Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft
Der Gedanke oder das Bestreben, ein System des menschlichen Wissens zu finden, oder, anders und besser ausgedrückt, das menschliche Wissen im System, im Zusammenbestehen zu erblicken, setzt natürlich voraus, daß es ursprünglich und von sich selbst nicht im System – daß es also ein ασύστατον, ein nicht Zusammenbestehendes, sondern vielmehr sich Widerstreitendes ist. Um diese Asystasie, diesen Unbestand, diese Uneinigkeit, gleichsam dieses bellum intestinum in dem menschlichen Wissen zu erkennen – (denn dieser innere Widerstreit muß offenbar werden), mußte der menschliche Geist sich in allen möglichen Richtungen schon versucht haben. Daher mußten z. B. in Griechenland a) die bloßen Physiker vorausgehen, die da glaubten, alles auf bloße Naturursachen zurückführen zu können, b) der Dualismus des Anaxagoras, c) die Lehre der Eleaten, welche, um allen Widerstreit aufzuheben, die bloße Einheit setzten, während der Gegensatz oder die Nicht-Einheit gleiche Rechte hat, und das wahre System eben nur dasjenige seyn kann, welches Einheit der Einheit und des Gegensatzes ist, d. h. welches zeigt, wie die Ein heit mit dem Gegensatz und der Gegensatz mit der Einheit zugleich bestehe, ja wie es zum Besten des anderen nothwendig sey – dieß alles mußte vorausgehen, ehe im Platon auch nur die wahre Idee eines Systems erscheinen konnte. Also der Zeit nach sind die Systeme vor dem System. Bedürfniß der Harmonie kommt erst aus Disharmonie.
Endlich muß, damit das Streben nach dem System wirklich vorhanden sey, die Einsicht hinzukommen, daß jener Widerstreitder Ansichten nicht etwas Zufälliges, in subjektiver Unvollkommenheit, etwa oberflächlichem Denken oder Verkehrtheit der Einzelnen, oder gar, wie manche Seichtlinge sich vorstellen, in bloßen Logomachien Gegründetes sey. Man muß sich überzeugt haben, daß dieser Widerstreit einen objektiven Grund hat, daß er in der Natur der Sache selbst, in den ersten Wurzeln alles Daseyns gegründet ist. Man muß eben darum die Hoffnung aufgegeben haben, diesen Widerstreit, dieses bellum omnium contra omnes damit zu beendigen, daß irgend eine einzelne Ansicht der andern absolut Meister werden, ein System das andere unterjochen könne. Dieß kann freilich scheinbar oft der Fall seyn. Nämlich obwohl alle ausschließenden Systeme dieß miteinander gemein haben, nicht das System, und insofern etwas Partielles, Untergeordnetes zu seyn, so kann doch eins allerdings auf einer höhern Stufe stehen als das andere. Oder – denn dieß verdient genauere Darstellung – eigentlich verhält es sich so. In allen Widersprüchen der Systeme untereinander ist doch zuletzt nur Ein großer Widerspruch, Ein Urzwist. Wir wollen denselben so ausdrücken, daß nach der einen Behauptung A = B, nach der andern = C ist. Nun kann es aber geschehen, daß beide Systeme, das, welches A = B, und das, welches A = C setzt, auf einer sehr untergeordneten Stufe aufgefaßt werden und so gegeneinander auftreten. Mittlerweile findet sich einer, der über diesen untergeordneten Standpunkt sich erhebt, aber auf dem höhern licht etwa das aufstellt, wodurch A = B und A = C vereinigt werden, sondern wieder nur A = B, aber auf einer höhern Stufe, n einer höhern Potenz; – sehr häufig aber ist, daß die Einseitigkeit nur greller ausgebildet wird, denn wie einmal die Zerlegung angefangen, schreitet sie natürlich fort und zuletzt dahin, wo nur die Individualität entscheidet, wodurch man aber gesteht, dass keines des anderen absolut Meister; – hat sich aber A = B wirklich gesteigert (ohne übrigens im Wesentlichen verändert zu seyn), während A = C sich nicht gesteigert hat, sondern geblieben ist, so wird vor der Hand A = B Meister von A = C. Aber dieß dauert nicht lang, A = C wird endlich seines Nachtheils gewahr und steigert sich ebenfalls, so daß sie sich, nur auf dem höhern Standpunkt, wieder ebenso gut entgegenstehen als vorher auf dem niederen.
Eine andere, noch zufälligere Möglichkeit ist diese; Wenn A = B und A = C sich vollkommen die Wage halten, so wird es eben darauf ankommen, wer von beiden, der 1. oder der 2. behauptet, der bessere Kämpfer ist. Allein dieß ist ein Sieg, der durchaus nichts entscheidet.
