2 Die gestürzte Patientin nach ihrer Schenkelhalsfraktur-Operation
Dieses Kapitel beinhaltet einen Routinefall im Rahmen der geriatrischen Rehabilitation einer 70-jährigen Patientin am dritten postoperativen Tag nach ihrer Hüftoperation auf der geriatrischen Station eines Krankenhauses.
Falldarstellung
Die 70-jährige Rentnerin Frau Lux2 rutscht zu Hause auf einer steilen Treppe aus und stürzt auf ihr linkes Bein. Sie lebt zusammen mit ihrem Ehemann in einer Mietwohnung. Infolge dieses Sturzes erleidet Frau Lux eine mediale Schenkelhalsfraktur (Adduktionsfraktur) links. Ihre Fraktur wird noch am selben Tag in einem Krankenhaus operiert. Die operative Versorgung der Schenkelhalsfraktur erfolgt im Rahmen eines für 2 bis 3 Wochen geplanten stationären Aufenthalts mit dem Ziel einer frühestmöglichen Mobilisation und einer möglichst kurzen Ruhigstellung des operierten Gebiets. Mittels der Operation erfolgt die Implantation einer Hüfttotalendoprothese (zementierte Hüftendoprothese), um das Risiko einer späteren Hüftkopfnekrose zu minimieren. Die Erstmobilisation erfolgt direkt am ersten Tag nach der Operation, indem sich Frau Lux unter physiotherapeutischer Anleitung an die Bettkante bewegt. Aufgrund von Schwäche, Schmerzen und Sturzangst ist es ihr jedoch noch nicht möglich, erste Schritte zu laufen, weswegen dies auf den kommenden Tag verschoben wird. Außerdem erhält die Patientin seitens der Krankengymnastik aktive und passive Bewegungsübungen im Bett, die ergänzend von den Pflegenden vorgenommen werden.
Schenkelhalsfrakturen (SHF) sind eine typische Fraktur älterer Menschen, die sich bei verhältnismäßig leichten Stürzen auf die Hüfte ereignen (Schäfer 2008; Hafner/Meier 2009; Menche 2011d). Bei älteren Menschen ist eine Hüftfraktur eine häufige Folge von Gehstörungen, die zu Stürzen führen, was wiederum die Selbstständigkeit und Lebensqualität im Alter bedroht (Runge/Rehfeld 2001).
2.1 Das Sturzgeschehen aus geriatrischer Sicht
Stürze älterer Menschen stellen in der Geriatrie ein besonders wichtiges interdisziplinäres Aufgabenfeld dar. Die zu Stürzen führende Instabilität geriatrischer Patienten zählt neben u. a. der Immobilität, der Inkontinenz und dem intellektuellen Abbau zu den zentralen geriatrischen Syndromen bzw. den sogenannten »Giganten der Geriatrie«. Aufgrund ihres gleichen Anfangsbuchstabens werden sie auch als die geriatrischen I‹s bezeichnet (Hafner/Meier 2005; Frühwald 2007; Dorner 2012).
Geriatrische Syndrome
Die geriatrischen Syndrome, zu denen u. a. die oben erwähnten Symptome zählen, treten im Alter aufgrund verschiedener Ursachen gehäuft auf, können sich gegenseitig negativ beeinflussen und damit Pflegebedürftigkeit begünstigen (Frühwald 2007; Menche 2011b).
Stürze sind eines der Hauptgründe für Einweisungen älterer Patienten ins Krankenhaus bzw. allgemein in die institutionalisierte formelle Pflege (Dieckmann 2004; Schäfer 2008; Nikolaus 2013d).
Der Sturz wird im aktuellen Expertenstandard »Sturzprophylaxe in der Pflege« (DNQP 2013, S. 20) als »ein Ereignis [definiert], bei dem der Betroffene unbeabsichtigt auf dem Boden oder einer anderen tieferen Ebene aufkommt«. Das im Expertenstandard behandelte Sturzrisiko geht über das alltägliche Risiko zu stürzen hinaus (DNQP 2006b; Tideiksaar 2008; Huhn 2013). Sturzgefahr besteht insbesondere bei Aktivitäten, »die zum Verlust des Gleichgewichts, d. h. zu einer Verlagerung des Körpers außerhalb seiner normalen Standfläche« führen (Tideiksaar 2008, S. 39). Da sich Stürze häufig plötzlich ereignen, sind sie ein unerwartetes und ungeplantes Ereignis (Schäfer 2008; Runge/Rehfeld 2012b; Nikolaus 2013d). Der Sturz wird auch als Syndrom, Sturzkrankheit und als geriatrischer Notfall bezeichnet, weil er mit einer Reihe von klinisch schwerwiegenden Folgen verbunden ist (Kolb 2009; Großkopf 2009; Runge/Rehfeld 2012b).
