Wenn man am Ende ist, geht es los
Christina mag Gerd. Er ist freundlich. Er ist mit sich selbst zufrieden. Es gibt nur selten Streit, und wenn, dann geht es um Belangloses, und einer von beiden lenkt schnell ein.
Christina und Gerd kennen sich schon seit Ewigkeiten. Sie arbeiten im selben Finanzamt einer mittelgroßen Stadt, und das gemeinsame Hobby Volleyball verbindet zusätzlich.
Ach ja, natürlich mag Gerd auch Christina. Er weiß, dass sie das weiß, warum sollte er es ihr also andauernd sagen? Es liegt doch alles so passend auf der Hand: derselbe Job, dasselbe Hobby, ähnliches Temperament.
Sie heiraten, kurz nachdem Christina ihren Beamtenstatus erlangt hat. Als das Haus, in dem sie schon seit einigen Jahren zur Miete wohnen, zum Verkauf steht, gibt es auch nicht viel zu diskutieren. Bei zwei Beamtengehältern ist es steuerlich sogar von Vorteil, wenn man Eigentum erwirbt. Und das Haus ist schön groß, liegt in einer freundlichen Siedlung am Stadtrand und hat einen Garten, in dem sich eine Kinderschaukel ganz gut machen würde.
Ab hier läuft es dann anders als geplant. Obwohl – regelrecht geplant haben Gerd und Christina bislang nichts, alles hat irgendwie immer gepasst, sich ergeben oder erschien vernünftig. Und Kinder wären eben jetzt an der Zeit gewesen. Doch nichts passiert.
Sex ist bei den beiden noch nie der treibende Faktor gewesen, natürlich tun sie es und finden es auch schön, vertraut und liebevoll miteinander zu sein. Doch richtig zur Sprache gebracht wird die Sache erst, als es darum geht, Nachwuchs zu zeugen. Obwohl es laut Auskunft der Mediziner rein körperlich schon längst hätte fruchten sollen, wird Christina nicht schwanger und der Garten stattdessen mit Gemüsebeeten ausgestattet.
Beide entscheiden sich – wie immer einvernehmlich – gegen Hormontherapien, künstliche Befruchtungen und den ganzen Zirkus. Was nicht sein soll, soll nicht sein. Und hält ihr Leben nicht genügend Möglichkeiten bereit, auch kinderlos glücklich zu sein? Gerd macht seinen Trainerschein und geht zweimal die Woche zur Sporthalle, am Sonntag fährt er auf Turniere.
Christina beschließt, ein Studium zu beginnen. Die gesicherte Arbeit auf dem Finanzamt macht ihr zwar Spaß, doch irgendwie spürt sie, dass noch etwas anderes auf sie wartet. Jetzt, wo sie mit dem Kinderwunsch abgeschlossen hat, stehen ihr mit einem Mal Türen offen, die sie vielleicht sonst gar nicht wahrgenommen hätte.
Der Studienort liegt 200 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt. Zu weit, um zu pendeln. Sie nimmt sich eine kleine Wohnung, richtet sie eher spartanisch ein, denn sie will hier ja nur eine Übergangszeit verbringen, und schließt sich einer Volleyballmannschaft der Uni an. Die Treffen nach dem Training, wenn alle Spielerinnen sich in einer netten Kneipe treffen und quatschen, hat sie zu Hause nie so genossen wie hier. Denn sie ist nie allein dort gewesen. Immer sind Gerd und sie als Paar aufgetreten. Und dann entdeckt sie plötzlich: Wenn er nicht mehr als Zuschauer ihre Schmetterbälle und Aufschläge beobachtet, spielt sie auf einmal um Längen besser. Christina wird zur Topspielerin der Mannschaft. Wer hätte das gedacht? Sie selbst am wenigsten. Die Wochenenden, an denen sie zu Gerd fährt, werden seltener, die abendlichen Anrufe kürzer. Sie trennt sich von ihren hüftlangen Haaren – eigentlich hat sie das schon immer gewollt. In den Semesterferien sagt sie den Urlaub mit Gerd, der ohnehin nur halbherzig geplant war, ab. Stattdessen fährt sie mit einer kleinen Frauengruppe nach Teneriffa – ins Beachvolleyball-Camp.
Gerd beschwert sich nicht. Auch er geht in seinen Aufgaben auf und freut sich, dass Christina so viel Spaß und Erfolg hat. Die äußere und innere Veränderung, die mit ihrem neuen Leben einhergeht, nimmt er zwar wahr, lässt sie aber unkommentiert. Da er als Trainer stets eingespannt ist, taucht er so gut wie nie in Christinas »neuem Leben« auf. Da ist er auch ein bisschen phlegmatisch – schließlich kommt sie nach dem Studium sowieso wieder zurück, warum sollte er also mit der fremden Stadt großartig warm werden?
Vielleicht hätte es so weitergehen können. Offensichtlich unglücklich sind beide nicht. Die Studienzeit nähert sich dem Ende, eine große Firma in der Heimatstadt bietet Christina einen interessanten Job an. Alles geht seinen Gang.
Doch sie ahnt etwas. Ob sie es schon immer gespürt und jahrelang verdrängt hat, kann sie nicht genau sagen, doch auf Teneriffa schlägt das Leben mit voller Wucht zu. Und zwar auf eine Art, die sie nie erwartet hätte: Christina verliebt sich, Hals über Kopf und hoffnungslos. In eine ihrer Mitspielerinnen, in Marina.