Also allerdings scheinbar und für eine Zeit kann ein System des andern Meister werden, wirklich und in die Länge nicht, und daß dieß unmöglich sey – daß an sich jedes System gleiches Recht habe, gleichen Anspruch zu gelten – dieß ist die Einsicht, welche der Idee des Systems im großen Sinn – des Systems par excellence – vorausgehen muß. Solange der Materialist noch dem Intellektualisten oder der Idealist dem Realisten sein Recht nicht zugesteht, ist an das System κατ' εξοχήν nicht zu denken. Ich bemerke übrigens, daß hier nur von Systemen die Rede ist, die wirkliche Momente der Entwicklung darstellen, nicht von solchen, denen etwa nur ihre Urheber diese Titel geben, und denen man zu viel Ehre anthun würde, wenn man sie auch nur eines Irrthums fähig halten wollte. Wer irren will, der muß wenigstens auf dem Wege seyn; wer aber gar nicht einmal sich auf den Weg macht, sondern völlig zu Hause sitzen bleibt, kann nicht irren. Wer sich in die See wagt, kann durch Stürme oder eigne Ungeschicklichkeit freilich vom Wege abkommen und verschlagen werden, wer aber gar nicht aus dem Hafen ausläuft, dessen ganzes Bestreben vielmehr darin besteht, nicht auszulaufen, sondern durch ein ewiges Philosophiren über Philosophie zu verhindern, daß es gar nie zur Philosophie komme, der hat freilich keine Gefahren zu befürchten.
Also die Idee des Systems überhaupt setzt den nothwendigen und unauflöslichen Widerstreit der Systeme voraus: ohne diesen würde sie gar nicht entstehen.
Oft genug ist der Philosophie diese Asystasie, dieser innere Widerstreit vorgeworfen worden. Kant in verschiedenen Stellen seiner Schriften stellte der Metaphysik gleichsam zur Lehre und Besserung als beschämendes Beispiel die Mathematik vor, und nach ihm andere. »Seht hier, sagen sie, wie in der Geometrie z. B. alle einig sind von jetzt an bis zu Euklides hinauf und von da bis zu Thales und zu den ägyptischen Priestern, während es in der Philosophie heißt: quot capita, tot sensus, wie viel Köpfe, so viel Systeme, und jeder Tag ein neues gebiert«. Was nun diese über Nacht entstehenden betrifft, so habe ich schon meine Meinung gesagt. Wenn man aber die Philosophie darum geringschätzt, weil es in ihr Systeme gebe, in der Geometrie nicht, so sage ich: Freilich in der Geometrie gibt es keine Systeme, weil es kein System gibt – und in der Philosophie muß es wohl Systeme geben, eben weil es ein System gibt. Es ist gerade, als ob man den stereometrisch regelmäßigen Krystall der menschlichen Gestalt darum vorziehen wollte, weil in jenem keine Möglichkeit zur Krankheit liegt, im menschlichen Körper aber die Keime aller möglichen Krankheiten. Denn so ungefähr wie Krankheit und Gesundheit verhält sich das einzelne System zu dem System κατ' εξοχήν. Auch im menschlichen Organismus unterscheiden die Ärzte einzelne Systeme. Wer nun an einem dieser Systeme leidet, d. h. bei wem es besonders hervortritt, der ist gleichsam gebunden an dieses System, in seiner Freiheit gehemmt, recht eigentlich ein Sklave desselben. Der Gesunde aber fühlt keines dieser Systeme insbesondere, er weiß nicht, wie man zu sagen pflegt, daß er ein Verdauungs- etc. System hat; er ist frei von allem System. Warum? Nicht darum, daß nicht diese Systeme in seinem Organismus lägen – da wär' ihm schlecht damit gedient –, sondern weil er nur im Ganzen lebt, im Totalsystem, in welchem alle jene einzelnen Systeme gleichsam verstummen und unmöglich werden (das Wort »gesund« ist höchst wahrscheinlich soviel als ganz). Ebenso in der Philosophie: wer bis zum Ende durchgedrungen ist, sieht sich wieder in völliger Freiheit, er ist frei vom System – über allem System.
Wir haben also bis jetzt Folgendes bestimmt. 1) Die äußere Möglichkeit des Systems, gleichsam die Materie, der Stoff dazu, ist eben der innere unauflösliche Widerstreit im menschlichen Wissen. 2) Dieser Streit muß offenbar geworden seyn, er muß sich in allen möglichen Richtungen gezeigt und ausgebildet haben. 3) Man muß einsehen, daß in diesem Streit nichts Zufälliges, sondern alles ein in den ersten Principien selbst Gegründetes sey. 4) Man muß die Hoffnung aufgeben, diesen Streit jemals dadurch zu beendigen, daß ein System Meister werde über das andere. Wenn es aber unmöglich ist, einseitig eins durch das andere zu unterjochen, so muß man sich 5) – und dieß ist eine neue Bestimmung – man muß sich auch nicht vorstellen, eine Einheit zu finden, in welcher sie sich alle gegenseitig vertilgen, denn auch damit ginge ja der Begriff des Systems unter, sondern die Aufgabe ist eben, daß sie wirklich zusammenbestehen. Im ersten Fall (wenn sie sich alle gegenseitig vertilgten) würde man statt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in ien alles versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht vertilgt werden sollen die Systeme, sondern zusamnenbestehen, wie die verschiedenen Systeme in einem Organismus, und durch dieses ihr Zusammenbestehen eine Ansicht erzeugen, die über allen einzelnen liegt, die gesunde Ansicht, bei der der Mensch sich wohl fühlt, wie im gesunden menschlichen Körper alle Differenzen der Organe und Funktionen in Ein untheilbares Leben sich auflösen, dessen Empfindung Wohlseyn ist.
Irgend ein wirkliches System vertilgen, vernichten zu wollen, wäre gerade gegen den Zweck. Denn woraus entsteht die Einseitigkeit der Systeme? Antwort: wie Sie bereits deutlich einsehen müssen, nicht aus dem, was man...