EINFÜHRUNG
Kann man eine Geschichte Europas seit 1989 schreiben – eine Geschichte Europas «in unserer Zeit»? Läßt sich überhaupt eine Geschichte schreiben, solange man ihr Ende nicht kennt? Auf den ersten Blick mag sich Skepsis einstellen. Denn allzu vieles in der jüngsten Geschichte Europas scheint doch noch allzu undeutlich vor uns zu stehen. So wissen wir zum Beispiel nicht, wie offenkundige politisch-konstitutionelle Rückschritte in manchen europäischen Ländern wie Ungarn oder Italien längerfristig einzuordnen sind. Handelt es sich um Einzelfälle, die sich nur aus sich selbst erklären lassen, etwa aus der problematischen Rolle der Nationalgeschichte in Ungarn, dem atemberaubenden Parteienzerfall in Italien und der sich hieraus ergebenden übermäßigen Bedeutung Silvio Berlusconis? Weisen diese Länder möglicherweise auf eine allgemeinere Regression der europäischen Demokratien hin? Oder handelt es sich, was doch wohl wahrscheinlicher ist, um vorübergehende Phänomene, gleichsam um Normvarianten eines E ntwicklungstypus der westlichen Demokratien seit 1989?
Damit hängt die Frage nach dem Stand der postkommunistischen Transformation zusammen. Ist die ökonomische Stabilisierung gelungen? Sind Rückfälle in autoritäre Regierungsformen zu befürchten? Können die ostmittel- und südosteuropäischen Regionen wirtschaftlich und politisch zu ihren westlichen Nachbarn aufschließen und damit ihre 1989 eingeläutete «Rückkehr nach Europa» besiegeln? Wie steht es ferner mit dem Schicksal der sowjetischen Nachfolgestaaten? Bewegt sich die russische, weißrussische oder ukrainische Geschichte seit 1991 in Richtung «Europa»? Entwickelt sich trotz aller Rückschläge eine zivilgesellschaftlich fundierte, demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung mit einer funktionierenden Marktwirtschaft? Oder etabliert sich ein eigenständiger, präsidial-autoritärer Typus, der, zumindest gemessen am westlichen Anspruch, demokratische und zivilgesellschaftliche Defizite aufweist?
Schließlich die Gretchenfrage Europas, die nun im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends unserer Zeitrechnung beunruhigender denn je auf die Tagesordnung drängt: Wie steht es um die europäische Integration? Wächst Europa zusammen oder bricht es zusammen? Steht die Europäische Union heute auf einem gewachsenen Fundament oder ist sie gerade dabei, «ihre große historische Chance» zu verspielen?[1] Und wie sieht die Zukunft des Euro-Raumes aus? Kann Europa seine aktuelle Schulden- und Vertrauenskrise überwinden? Verspricht ein entschlossener Schritt in die Richtung einer weiteren finanzpolitischen Vergemeinschaftung – zum Beispiel durch Eurobonds – die Lösung der Krise oder droht der Zerfall des Euro in seine nationalen Einzelteile?
Niemand kann gegenwärtig diese Fragen beantworten. Das gilt für Ökonomen, Politikwissenschaftler und andere Experten gleichermaßen, für den Historiker aber erst recht. Denn anders als der Nachgeborene kann er weder alle Zusammenhänge noch das Ende kennen. Die jeweils eigene Zeit – «unsere Zeit» – bleibt der wissenschaftlichen Erkenntnis nur in begrenzter Weise zugänglich. Fehlen dann aber nicht eben jene Distanz, jene Kenntnis der Folgen und auch jene Quellenzugänge, die für eine adäquate historische Analyse die notwendige Voraussetzung bilden?[2]
Es versteht sich von selbst, daß dieses Buch in eine andere Richtung argumentiert, sonst hätte es auch gar nicht geschrieben werden können. Zum einen behandelt es einen Untersuchungszeitraum, der, zeithistorisch betrachtet, keineswegs kurz ist. Er umfaßt inzwischen ein volles Drittel der gesamten Nachkriegszeit; zwei Generationen von Europäern wurden in diese Phase hineingeboren. Der Zeitverlauf als solcher trägt also zur Historisierung der hier in Frage stehenden Epoche bei und erlaubt es überdies, die Zäsur von 1989 bereits mit der gebotenen Distanz zu betrachten. Gegenstand und Untersuchungszeitraum der Zeitgeschichte können also schon nicht mehr auf die Zeit davor beschränkt und im Sinne eines bloßen «kurzen» 20. Jahrhunderts definiert werden. Dringend erforderlich sind vielmehr neue Impulse für die Erforschung der Periode seit 1989/90. Je länger, desto mehr muß sie als zeithistorische Periode eigenen Rechts konstituiert und mit einer spezifischen Forschungsagenda ausgestattet werden.
