Vorwort
Der Mann im Mond
Meine Beziehung zu George Washington begann früh. Ich bin aufgewachsen in Alexandria, Virginia, und in St.-Mary’s zur Schule gegangen; von dort konnte man auf dem Mount Vernon Boulevard das etwa elf Kilometer entfernte Gut des großen Mannes besuchen. Unsere Nähe zu Mount Vernon veranlaßte die Nonnen, die uns unterrichteten, nicht selten dazu, Wallfahrten mit uns zu jener historischen Stätte zu unternehmen, die vom Geist des größten säkularen Heiligen Amerikas beseelt war. Heute bietet die Führung durch das Haus weitaus mehr historische Informationen als zur Zeit meiner Kindheit. Ich erinnere mich jedenfalls nicht, daß man damals überhaupt von Sklaverei gesprochen hat. Doch ich erinnere mich sehr wohl daran, wie mir erzählt wurde, die Geschichte von Washingtons hölzernen Zähnen sei eine Legende – man konnte also, wie mir damals klar geworden ist, durchaus nicht immer den Geschichtsbüchern trauen. An diesen Punkt erinnere ich mich deutlich – denn ein Höhepunkt der Führung war Washingtons Gebiß unter einem Glassturz: ein häßliches Folterwerkzeug aus Metall und Knochen, wie mir schien. Abgesehen davon ist mir nur noch der grandiose Blick von der Veranda an der Ostseite des Gutshauses auf den Potomac im Gedächtnis geblieben.[*]
Als Zehnjähriger, Anfang der fünfziger Jahre, lag ich mit Freunden einmal auf einem Garagendach, und wir sahen hinab auf die Geburtstagsparade durch die Washington Street. Wir liebten dieses Ereignis, denn an Washingtons Geburtstag hatten wir immer schulfrei, und so konnten wir den Musikzügen der George Washington High School und der Washington and Lee High School zusehen. Von meiner Mutter bekam ich auch eine damals wie heute mit Washingtons Porträt geschmückte Dollarnote – das war in meiner Kindheit eine Menge Geld –, die ich in einem der örtlichen Läden ausgeben durfte, die für dollar-day sales warben. All das spielte sich im Schatten der nach ihm benannten Stadt jenseits des Flusses ab, in die mein Vater jeden Tag zur Arbeit ging und deren Stadtbild beherrscht war von einem gewaltigen Monument zum Andenken an einen einzigen Mann.
George Washington war in meiner Kindheit und Jugend also allgegenwärtig; unausweichlich schwebte seine Gestalt über dem Leben. Doch abgesehen von dem Gebiß und der Veranda in Mount Vernon blieb er eigentümlich abstrakt, ja geheimnisvoll. Er glich einer jener Jeffersonschen Wahrheiten, er war selbstverständlich und einfach da. Und das Schöne solcher Wahrheiten war, daß kein Mensch über sie reden mußte. Sie waren so vertraut, daß niemand auf den Gedanken kam zu fragen, weshalb man Jahr für Jahr eine Parade für sie abhielt.
Washington war für mich allgegenwärtiger als Thomas Jefferson oder Abraham Lincoln, aber auch entrückter. Wenn man zum Tidal Basin oder zur Mall ging, konnte man die beschwörenden Worte am Jefferson-Denkmal oder am Lincoln-Monument lesen («Diese Wahrheiten halten wir für selbstverständlich …»; «mit Groll gegen keinen, mit Nächstenliebe gegenüber allen …»). Am Washington-Monument stand jedoch nichts geschrieben, da sah man nur Graffitis an den Wänden neben der Treppe, die hinaufführte. Jefferson war offenbar wie Jesus, der auf Erden erschienen war und mit uns geredet hatte. Washington war wie Gottvater, der über allem schwebte. Jefferson erschien mir wie eines jener Luftschiffe beim Super Bowl, die illuminierte Botschaften verkünden. Washington hingegen verharrte unnahbar und schweigend wie der Mann im Mond.
Man kann also das, was hier zu lesen ist, als meinen Versuch betrachten, auf dem Mond zu landen. Die Technologie für die Reise zum Mond gab es damals noch nicht, als ich auf dem Garagendach an der Washington Street lag – ebensowenig die kommentierte Ausgabe der Korrespondenz Washingtons, die jeden seiner Briefe erschließt und darüber hinaus Anmerkungen der Herausgeber zu allen wichtigen Akteuren, Ereignissen und Konflikten bietet. Heute gibt es diese Edition. Eine brauchbare Ausgabe steht zwar schon seit den 1930er Jahren zur Verfügung, und niemandem, der sich mit Washingtons Leben und seiner Zeit beschäftigen wollte, hat es je an historischen Quellen gefehlt. Doch die moderne Ausgabe der Washington Papers ist die Hauptquelle, denn sie bietet alle verstreuten Zettel und Materialien – zusammengetragen, katalogisiert und klassifiziert. Dieses gewaltige Projekt ist – abgesehen von den letzten drei Jahren des Unabhängigkeitskrieges und der zweiten Amtszeit Washingtons als Präsident – abgeschlossen, doch vermutlich wird der ereignisreiche Charakter jener Jahre die Herausgeber noch eine Weile in Atem halten. Man kann jedoch guten Gewissens sagen, daß uns jetzt jede irgend erhaltene Urkunde zur Verfügung steht, mit deren Auftauchen der Biograph und der Historiker überhaupt noch rechnen kann. Der große Patriarch Amerikas sitzt uns nun gegenüber: verwundbar, ungeschützt, ja sogar gesprächig.
