Die Bevölkerung des baltischen Raumes vor 1200
Die ersten Menschen erschienen gegen Ende der letzten Eiszeit im baltischen Raum. Um 10 500 v. Chr., als das nördliche Estland noch von Eis bedeckt war, kamen in das südlich gelegene und schon eisfreie litauische Gebiet bereits Rentierjäger. Nach einiger Zeit lebten auch im lettländischen Gebiet und schließlich in Estland Trupps von Jägern und Sammlern.
Prägend für die Genese der Völker des Baltikums wurde aber erst die spätere Zuwanderung neuer Stammesgruppen. Seit dem 4. Jahrtausend v. Chr. breiteten sich im baltischen Raum Träger einer Kultur mit kammförmigen Ornamenten in der Keramik aus, und im 3. Jahrtausend folgten ihnen Schnurkeramiker. Während die Kammkeramiker wie die ältere Bevölkerung Jäger und Sammler waren, führten die Schnurkeramiker Ackerbau und Viehzucht ein. Die Keramik mit kammförmigen Ornamenten war in einem weiten Gebiet um die östliche Ostsee vertreten, und die Träger dieser Kultur betrachtet man als Vorfahren der ostseefinnischen Völker. Zu Letzteren gehören die Finnen und Karelier, die im von uns betrachteten Raum siedelnden Esten und Liven sowie weitere Ethnien im Norden Russlands. Das Ostseefinnische bildet einen Zweig des finnougrischen Sprachstammes, zu dem auch die Ungarn gehören. Das Urvolk dieses weit verstreuten Sprachstammes lebte westlich des Ural.
Im Gegensatz zu den Finnougriern gehörten die Neuankömmlinge mit Schnurkeramik sprachlich der indogermanischen Familie an. Der Sprachzweig, den sie vertraten, wird seit dem 19. Jahrhundert als »baltisch« bezeichnet. Alte Gewässer- und Ortsnamen lassen darauf schließen, dass Baltischsprechende einst im großen Gebiet von der Persante in Pommern bis zur oberen Wolga, im Süden bis in die Nähe des späteren Kiev ansässig waren. Seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. wurden aber die östlichen Balten infolge der slawischen Expansion zunehmend assimiliert; die westbaltischen Prußen, die im 13. Jahrhundert vom Deutschen Orden unterworfen wurden, gingen später im deutschen Neustamm der Ostpreußen auf. Als baltische Völker blieben nur die Letten und Litauer übrig. Allerdings entstand das lettische Volk erst durch eine bis ins 17. Jahrhundert dauernde Verschmelzung der altlettischen Stämme der Lettgaller, Semgaller und Selen. In diesen Angleichungs- und Verschmelzungsprozess wurden auch die mit den altlettischen Stämmen nahe verwandten Kuren und die ostseefinnischen Liven einbezogen. Andererseits wurden Teile der Semgaller, Selen und Kuren im Laufe des Mittelalters von den Litauern, ihren südlichen Nachbarn, assimiliert.
Der Landesname »Litauen« galt ursprünglich nur für eine kleinere Landschaft zwischen dem Mittellauf der Memel (Nemunas) und dem Flusse Neris. Dieses Gebiet wurde aber später zum Zentrum des litauischen Staates. Erstmals ist der Landesname für 1009 bezeugt. Die Quedlinburger Annalen besagten Jahres berichten, dass der deutsche Missionserzbischof Brun von Querfurt damals an der Grenze zwischen der Rus’ und Litua den Märtyrertod fand. In Litauen wurde 2009 der Ersterwähnung zum tausendjährigen Jubiläum in zahlreichen Veranstaltungen gedacht.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass »baltisch« zur Bezeichnung der Region bzw. der drei Staaten zu unterscheiden ist von »baltisch« im sprachlich-ethnischen Sinne (d. h. ohne Einbeziehung der Esten und Liven). Daneben kann aber auch die gesamte Ostsee mit ihren Randgebieten als »baltisch« bezeichnet werden. Erstmals sprach Adam von Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte schon im 11. Jahrhundert von der Ostsee als dem balticum mare; der Begriff ist u. a. im englischen Ausdruck Baltic Sea präsent. Nach dieser geografisch weitgreifenden Vorstellung liegen Estland, Lettland und Litauen im »Ostbaltikum«.