Dabei ergibt sich ein erster fundamentaler Befund. Denn das Schlüsselwort für die europäische Geschichte unserer Zeit lautet Freiheit. Tatsächlich dürfte es nur wenige Epochen der neueren Geschichte geben, in denen binnen zweier Jahrzehnte ein solch gewaltiger Zuwachs an Freiheit zu verzeichnen war, wie nach 1989. Keineswegs betraf dies nur die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus, wenngleich allein dieser Prozeß eine historische Zäsur markierte. Indes begleiteten den politischen Freiheitsgewinn in den früheren Ostblockstaaten tiefgreifende Veränderungen in der westlichen Welt. Dort hatten schon vor dem Umbruch von 1989 Politiker und Experten daran gearbeitet, die Bedingungen für neue politische, wirtschaftliche und finanzielle Freiheiten zu schaffen. Die Liberalisierung der Finanzmärkte begann ebenso in den 1980er Jahren wie die Vorbereitung auf den Euro. Beides zusammen ermöglichte eine zuvor nicht gekannte Freiheit im Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Parallel hierzu stieg die persönliche Freizügigkeit zunächst in West-, nach 1989 aber in ganz Europa in einer Weise an, die man noch eine Generation zuvor kaum für möglich gehalten hätte. Erstmals in seiner neueren Geschichte wurde Europa nun für alle seine Bürger zum gemeinsamen Erfahrungsraum. Der Abbau der innereuropäischen Grenzkontrollen und die Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion ermöglichten es, sich in ihm in freier Wahl einzurichten. Dabei war die innereuropäische Freizügigkeit nur Teil einer weltweiten Entwicklung. Und die Europäer hatten nachhaltig Teil an der sich dynamisch beschleunigenden Globalisierung. Sie eröffnete dem Einzelnen wie auch kollektiven Akteuren – vor allem den Wirtschaftsunternehmen – niemals zuvor gekannte Chancen auf freie Entfaltung.
Aber wie immer in der Geschichte hat die Freiheit ihren Preis. Am unmittelbarsten greifbar ist er in den postkommunistischen Staaten, wo der teilweise schockartige Übergang von der Parteidiktatur in die freie Marktwirtschaft erhebliche politische und soziale Verwerfungen nach sich zog. Unvermeidlich gebar eine Umwälzung, die Gewinner und Verlierer zugleich produzierte, Enttäuschungen und Bitterkeit. Aber vor dem Hintergrund der fortschreitenden Liberalisierung waren auch die westlichen Gesellschaften von einer zunehmenden Polarisierung gekennzeichnet. Die Globalisierung und die Modernisierungsstrategien der Europäischen Union wie der meisten nationalen Regierungen bewirkten eine neuartige Wettbewerbssituation, die viele Bürger Europas in ihrer Existenz traf. Begleitet wurden diese «neoliberal» inspirierten Prozesse ironischerweise von neuen Bürokratisierungsschüben. Eindeutig technokratische oder gar sozialtechnologische Tendenzen bildeten die problematische Schattenseite des europäischen Einigungsprozesses. In jedem Fall verursachte die Steigerung der Freiheit Folgekosten, die Europa teuer zu stehen kommen können. Und wie hoch am Ende der Preis für die unleugbaren Freiheitsgewinne durch den Euro sein wird, ist ohnehin noch längst nicht ausgemacht.
Zugleich wachsen auch die kulturellen Risiken, die die gesteigerte Freiheit birgt. Globalisierung, Freizügigkeit und Individualisierung haben neue Formen der kulturellen Diversität hervorgebracht, über deren Folgen heftig gestritten wird. Tatsächlich ist sich Europa weniger denn je seiner «Identität» gewiß angesichts der Debatten um Migration und Religion, Individualrechte und Gemeinschaftsbedürfnisse. Und schließlich stellt sich die Frage nach dem Preis der Freiheit, den Europa zu entrichten hat, auch auf internationaler Ebene. Mehr und mehr scheinen nämlich die Krisenherde in aller Welt die «humanitäre Intervention» der westlichen Mächte zu erfordern. Will, ja muß es sich die «Weltmacht Europa» in diesem Zusammenhang leisten, auch außerhalb des eigenen Kontinents für Freiheit und Menschenrechte einzutreten? Und will sie dies auch unter Inkaufnahme eigener finanzieller und personeller Opfer tun?
Der Preis der Freiheit geht also im europäischen Maßstab weit über den «Preis der Einheit» (Gerhard A. Ritter) hinaus, den die Deutschen zu zahlen hatten. Er ist im Spannungsfeld eines dialektischen Prozesses zu entrichten, in dessen Verlauf Europa zwar unleugbar zusammenwächst, aber eben hierdurch immer neue Krisen produziert. Im Mittelpunkt der folgenden Kapitel steht daher die Frage, wie sich in dem zusammenwachsenden Europa Freiheitsgewinn und neues Risiko zueinander verhalten. Sie wird in den folgenden Kapiteln aus ihren verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und eingehend behandelt werden. Dabei zeigt sich, daß sich in der jüngsten Geschichte Europas mehrere Entwicklungsprozesse überschneiden, die einer unterschiedlichen Chronologie folgen, sachlich aber doch eng miteinander zusammenhängen. Seit den späten 1970er Jahren nämlich...