Können wir ihm zuhören? Das ist durchaus keine rhetorische Frage. Aus Gründen, die uns Shakespeare und Freud am besten erklärt haben, bereitet es allen Kindern erhebliche Schwierigkeiten, ihren Vätern unbefangen zu begegnen. Und bei Washington zeigt sich das Patriarchenproblem überaus eindringlich: wir sehen ihn auf dem Mount Rushmore, auf der Mall, auf den Dollarnoten und dem 25-Cent-Stück, aber immer als Ikone – fern, kühl, einschüchternd. Wir tragen ihn, wie Richard Brookhiser so schön gesagt hat, in der Brieftasche, aber nicht im Herzen. Und da wir gerade beim Thema Herz sind: in jeder Kinderseele brodelt doch ein unausgegorenes Gemisch aus Abhängigkeit und Rebellion, aus Liebe und Furcht, aus Intimität und Distanz. Im Verlauf der amerikanischen Geschichte blieb unsere Reaktion auf Washington im besonderen und auf die Gründerväter im allgemeinen in eben dieses emotionale Muster verstrickt, ohnmächtig oszillierend zwischen Vergötterung und Verdammung. Im Falle Washingtons reicht die Skala von den Märchen, die Pastor Weems von einem frommen jungen Mann erzählte, der keine Lüge über die Lippen brachte, bis zu verächtlichen Urteilen über den totesten, weißesten Mann in der amerikanischen Geschichte.
Dieses Bild eines Helden/Schurken ist in Wirklichkeit die Vorderund die Rückseite derselben Medaille: eine Karikatur, die uns mehr über uns selbst sagt als über Washington. Die in der akademischen Welt gegenwärtig vorherrschende Meinung sieht Washington als Mitschuldigen an der Schaffung einer Nation, die imperialistisch, rassistisch, elitär und patriarchalisch gewesen ist. Zwar gibt es einige wichtige Ausnahmen von der Regel, aber für die orthodoxe Fachwelt ist Washington entweder tabu oder kaum der Rede wert, und jeder ehrgeizige Doktorand, der Interesse zeigt an Washingtons Karriere als Oberkommandierender oder als Präsident, erklärt damit gewissermaßen seinen intellektuellen Bankrott. (Eine Untersuchung über die einfachen Soldaten in der Kontinentalarmee oder die Sklaven in Mount Vernon wäre hingegen à la mode.) Wenn man Washington nicht einfach geflissentlich ignoriert, dann nimmt man ihn bestenfalls als einladende Zielscheibe wahr, als den Mann, der für alle Versäumnisse der revolutionären Generation verantwortlich ist und unseren überlegenen Maßstäben politischer und rassischer Gerechtigkeit nicht genügt. Dieser Ansatz ist völlig ahistorisch und gegenwartsfixiert; aber das Gleiche gilt auch für sein Gegenteil, die Tradition der heroischen Ikone. Und damit sind wir wieder bei der Karikatur. Oder vielleicht sollten wir an das verlockende Licht im Hafen denken, das in The Great Gatsby immer wieder aufleuchtet und erlischt wie eine Metapher unserer liebsten Illusionen.
Wie können wir diesem Syndrom der Übertreibungen entgehen? Anders gesagt: Wenn wir in dem Raumschiff, das uns die heutige Ausgabe der Washington Papers zur Verfügung stellt, auf dem Mond gelandet sind, wie können wir dann das Terrain exakt auf einer Karte darstellen, ohne die irrealen Erwartungen einfließen zu lassen, die wir von unserer Reise mitgebracht haben? Nun, wenn sich zeigt, daß wir nichts als Verherrlichung betreiben oder, umgekehrt, daß wir lediglich abschätzig urteilen, dann sollten wir noch einmal genauer hinsehen. Zum einen sollten wir die Suche damit beginnen, daß wir nach einem Menschen forschen, nicht nach einer Statue, und die Denkmäler, denen wir begegnen, sollten unverzüglich vom Sockel gestoßen werden. Zum anderen sollten wir davon ausgehen, daß wir uns auf eine Reise begeben und nicht auf die Jagd, und damit vermeiden, Washington in den ideologischen Abgrund zu schleudern, in den seine zeitgenössischen Kritiker ihn und sein Erbe befördern möchten. Ralph Waldo Emerson, der der nächsten Generation Rebellion predigte, hat einmal bemerkt, die Gründer seien so einschüchternd gewesen, weil ihre hervorgehobene Position in der amerikanischen Geschichte es ihnen möglich gemacht habe, Gott von Angesicht zu Angesicht zu erblicken, während alle, die nach ihnen kamen, ihn gleichsam nur mit den Augen ihrer Vorgänger erblicken konnten. Wir sollten danach streben, Washington von Angesicht zu Angesicht zu betrachten – oder, wenn man so will, auf...