Im Folgenden soll es um die Verhältnisse im Baltikum während der letzten Jahrhunderte vor der deutsch-skandinavischen Eroberung des lettländischen und estländischen Gebiets bzw. der Entstehung eines eigenen Staatswesens in Litauen gehen. Gemäß der für das Baltikum üblichen Periodisierung wenden wir uns damit der Jüngeren Eisenzeit (9.–12. Jahrhundert) zu, was notwendig ist, wenn man über den Umbruch, den das 13. Jahrhundert mit sich brachte, urteilen will. Neben archäologischen Zeugnissen kommt speziell für die Zustände um 1200 auch bereits eine Chronik als Quellenmaterial in Betracht. Gemeint ist das Chronicon Livoniae, das der aus der Gegend von Magdeburg stammende Pfarrer Heinrich von Lettland 1225–1227 niedergeschrieben hat. Heinrich war 1205 nach Livland gekommen, hatte sich an dortigen Kämpfen beteiligt und wurde Seelsorger bei den Lettgallern. Er berichtet nicht nur über Selbsterlebtes, sondern aufgrund von Teilnehmererzählungen auch über Geschehnisse und Zustände des späten 12. Jahrhunderts.
In der Zeit gegen 1200 hatten die Esten etwa denselben Lebensraum zur Verfügung wie heute, doch zwischen dem estnischen Norden und Süden gab es einen nachhaltigen sprachlichen und kulturellen Unterschied. Die Liven siedelten im Bereich des Unterlaufs der Düna (Daugava) und an der Livländischen Aa (Gauja), wohin sie erst seit dem 10. Jahrhundert vom Norden Kurlands her allmählich gekommen waren. Dafür waren die Kuren nach Norden vorgestoßen und siedelten dort in Streulage mit den verbliebenen Liven. Ansonsten erstreckte sich das Gebiet der Kuren an der Ostseeküste des heutigen Lettland und Litauen entlang, im Süden bis zum Unterlauf der Memel. Von den altlettischen Stämmen besiedelten die Lettgaller ein großes Gebiet nördlich der Düna, während die Semgaller und der kleine Stammesverband der Selen südlich des Flusses lebten. Im Gebietsgefüge der litauischen Stämme ließen sich bereits die beiden großen Einheiten Aukschtaiten (Hochlitauen) im Osten und Schemaiten (Niederlitauen) im Westen erkennen.
In Estland und Lettland lebten durchschnittlich etwa 2,5 Personen auf einem Quadratkilometer, in Litauen mit seinen zum Teil besonders fruchtbaren Böden etwa 3 Personen. In Deutschland hingegen hatten bereits um 1000 annähernd 10 Personen auf einem Quadratkilometer gelebt. Es versteht sich, dass die geringe Bevölkerungsdichte im Baltikum weniger Impulse zur Arbeitsteilung und Verstädterung gab. Zum Siedlungsbild des Baltikums gehörten Wallburgen, die teils nur bei Gefahr der im Umfeld lebenden Bevölkerung als Zuflucht dienten, vielfach aber ständig bewohnt und mit gewöhnlichen Häusern und Wirtschaftsgebäuden bebaut waren. Nur selten fungierten die Burgen bereits als Herrensitze. Neben den Burgen lagen weitere befestigte oder offene Siedlungen, und im Lande verstreut gab es kleine Dörfer und Weiler. Überall war der Ackerbau der dominierende Wirtschaftszweig. Was das Handwerk betrifft, blieb die Spezialisierung begrenzt. Weit verbreitet war die Gewinnung von Eisenerz. Dementsprechend war auch die Schmiedekunst besonders entwickelt. Von besonderen bautechnischen Fertigkeiten zeugen die hölzernen Wehranlagen auf den Burgwällen. Der Steinbau mit Mörtel war aber nirgends bekannt.
Seit Urzeiten gab es Handelskontakte zwischen Skandinavien und dem ostbaltischen Raum. In Kurland existierten bei Grobin (Grobiņa) im Zeitraum zwischen 650 und 850 schwedische und gotländische Siedlungen, die Bedeutung für den Handel mit Bernstein besaßen. Im südlichen Gebiet der Kuren (heute Litauen) war Polangen (Palanga) von der Mitte des 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts ein beachtlicher Handelsplatz. Den wichtigsten Treffpunkt aber bildete das von Semgallern und Liven bewohnte Daugmale an der Düna, etwa 30 Kilometer von deren Mündung entfernt. Was die Liven betrifft, weisen auch andernorts freigelegte Gräber mit Waagen und Gewichten auf eine besonders intensive Handelstätigkeit hin. Von Fernhandelsbeziehungen zeugt außerdem das archäologische Fundmaterial von Gercike (Jersika) an der Düna. Daugmale, Polangen und Gercike waren darüber hinaus Zentren der handwerklichen Produktion. Im Hinblick auf seine zusätzliche Rolle als Residenz eines Kleinfürsten – wohl seit dem 12. Jahrhundert – zeichnete sich Gercike durch besondere Komplexität aus. Mit diesen Zentren Vergleichbares existierte weder im...