Der Arbeitstag
Unter gleichbleibenden Produktionsbedingungen ist die notwendige Arbeitszeit, welche der Arbeiter braucht, um den vom Kapitalisten ihm gezahlten Wert resp. Preis seiner Arbeitskraft zu ersetzen, eine durch diesen Wert selbst begrenzte Größe. Sie zählt z. B. 6 Stunden, wenn die Erzeugung der im Durchschnitt berechneten täglichen Lebensmittel des Arbeiters 6 Arbeitsstunden kostet. Je nachdem dann die Mehrarbeit, welche dem Kapitalisten den Mehrwert liefert, 4, 6 etc. Stunden währt, zählt der ganze Arbeitstag 10, 12 etc. Stunden. Je länger die Mehrarbeit, desto länger unter diesen Umständen der Arbeitstag.
Doch ist die Mehrarbeit und mit ihr der Arbeitstag nur innerhalb gewisser Grenzen ausdehnbar. Wie z. B. ein Pferd durchschnittlich nur 8 Stunden täglich zu arbeiten vermag, so kann auch der Mensch täglich nur eine bestimmte Zeit lang arbeiten. Es kommen dabei nicht nur physische, sondern auch moralische Bedingungen in Rechnung. Es handelt sich nicht allein darum, wieviel Zeit der Mensch braucht, um zu schlafen, zu essen, sich zu reinigen etc., sondern auch darum, welche geistigen und sozialen Bedürfnisse er befriedigen muß, was durch den allgemeinen Kulturzustand einer Gesellschaft bestimmt ist. Diese Schranken, welche dem Arbeitstage gesteckt sind, zeigen aber immerhin so große Dehnbarkeit, daß man Arbeitstage von 8, 10, 12, 14, 16, 18 und noch mehr Stunden nebeneinander antrifft.
Kürzer muß also ein Arbeitstag jedenfalls sein als ein Lebenstag von 24 Stunden, allein es fragt sich: um wieviel? Der Kapitalist hat darüber ganz eigene Ansichten. Als Kapitalist ist er nur ein personifiziertes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teile, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse von Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt. Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft als eine Ware und sucht gleich jedem anderen Käufer aus dem Gebrauchswert seiner Ware den größtmöglichen Nutzen herauszuschlagen, aber der Besitzer der Arbeitskraft, der Arbeiter, spricht schließlich auch ein Wort darein, indem er sich etwa folgendermaßen dem Kapitalisten gegenüber vernehmen läßt:
Die Ware, die ich Dir verkauft habe, unterscheidet sich von dem anderen Warenpöbel dadurch, daß ihr Gebrauch Wert schafft und größeren Wert, als sie selbst kostet. Dies war der Grund, warum Du sie kauftest. Was auf Deiner Seite als Verwertung von Kapital erscheint, ist auf meiner Seite überschüssige Verausgabung von Arbeitskraft. Du und ich kennen auf dem Marktplatze nur ein Gesetz, das des Warenaustausches. Und der Konsum der Ware gehört nicht dem Verkäufer, der sie veräußert, sondern dem Käufer, der sie erwirbt. Dir gehört daher der Gebrauch meiner täglichen Arbeitskraft. Aber vermittelst ihres täglichen Verkaufspreises muß ich sie täglich reproduzieren und daher von neuem verkaufen können. Abgesehen von dem natürlichen Verschleiß durch Alter etc. muß ich fähig sein, morgen mit demselben Normalzustande von Kraft, Gesundheit und Frische zu arbeiten wie heute. Du predigst mir beständig das Evangelium der „Sparsamkeit'' und „Enthaltung“. Nun gut! Ich will wie ein vernünftiger, sparsamer Wirt mein einziges Vermögen, die Arbeitskraft, haushalten und mich jeder tollen Verschwendung derselben enthalten. Ich will täglich nur so viel von ihr flüssig machen, in Bewegung, in Arbeit umsetzen, als sich mit ihrer Normaldauer und gesunden Entwicklung verträgt. Durch maßloses Verlängern des Arbeitstages kannst Du in einem Tag ein größeres Quantum meiner Arbeitskraft flüssig machen, als ich in drei Tagen ersetzen kann. Was Du so an Arbeit gewinnst, verliere ich an Arbeitssubstanz. Die Benutzung meiner Arbeitskraft und die Beraubung derselben sind ganz verschiedene Dinge. Wenn die Durchschnittsperiode, die ein Durchschnittsarbeiter bei vernünftigem Arbeitsmaße leben kann, 30 Jahre beträgt, ist der Wert meiner Arbeitskraft, den Du mir einen Tag in den andern zahlst, 1:365X30 oder 1/10950 ihres Gesamtwertes. Konsumierst Du sie aber in 10 Jahren, so zahlst Du mir täglich nur 1/10950 statt 3 mal 1/10950 ihres Gesamtwertes, also nur 1/3 ihres Tageswerts und bestiehlst mich daher täglich um 2/3 des Wertes meiner Ware. Du zahlst mir eintägige Arbeitskraft, wo Du dreitägige verbrauchst. Das ist wider unsern Vertrag und das Gesetz des Warenaustausches. Ich verlange also einen Arbeitstag von normaler Länge, und ich verlange ihn ohne Appell an Dein Herz, denn in Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf. Du magst ein Musterbürger sein, vielleicht Mitglied des Vereins zur Abschaffung der Tierquälerei und obendrein im Gerüche der Heiligkeit stehen, aber dem Ding, das Du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust. Was darin zu pochen scheint, ist mein eigener Herzschlag. Ich verlange den Normalarbeitstag, weil ich den Wert meiner Ware verlange wie jeder andere Verkäufer.
