne schien, und ich tat nach den ersten Minuten weiter so, als passten mir die Schuhe.
Und plötzlich fühlte ich mich mutig.
Ich fühlte mich gut.
Ich hatte es also doch wieder geschafft, meinen inneren Schweinehund zu besiegen. Auch den Rest der Strecke würde ich schon irgendwie schaffen.
Bis wir an die Alster kamen, dauerte es zehn Minuten, und langsam fühlte ich mich schon nicht mehr ganz so riesig.
Und auch nicht mehr supermutig.
Eher wie ein Idiot.
Warum hatte ich mich darauf eingelassen, war ich völlig irre? Es war der Zeitpunkt, an dem ich zum ersten Mal ans Umdrehen dachte. Zwanzig Minuten joggen hätten mir völlig gereicht. Aus trainingswissenschaftlicher und medizinischer Sicht hatte ich sowieso alle Argumente auf meiner Seite. Die Vernunft und mein rechter Fuß brüllten mir zu: Aufhören! Mein Ehrgeiz aber ignorierte die Hilferufe und entgegnete mit völlig unpassender Arroganz und Überheblichkeit: Halt die Klappe und lauf weiter.
Der Blick auf die Binnenalster versetzte mir einen Schock. Vor mir tat sich ein gigantisches Gewässer auf. Mit entsetztem Blick hielt ich nach einer Brücke Ausschau, die meinen Leidensweg hätte verkürzen können. Aber da war nichts. Nur eine einzige Brücke, in unendlicher Ferne.
Da komme ich vielleicht noch in menschenwürdiger Verfassung an, dachte ich bei mir. Aber das wäre dann noch nicht einmal die Hälfte des Weges gewesen. Und was dann? Einfach sagen: »Mir reicht’s« und ein Taxi rufen? Oder eine Verletzung vortäuschen? Ich hatte nicht einmal mein Handy dabei, um aus irgendeinem Anruf einen geschäftlichen Notfall zu machen, der das unverzügliche Ende des Laufs begründet hätte. Ich war ratlos und konzentrierte mich verzweifelt auf meine Atmung. Der Ehrgeiz trieb mich weiter.
Ich wollte nicht aufgeben.
Während ich mit mir kämpfte, hatte Katja längst zu erzählen begonnen. Sie redete mit mir, als säßen wir gemütlich im Café. Mit jedem weiteren Schritt verabschiedete ich mich jedoch als ernstzunehmender Gesprächspartner.
Als sie von der letzten Krise ihres Unternehmens sprach, von den Intrigen und der Rolle der Medien, hätte ich nur zu gerne eloquent eingehakt, investigativ nachgefragt oder ein paar lässig-ironische Bemerkungen fallengelassen. Aber ich bekam keinen einzigen vernünftigen Satz mehr raus. Ich hörte mich »Ja, wirklich?« keuchen. Kurz vor der Apathie raunte ich noch ein »So?« und als Höhepunkt meiner verbliebenen intellektuellen Leistungsfähigkeit presste ich immer wieder den Zwei-Worte-Satz raus: »Und dann?« Ich selbst hielt mein Gestammel für eine absolut übermenschliche Anstrengung. In diesem Stadium war ich schon vollkommen damit ausgelastet, meine Atmung nicht aussetzen zu lassen, das Kreislaufsystem halbwegs stabil zu halten, die brennenden Oberschenkel und den schmerzenden rechten Fuß in dem verflucht engen Schuh zu ignorieren. Doch mein Ehrgeiz ließ nach zwanzig Minuten merklich nach. Die Vernunft übernahm wieder die Führung. Das war mir sehr recht. Ich musste der Sache ein Ende bereiten – so schnell wie möglich.
Am Seeufer entdeckte ich schließlich ein Café. Es war nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Ich richtete meinen gekrümmten Körper noch einmal auf, ignorierte die Schmerzen, atmetet zweimal tief durch und sagte dann zu Katja so klar und deutlich wie es mir möglich war: »Läuft besser als ich dachte. Ich muss da vorne nur mal kurz auf die Toilette.«
»Dann haben wir auch schon ungefähr die Hälfte. Wir können aber auch noch ein bisschen länger laufen, wenn du möchtest«, schlug Katja vor. »Wir laufen ja sehr gemütlich.«
Ich sah sie entgeistert an. Sie meinte das wirklich ernst. Auf ihrer Stirn war noch kein einziger Schweißtropfen...