Sturztypen
Je nach Ursache können verschiedene Typen von Stürzen unterschieden werden (Runge/Rehfeld 2001; 2012b, S.13):
• synkopale Stürze ereignen sich infolge einer Synkope bzw. eines vorübergehenden Bewusstseinsverlusts infolge z. B. einer Durchblutungsstörung im Gehirn. Damit einhergehende Störungen des Gleichgewichts können anfallsartig (paroxysmal) auftreten oder dauernd vorhanden sein
• lokomotorische Stürze hingegen treten ohne Bewusstseinsveränderung, häufig in gewohnter Umgebung und bei alltagsüblicher Tätigkeit, auf. Sie sind Ausdruck dafür, dass die neuromuskuläre Kompetenz des alten Menschen verringert ist. Ein Sturz kann dann aus einer Fehlbewegung ohne Bewusstseinsveränderung und ohne äußere Ursache heraus eintreten
• aufgrund von äußeren Ursachen eintretende Stürze, wie ein glatter Boden oder Hindernisse
Hohe klinische Relevanz
Die klinische Bedeutung von Stürzen in der Geriatrie ist hoch, weil mit dem Alter des Menschen auch dessen Sturzwahrscheinlichkeit ansteigt (Tideiksaar 2008; Runge/Rehfeld 2012b; DNQP 2013). Neben der Häufigkeit von Stürzen sind es vor allem gerade die für ältere Menschen schwerwiegenderen Folgen, die es zu vermeiden gilt (DNQP 2013). So haben Stürze älterer Menschen häufig langfristige Auswirkungen auf deren selbstständige Alltagsgestaltung. Sie können mit dauernder Immobilität, Behinderung, drohender Unselbstständigkeit und Pflegeabhängigkeit verbunden sein. Auch weisen sie ein hohes Morbiditäts- und Letalitätsrisiko auf. Ihre Bedeutung ist groß, weil sie eine der Hauptursachen für die Pflegebedürftigkeit älterer Menschen mit der Notwendigkeit der Aufnahme in eine Pflegeinstitution darstellen (Schäfer 2008; Kolb 2009; Schmidt 2012).
Die Folgen von Stürzen zeigen sich auf verschiedenen Ebenen: Physische Auswirkungen sind z. B. schmerzhafte Prellungen, Wunden, Verstauchungen und Frakturen bis hin zum Tod. Demgegenüber sind häufige psychische Folgen der Verlust des Vertrauens in die eigene Mobilität bis hin zur Sturzangst. Soziale Auswirkungen können über die Einschränkung des Bewegungsradius bis hin zur sozialen Isolation reichen (DNQP 2006b, 2013).
Stürze gehören »zu den häufigsten unerwünschten und die Patientensicherheit nachhaltig beeinträchtigenden Zwischenfällen in Kliniken, Pflegeheimen und im häuslichen Bereich« (Tideiksaar 2008, S. 13).
Noch dazu stellen Schadensersatzforderungen aus Sturzereignissen seitens der gesetzlichen Leistungsträger u. a. gegen Krankenhäuser, Ärzte und Pflegende in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung »einen forensischen Schwerpunkt in der medizinisch-pflegerischen Haftungsrechtsprechung dar«, die versuchen, »die Behandlungskosten der bei ihnen versicherten, sturzgeschädigten Senioren ersetzt zu bekommen« (Großkopf 2009, S. 121).
Juristische Situation
Die juristische Situation im Zusammenhang mit Sturzereignissen fordert aus haftungsrechtlicher Sicht eine auf dem aktuellen wissenschaftlich anerkannten Qualitätsstandard basierende Sturzprävention u. a. auf der Basis des Expertenstandards. Bei Schadensersatzforderung greift die sogenannte Beweislastverteilung. Diese fordert von der klagenden Partei in der Regel, »alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen […] [beweisen zu müssen]. Dazu zählen neben dem Vorliegen eines Schadens der Nachweis des schuldhaften Fehlverhaltens sowie der Beleg des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Schaden« (Großkopf 2009, S. 121). Weil dies jedoch schwer nachzuweisen ist, hat eine juristische Auseinandersetzung nur dann eine Chance, wenn dem Kläger Beweiserleichterungen zuerkannt werden. Dies kann u. a. bei einer »mangelhaften, lückenhaften oder manipulierten Dokumentation« oder grob fehlerhaftem Fehlverhalten des Pflegepersonals der Fall sein (Großkopf 2009, S. 121).
Ursachen und Risikofaktoren von Stürzen älterer Menschen
Über das alltägliche Sturzrisiko eines jeden Menschen hinausgehend, sind in der Geriatrie diejenigen Stürze von Bedeutung, »deren Ursache im Verlust der Fähigkeit zur Vermeidung eines Sturzes liegt und häufig Folge einer Verkettung und Häufung von Risikofaktoren sind. Den betroffenen Patienten oder Bewohnern,...