Das ist merkwürdig, unheimlich, irritierend, es passt überhaupt nicht in das Bild, das Christina sich bislang von sich selbst und ihrem Leben gemacht hat. Doch es fühlt sich wunderbar an. Deswegen wehrt sie sich nicht dagegen, auch wenn ihre Angebetete nicht die leiseste Ahnung hat und zudem in einer festen Beziehung mit einem Mann lebt. Konkrete Aussicht auf ein Happy End besteht für Christina also nicht. Aber das – so erkennt sie bald – ist auch gar nicht der springende Punkt.
Vielmehr versteht sie ihre unbekannten, aber heftigen Gefühle als Aufforderung, endlich mit dem wahren Leben zu beginnen. Sie geht mit sich selbst streng ins Gebet und erkennt, dass der Weg – ihr Weg – des geringsten Widerstandes sich zwar als angenehm und unproblematisch erwiesen hat. Doch ihre Angewohnheit, die Dinge so zu nehmen, wie sie eben kommen, bringt Christina im Grunde genommen kein einziges Stück voran. Sie ist immer noch eine nette junge Dame aus der Kleinstadt. Das war sie schon als kleines Mädchen, als Teenager und als Finanzbeamtin. Sie hat einen freundlichen Mann, ein adrettes Haus, eine gute Ausbildung – aber sie hat keine Ahnung, wer sie eigentlich ist und was sie wirklich will.
Christina macht niemandem Vorwürfe, nicht ihren Eltern, nicht Gerd, höchstens sich selbst.
»Früher habe ich nie gefragt, was ich eigentlich selbst will. Nie hinterfragte ich Dinge, die mir irgendwie nicht stimmig erschienen … niemals fragte ich mich: Ist das, was du da machst, wirklich das, was du willst?«
Als das Diplom in der Tasche, der Umzugskarton gepackt und mit der Heimatadresse versehen ist, nimmt sie sich fest vor, es auf jeden Fall noch einmal mit Gerd zu versuchen. Vielleicht hat sich ihre Beziehung durch die vier Jahre Abwesenheit ja auch weiterentwickelt. Vielleicht gelingt es ihr, mit dem Mann an ihrer Seite neue Wege zu beschreiten. Vielleicht war die Verliebtheit in eine Frau nur eine Art Alarmsignal, dass etwas geschehen muss. Ob sie diese drei »Vielleichts« eher erhofft oder fürchtet, weiß sie selbst nicht. Fest steht nur: Es kann nie wieder so sein wie vorher, dazu hat sie sich zu sehr verändert.
Doch im neuen alten Alltag zu zweit verliert Christina jeden Glauben an einen sinnvollen Fortbestand ihrer Ehe. Statt miteinander über wichtige Dinge zu reden, bleibt vieles zwischen Gerd und ihr unausgesprochen. Für das, was in Christina brodelt und tobt, gibt es gottlob das Internet. Sie knüpft Kontakte zu Frauen – erst verschämt und mit ständiger Betonung, dass sie nur eine ganz normale Freundin suche. Irgendwann traut sie sich, besucht ein paar der Chatbekanntschaften, redet sich um Kopf und Kragen, wundert sich, als sie sich das erste Mal wildtanzend in einer Lesbenkneipe wiederfindet, genießt die Zeit an all den verschiedenen Orten, die sie bei den Verabredungen besucht. Doch sie verliebt sich nicht.
Und den neuen, aufregenden Erlebnissen folgen ganz andere Phasen: Es geht Christina schlecht. Sie hasst das Doppelleben, es macht sie fertig, ihren Mann auf diese Weise zu betrügen. Je stärker sie das neue Lebensgefühl als richtig empfindet, desto mehr kommt ihr der gewohnte Alltag wie eine Lüge vor. Trotzdem schafft sie es nicht, Gerd die Wahrheit zu sagen. Sie hängt irgendwie fest zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie hat Angst, sie hat ein schlechtes Gewissen, sie weiß nicht mehr, wo ihr der Kopf steht.
Christina hat keine Ahnung, wie es mit ihr weitergehen soll. Bislang hat sich immer alles praktisch von selbst ergeben, doch jetzt wird sie vergeblich darauf warten müssen. Damit es besser wird, muss sie selbst aktiv werden, gegen den Strom schwimmen, statt sich wie gewohnt treiben zu lassen. Im schmerzhaften Gefühlschaos bleibt Christina eine ganze Weile »bewegungsunfähig«, doch immerhin fällt in dieser Zeit der endgültige Entschluss, sich von Gerd zu trennen.
Irgendwann ist man an dem Punkt angekommen, an dem eines klar und unumstößlich ist: Es gibt für die Beziehung keine Zukunft mehr. Für diese Erkenntnis wurde nicht selten schon eine ganze Weile gelitten.
Wahrscheinlich fühlt man sich vollkommen am Ende, ist übermüdet durch die zergrübelten Nächte, vielleicht ein paar Kilo leichter, weil das Ganze auf den Magen geschlagen ist. Die Arbeit leidet, die Wohnung leidet, die Menschen um einen herum leiden. Einen klaren Gedanken zu fassen bedeutet einen wahren Kraftakt. Man überlegt, ein EKG machen zu lassen, denn es kann doch nicht gesund sein, wenn das Herz bis sonst wohin schlägt.
Immer ist da diese Angst. Wird man die Sache überstehen? Wie denn, wenn man sich jetzt schon fühlt, als wäre man durch die Mangel gedreht worden? Eigentlich hält man sich für komplett handlungsunfähig.
Aber genau das Gegenteil ist der Fall: So schlecht es einem in diesem Augenblick auch gehen mag, es ist genau der Zustand, den es bedarf, um endlich handeln zu können.
Das Unterbewusstsein setzt alle Hebel in Bewegung, um keinen anderen Ausweg mehr zu lassen. Im Grunde...