Man sieht, Kapitalist und Arbeiter berufen sich beide auf das Gesetz des Warenaustausches; nur die Gewalt kann zwischen ihren entgegengesetzten Rechtsansprüchen entscheiden. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstages als Kampf um die Schranken des Arbeitstages dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter oder der Arbeiterklasse.
Aus den Berichten der englischen Fabrikinspektoren geht hervor, daß den Fabrikanten kein Mittel zu kleinlich oder zu schlecht ist, wenn es gilt, Gesetze, welche die Arbeitszeit normieren, zu umgehen resp. zu verletzen. Mit wahrem Heißhunger fallen sie über jede Minute her, die sie erhaschen können, so daß die Inspektoren selbst sie der „Minutendieberei“ bezichtigen. Die Berichte aus jener Zeit, wo noch kein Normalarbeitstag existierte, oder über Geschäftszweige, wo er noch nicht existierte, sind ganz und gar haarsträubend. Die Gesundheitskommissäre sprachen sich meist dahin aus, daß eine allgemeine körperliche und geistige Verkrüppelung eintreten müsse, wenn dem Ausbeutungsunwesen des Kapitals nicht feste Schranken gesteckt würden.
Am liebsten wäre es dem Kapitalisten, wenn es anginge, daß man den Arbeitstag auf 24 Stunden festsetzte. Das beliebte Tag- und Nachtschicht-System zeugt dafür. Das Kapital fragt nicht nach der Lebensdauer der Arbeitskraft. Was es interessiert, ist einzig und allein das Maximum von Arbeitskraft, das an einem Tage flüssig gemacht werden kann. Es hat zwar sicherlich eine Ahnung davon, daß sein menschenmörderisches Gebaren ein Ende mit Schrecken nehmen muß, allein es denkt, dieses Ende werde nicht so bald herannahen. In jeder Aktienschwindelei weiß jeder, daß das Unwetter einmal einschlagen muß, aber jeder hofft, daß es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Geldregen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hat. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.
Von Mitte des 14. bis Ende des 17. Jahrhunderts wurde auf gesetzgeberischem Wege den Arbeitern Englands ihr Arbeitstag verlängert; mindestens ebenso berechtigt ist jetzt die Gesellschaft, den Arbeitstag zu verkürzen.
Wie es indes vor der Epoche der großen Industrie um die Arbeitszeit stand, geht daraus hervor, daß z. B. noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts darüber geklagt wurde, daß viele Arbeiter nur 4 Tage per Woche arbeiteten. Ein eifriger Vorkämpfer der Kapitaltyrannei schlug im Jahre 1770 vor, man solle für solche, die der öffentlichen Wohltätigkeit anheimfallen, ein Arbeitshaus errichten, das ein Haus des Schreckens sein, in dem täglich 12 Stunden lang gearbeitet werden müsse. Damals sollte also eine Anstalt durch 12stündige Arbeitszeit zu einem Hause des Schreckens gemacht werden, während 63 Jahre später in 4 Arbeitszweigen für Kinder von 13—18 Jahren die Arbeitszeit auf 12 Stunden durch die Staatsgewalt herabgesetzt und hierdurch bei den Kapitalisten ein Sturm des Unwillens erregt wurde!
Der Kampf behufs Kürzung der Arbeitszeit ward von den Arbeitern Englands seit 1802 mit Hartnäckigkeit geführt. 30 Jahre lang kämpften sie so gut wie vergebens, sie setzten zwar 5 Fabrikakte durch, allein in diesen Gesetzen stand nichts, um ihre zwangsmäßige Ausführung zu sichern. Erst mit dem Jahre 1833 begann ein Normalarbeitstag nach und nach Platz zu greifen.
Zunächst wurde die Arbeit von Kindern und jungen Personen bis zum Alter von 18 Jahren beschränkt. Es lobten die Fabrikanten gegen die betreffenden Gesetze, dann, als ihr Widerstand keinen Erfolg hatte, erfanden sie förmliche Systeme behufs Übertretung derselben.
Seit 1838 wurde der Ruf nach einem 10stündigen Normalarbeitstag seitens der Fabrikarbeiter immer lauter und allgemeiner. 1844 wurde auch für alle Frauenzimmer über 18 Jahren die Arbeitszeit auf 12 Stunden beschränkt und ihnen Nachtarbeit untersagt. Die Arbeitszeit von Kindern unter 13 Jahren wurde gleichzeitig auf 6½-7 Stunden herabgesetzt. Auch wurde den Umgehungen des Gesetzes möglichst vorgebeugt und angeordnet, daß weder Frauen noch Kinder ihre Mahlzeiten in Arbeitslokalitäten einnehmen dürfen.
Die Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit hatte zur Folge, daß im allgemeinen nur 12 Stunden in...